Stefan Zweig

Castellio gegen Calvin


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sich Calvin seine stärkste Waffe entreißen lassen, denn nur mit ihr kann er seinen eigentlichen Kampf beginnen: den Kampf um die Totalität der Macht.

      Meistens dauert es einige Zeit, bis ein Volk bemerkt, daß die zeitlichen Vorteile einer Diktatur, ihre straffere Zucht und ihre verstärkte kollektive Schlagkraft immer mit persönlichen Rechten des Individuums bezahlt sind und daß unweigerlich jedes neue Gesetz eine alte Freiheit kostet. Auch in Genf erwacht erst allmählich diese Erkenntnis. Redlichen Herzens haben die Bürger ihre Zustimmung zur Reformation gegeben, freiwillig haben sie sich auf dem offenen Markt versammelt, um als unabhängige Männer durch Handaufheben sich zum neuen Glauben zu bekennen. Aber dagegen empört sich doch ihr republikanischer Stolz, unter Aufsicht eines Büttels je zehn und zehn wie Galeerensträflinge durch die Stadt getrieben zu werden, um in der Kirche mit feierlichem Eid jeden Paragraphen des Herrn Calvin zu beschwören. Nicht dazu haben sie eine strengere Sittenreform befürwortet, um jetzt tagtäglich von diesem neuen Prediger leichtfertig mit Acht und Bann bedroht zu werden, bloß weil sie einmal bei einem Glas Wein lustig gesungen haben oder Kleider getragen, die Herrn Calvin oder Farel zu bunt oder zu üppig erscheinen. Und wer sind sie denn eigentlich, diese Leute, die sich so herrisch gebärden, beginnt das Volk sich zu fragen. Sind es Genfer Bürger? Sind es Alteingesessene, die an der Größe und an dem Reichtum der Stadt mitgeschaffen haben, erprobte Patrioten, seit Jahrhunderten den besten Familien verbunden und verschwistert? Nein, es sind frisch Zugewanderte, die als Flüchtlinge aus einem andern Land, aus Frankreich herüberkamen. Man hat sie gastlich aufgenommen, man hat ihnen Brot und Unterhalt und eine wohlbezahlte Stellung gegeben, und da erkühnt sich jetzt dieser Zolleinnehmerssohn aus dem Nachbarland, der sich gleich seinen Bruder und Schwager mit ins warme Nest geholt, sie, die bodenständigen Bürger, zu beschimpfen, zu rüffeln! Er, der Flüchtling, der von ihnen Angestellte maßt sich an, zu bestimmen, wer in Genf bleiben dürfe und wer nicht!

      Jedesmal hat im Anfang einer Diktatur, solange die freien Seelen noch nicht geknebelt und die unabhängigen nicht ausgetrieben sind, der Widerstand eine gewisse Wucht: öffentlich erklären in Genf die republikanisch Gesinnten, sie dächten nicht daran, sich abkanzeln zu lassen, »als seien sie Straßenräuber«. Ganze Straßen, vor allem die Rue des Allemands, verweigern den geforderten Eid, sie murren laut und rebellisch, weder würden sie schwören noch auf den Befehl dieser hergelaufenen französischen Hungerleider ihre Heimatstadt verlassen. Zwar gelingt es Calvin, den ihm ergebenen »Kleinen Rat« zu nötigen, daß er tatsächlich über die Eidverweigerer die Ausweisung verhängt, aber man wagt die unpopuläre Maßregel schon nicht mehr faktisch durchzuführen, und der Ausgang der neuen Bürgerwahlen zeigt deutlich, daß die Majorität der Stadt sich gegen die Willkür Calvins aufzulehnen begonnen hat. Seine unbedingten Gefolgsleute verlieren im neuen Rat vom Februar 1538 die Oberhand; noch einmal hat die Demokratie in Genf ihren Willen gegen den autoritären Anspruch Calvins zu verteidigen gewußt.

      Calvin war zu ungestüm vorgegangen. Immer unterschätzen die politischen Ideologen den Widerstand, der in der Trägheit der menschlichen Materie begründet ist, immer meinen sie, daß entscheidende Neuerungen im realen Raum ebenso rasch verwirklicht werden könnten wie innerhalb ihrer geistigen Konstruktionen. Klugheit müßte Calvin jetzt gebieten, solange er die weltlichen Behörden nicht wieder für sich gewonnen hat, milder zu tun, denn noch immer steht seine Sache günstig; auch der neugewählte Rat bringt ihm nur Vorsicht, nicht aber Feindschaft entgegen. Selbst seine schärfsten Gegner haben in dieser knappen Frist anerkennen müssen, daß ein unbedingter Wille zur Versittlichung Calvins Fanatismus zugrunde liegt, daß es diesem ungestümen Menschen nicht um einen engen Ehrgeiz geht, sondern um eine große Idee. Sein Kampfbruder Farel wiederum ist noch immer der Abgott der Jugend und der Straße; so könnte sich die Spannung leicht mildern lassen, würde Calvin ein wenig diplomatische Klugheit üben und seine verletzend radikalen Ansprüche den bedächtigeren Auffassungen der Bürgerschaft anpassen.

      Aber in diesem Punkte stößt man an die granitene Grundnatur Calvins, an seine eiserne Starre. Nichts ist diesem großen Zeloten zeitlebens fremder gewesen als Konzilianz. Calvin kennt keinen Mittelweg; bloß den einen, den seinen. Für ihn gibt es nur das Ganze oder das Nichts, die volle Autorität oder den völligen Verzicht. Nie wird er ein Kompromiß abschließen, denn Rechthaben und Rechtbehalten ist für ihn eine derart funktionelle Eigenschaft, daß er gar nicht begreifen und ausdenken kann, jemand anderer könnte von seiner Fläche aus gleichfalls recht haben. Für Calvin bleibt es Axiom, daß nur er zu lehren habe und die andern von ihm zu lernen; wörtlich sagt er in ehrlicher redlichster Überzeugtheit, »ich habe von Gott, was ich lehre, und dies bekräftigt mir mein Gewissen«. Mit einer erschreckend unheimlichen Selbstgewißheit stellt er seine Behauptungen der absoluten Wahrheit gleich – »Dieu m'a fait la grâce de déclarer ce qu'est bon et mauvais« –, und jedesmal ist dieser Selbstbesessene von neuem erbittert und erschüttert, wenn irgendein anderer eine Meinung gegen die seine überhaupt zu äußern wagt. Widerspruch erregt an sich schon eine Art Nervenanfall bei Calvin, bis tief ins Körperliche springt die geistige Empfindlichkeit über, der Magen revoltiert und erbricht Galle, und mag der Gegner noch so sachlich und gelehrt seine Einwände vorbringen, die Tatsache allein schon, daß er sich erkühnt, anders zu denken, verwandelt ihn für Calvin in einen persönlichen Todfeind und darüber hinaus in einen Weltfeind, einen Gottesfeind. Schlangen, die gegen ihn zischen, Hunde, die gegen ihn bellen, Bestien, Schurken, Satansknechte, so nennt dieser im Privatleben übertrieben maßvolle Mann die ersten Humanisten und Theologen seiner Zeit; sofort ist »die Ehre Gottes« in seinem »Diener« beleidigt, sofern man Calvin auch nur ganz akademisch widerspricht, sofort die »Kirche Christi bedroht«, sobald einer den Prediger von St. Pierre ad personam herrschsüchtig zu nennen wagt. Zwiesprache mit einem andern halten heißt für Calvin nichts, als daß der andere sich zu seiner Meinung zu bekehren und zu bekennen habe: ein ganzes Leben lang hat dieser sonst klarsichtige Geist keinen Augenblick an seiner alleinigen Berechtigung gezweifelt, das Wort Gottes auszulegen und als einziger das Wahre zu wissen. Aber gerade dank diesem starren An-sich-selber-Glauben, dank dieser prophetischen Selbstbesessenheit, dieser großartigen Monomanie hat Calvin im realen Raume recht behalten; einzig diese seine steinerne Unerschütterlichkeit, diese eisige und unmenschliche Starre erklärt das Geheimnis seines politischen Sieges. Denn nur eine solche Selbstbesessenheit, eine solche großartig bornierte Selbstüberzeugtheit macht in der Weltgeschichte einen Mann zum Führer. Nie hat die immer dem Suggestiven erliegende Menschheit sich den Geduldigen und Gerechten unterworfen, sondern immer nur den großen Monomanen, die den Mut aufbrachten, ihre Wahrheit als die einzig mögliche, ihren Willen als die Grundformel des Weltgesetzes zu verkünden.

      Es macht also nicht den geringsten Eindruck auf Calvin, daß die Mehrheit des neuen Stadtrates gegen ihn steht und ihm höflichst nahelegt, er möge doch um des Friedens willen von diesem wilden Drohen und Exkommunizieren ablassen und sich der milderen Auffassung der Berner Synode anschließen: ein Starrsinniger wie Calvin nimmt keinen billigen Frieden an, sofern er nur in einem I-Punkt nachgeben müßte. Jedes Kompromiß ist für seine autoritäre Natur vollkommen unmöglich, und im Augenblick, da der Magistrat ihm widerspricht, wird er, der selbst von allen andern die unbedingteste Subordination unter jede Obrigkeit verlangt, völlig unbedenklich zum Revolutionär gegen seine vorgesetzte Behörde. Offen beschimpft er den »Kleinen Rat« von der Kanzel und verkündet, »daß er lieber sterben wolle, als den heiligen Leib des Herrn vor die Hunde werfen«. Ein anderer Prediger nennt in der Kirche den Stadtrat eine »Versammlung von Trunkenbolden«; wie ein Felsblock, starr und unverrückbar, bietet die Anhängerschaft Calvins der Obrigkeit Trotz.

      Eine solche provokatorische Auflehnung der Predigerschaft gegen seine Autorität kann der Magistrat nicht dulden. Zunächst erläßt er nur eine unmißverständliche Weisung, die Kanzel nicht weiterhin zu politischen Zwecken zu mißbrauchen, sondern dort ausschließlich das Wort Gottes auszulegen. Aber da Calvin und die Seinen sich über diesen amtlichen Befehl gleichmütig hinwegsetzen, bleibt nichts übrig, als den Predigern das Betreten der Kanzel zu verbieten; der herausfordernste unter ihnen, Courtauld, wird sogar wegen offener Aufreizung zur Revolte verhaftet. Damit ist der offene Krieg zwischen kirchlicher und staatlicher Gewalt erklärt. Aber Calvin nimmt ihn entschlossen auf. Von seinen Anhängern begleitet, dringt er in die Kathedrale St. Pierre, besteigt trotzig die ihm verbotene Kanzel, und da Anhänger und Gegner beider Parteien mit Schwertern in die Kirche drängen, die einen, um die verbotene Predigt zu erzwingen,