war, wie ich schon sagte, der Starez Sossima. Aber ich muß an dieser Stelle ein paar Worte darüber einfügen, was die Starzen in unseren Klöstern überhaupt darstellen. Leider bin ich auf diesem Gebiet nicht recht kompetent; trotzdem will ich es wenigstens knapp und oberflächlich zu erklären versuchen. Zunächst dies: Zuverlässige Fachleute versichern, in unseren russischen Klöstern sei die Institution der Starzen erst vor kurzem, vor nicht einmal hundert Jahren, aufgekommen, während sie im ganzen gläubigen Osten, besonders auf dem Sinai und dem Athos, schon über tausend Jahre bestehe. Zwar habe diese Institution in ältester Zeit auch in Rußland existiert – zumindest müsse man das als sicher annehmen –, doch sei sie über dem Unglück, das Rußland heimsuchte, über der Tatarenherrschaft und den Aufständen und infolge des Abbruchs der Beziehungen zum Orient nach der Eroberung Konstantinopels in Vergessenheit geraten und abgeschafft worden. Wieder eingeführt worden sei sie gegen Ende des vorigen Jahrhunderts durch Paissi Welitschkowski, einen der sogenannten großen Glaubenshelden, und seine Schüler; aber noch heute, fast hundert Jahre später, existiere sie nur in wenigen Klöstern und sei als eine für Rußland unerhörte Neuerung, mitunter sogar Verfolgungen ausgesetzt gewesen. In Blüte habe sie in der berühmten Einsiedelei von Koselks-Optina gestanden. Wann und von wem sie in unserem Kloster eingeführt worden ist, kann ich nicht sagen; jedenfalls waren in ihm bereits drei Starzen einander gefolgt: Sossima war der letzte von ihnen, doch auch er war bereits schwach und krank, und wer ihm, nachfolgen sollte, wußte man nicht. Diese Frage war wichtig für unser Kloster, denn es war bisher durch nichts berühmt: weder durch Gebeine Heiliger noch durch plötzlich entdeckte wundertätige Ikonen, nicht einmal durch ruhmvolle geschichtliche Überlieferungen; ihm wurden keine historischen Großtaten, keine Verdienste um das Vaterland zugeschrieben. Seine Blüte und seine Berühmtheit in ganz Rußland verdankte es eben gerade seinen Starzen; sie zu sehen und zu hören, kamen die Pilger scharenweise tausend Werst1 weither. Was also ist ein »Starez«? Einer, der Seele und Willen eines anderen in seine Seele und in seinen Willen aufnimmt. Wer sich einen Starez erwählt, verzichtet auf seinen eigenen Willen und ordnet sich ihm in voller Selbstverleugnung und vollem Gehorsam unter. Wer dieses Gelübde ablegt, nimmt eine schwere, lange Prüfung, eine furchtbare Lebensschule freiwillig auf sich: in der Hoffnung, schließlich sich selbst zu überwinden und sich so weit beherrschen zu lernen, daß er zuletzt durch lebenslänglichen Gehorsam die vollkommene Freiheit, das heißt, die Befreiung von sich selbst erlangt und dem Schicksal derer entgeht, die ihr ganzes Leben lang nicht zu sich selber finden. Die Institution des Starez war keine theoretische Erfindung, sondern hat sich im Osten aus einer nunmehr tausendjährigen Praxis entwickelt. Die Pflichten gegenüber dem Starez beschränken sich nicht auf gewöhnlichen Gehorsam, wie es ihn auch in unseren russischen Klöstern von jeher gegeben hat. Wer sich einem Starez unterordnet, verpflichtet sich, ihm lebenslänglich zu beichten, und die Bindung zwischen beiden ist unzerreißbar. Es wird zum Beispiel erzählt, in den ältesten Zeiten des Christentums habe einmal ein so Ergebener eine vom Starez auferlegte Buße nicht geleistet, habe das Kloster verlassen und sich in ein anderes Land begeben, aus Syrien nach Ägypten. Dort sei er nach langen Jahren voller großer Taten endlich gewürdigt worden, Martern zu erdulden und den Märtyrertod für den Glauben zu sterben. Als aber die Kirche, die ihn bereits für einen Heiligen hielt, seinen Leib bestatten wollte, habe sich bei dem Ausruf des Diakonus: »Die noch nicht in die Gemeinschaft der Christen Aufgenommenen mögen hinausgehen!« der Sarg mit dem Leib des Märtyrers plötzlich von der Stelle bewegt und die Kirche verlassen, und das dreimal. Schließlich habe man erfahren, daß dieser heilige Dulder das Gelübde des Gehorsams gebrochen hatte, daß er von seinem Starez weggegangen war und daher ohne dessen Zustimmung keine Verzeihung finden könne, trotz seiner großen Taten. Erst nachdem der herbeigerufene Starez ihn von der Pflicht des Gehorsams entbunden hätte, habe seine Bestattung erfolgen können. Das ist freilich nur eine uralte Legende; doch es gibt da auch einen weniger weit zurückliegenden Vorfall. Ein Mönch, der übrigens heute noch lebt, hatte in einem Kloster auf dem Berg Athos Zuflucht gefunden. Eines Tages befahl ihm plötzlich sein Starez, er solle den Athos, den er als Heiligtum und stillen Zufluchtsort aus tiefster Seele liebte, verlassen, nach Jerusalem gehen, um an den heiligen Stätten zu beten, und dann nach Rußland zurückkehren, und zwar in den Norden, nach Sibirien. »Dort ist dein Platz, nicht hier«, sagte der Starez. Zutiefst erschrocken und bekümmert begab sich der Mönch nach Konstantinopel zum Obersten Patriarchen und bat um die Freisprechung von dem Gebot; doch der Kirchenfürst antwortete, nicht nur er, der Oberste Patriarch, auch jegliche andere Macht auf Erden sei außerstande, ihn von einem Gebot zu entbinden, das ihm der Starez auferlegt habe – mit Ausnahme des Starez selbst. So ist die Institution des Starez mit einer Macht ausgestattet, die in gewissen Fällen unbegreiflich und schrankenlos ist. Das ist der Grund, weshalb in vielen Klöstern bei uns das Starzentum anfangs heftig befehdet wurde. Das Volk dagegen erwies den Starzen gleich von Anfang an große Hochachtung. Beispielsweise strömten einfache Leute und vornehme Persönlichkeiten scharenweise zu den Starzen unseres Klosters, um vor ihnen niederzuknien, ihre Zweifel, ihre Sünden und Leiden zu beichten und sich Rat und Belehrung zu holen. Als die Gegner der Institution das sahen, schrien sie neben anderen Beschuldigungen, hier würde das Sakrament der Beichte eigenmächtig und leichtsinnig verletzt – obgleich das ständige Beichten eines Untergebenen oder eines Laien vor dem Starez durchaus nicht in den Formen des Sakramentes vor sich geht. Die Sache endete damit, daß sich die Institution des Starez behauptete und nun allmählich in den russischen Klöstern durchsetzte. Allerdings kann dieses erprobte tausendjährige Werkzeug, geschaffen, den Menschen aus moralischer Knechtschaft zu Freiheit und sittlicher Vollkommenheit zu führen, wohl auch ein zweischneidiges Schwert werden, insofern es manchen statt zu Demut und Selbstüberwindung zum teuflichsten Stolz führt, das heißt in Ketten und nicht in die Freiheit.
Der fünfundsechzigjährige Starez Sossima entstammte einer Gutsbesitzerfamilie, er war in frühester Jugend beim Militär gewesen und hatte im Kaukasus als Oberleutnant gedient. Ohne Zweifel hatte er durch irgendeine besondere seelische Eigenschaft die Bewunderung Aljoschas erregt. Dieser wohnte mit in der Zelle des Starez, der ihn sehr liebgewonnen und zu sich genommen hatte. Er war aber zu der Zeit, da er im Kloster lebte, noch nicht gebunden, konnte ausgehen, wann er wollte, sogar ganze Tage, und wenn er eine Kutte trug, so tat er es freiwillig, um nicht vor den anderen Klosterinsassen aufzufallen.
Er fand aber auch selbst Gefallen daran. Vielleicht machten die geistige Kraft des Starez und der Ruhm, der ihn ständig umgab, auf Aljoschas jugendliche Phantasie einen starken Eindruck. Von dem Starez Sossima erzählten viele, er habe schon jahrelang alle zu sich gelassen, die in der Beichte ihr Herz ausschütten, seinen Rat einholen und seine Trostworte vernehmen wollten; so habe er viele Bekenntnisse, Geständnisse und Äußerungen der Reue zu hören bekommen und schließlich ein so feines Gefühl erlangt, daß er beim ersten Blick ins Gesicht eines Unbekannten errate, in welcher Absicht er gekommen war, was er brauchte und welche Qualen sein Gewissen peinigten; manchmal versetze er einen Ankömmling dadurch, daß er sein Geheimnis kenne, bevor noch ein Wort gesprochen war, in Staunen, Bestürzung, ja in Furcht. Dabei bemerkte Aljoscha fast immer, daß viele, ja beinahe alle, die sich zum erstenmal voll Angst und Unruhe bei dem Starez zu einem Gespräch unter vier Augen einfanden, später, wenn sie herauskamen, helle, freudige Mienen hatten; das finsterste Gesicht war dann in ein glückliches verwandelt. Auch erregte es Aljoschas Erstaunen, daß der Starez durchaus nicht ernst und streng war, sondern im Gegenteil stets geradezu heiter im Umgang. Die Mönche sagten, sein Herz gehöre in erster Linie den schlimmen Sündern; wer am meisten sündige, der sei ihm der liebste. Unter den Mönchen gab es sogar noch in seinen letzten Lebensjahren einige, die ihn beneideten und haßten; aber es waren nur wenige, und diese wenigen schwiegen, obgleich sich unter ihnen sehr angesehene und bedeutende Persönlichkeiten des Klosters befanden, zum Beispiel einer der ältesten Einsiedler, einer, der wenig redete und ungewöhnlich viel fastete. Die überwiegende Mehrzahl stand unzweifelhaft auf seiten des Starez Sossima, und viele von ihnen liebten ihn heiß und aufrichtig, von ganzem Herzen. Einige hingen ihm beinahe fanatisch an und sagten ohne Umschweife, wenn auch leise, er sei ein Heiliger, und da sie sein nahes Ende voraussahen, erwarteten sie unverzüglich Wunder von ihm und in der allernächsten Zukunft großen Ruhm für das Kloster. Auch Aljoscha glaubte widerspruchslos an die wundertätige Kraft des Starez wie an die Geschichte von dem Sarg, der aus der Kirche geflogen war. Er sah, daß viele, die mit kranken Kindern oder erwachsenen Verwandten kamen und den Starez baten, er möge seine Hände auf sie