Fjodor Dostojewski

Die Brüder Karamasow


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      Aljoscha hob den Blick, errötete plötzlich und lächelte wieder, ohne zu wissen, warum. Der Starez beobachtete ihn aber nicht mehr. Er sprach mit dem fremden Mönch, der neben Lisas Rollstuhl auf sein Erscheinen gewartet hatte. Es war offenbar ein sehr einfacher Mönch, das heißt aus einfachem Stande, mit einer beschränkten, unerschütterlichen Weltanschauung, aber auf seine Weise gläubig und hartnäckig. Er sagte, er sei aus dem hohen Norden gekommen, aus Obdorsk, aus dem armen, von nur neun Mönchen bewohnten Kloster »Zum Heiligen Silvester«. Der Starez erteilte ihm den Segen und lud ihn, wenn es ihm gefällig sei, zu sich in seine Zelle.

      »Wie machen Sie es nur möglich, solche Taten zu vollbringen?« fragte plötzlich der Mönch, wobei er nachdrucksvoll und feierlich auf Lisa wies. Er spielte auf ihre »Heilung« an.

      »Es ist noch zu früh, davon zu reden. Eine leichte Besserung ist noch keine Heilung; sie kann auch andere Ursachen haben. Wenn aber wirklich etwas geschehen wäre, so nicht durch menschliche Kraft, sondern durch Gottes Ratschluß. Alles kommt von Gott. Besuchen Sie mich, Vater«, fügte er hinzu. »Doch kann ich nicht zu jeder Zeit Besuche empfangen; ich bin krank und weiß, daß meine Tage gezählt sind.«

      »Nein, nein, Gott wird Sie nicht von uns nehmen! Sie werden noch lange, lange leben!« rief die Mama. »Was fehlt Ihnen denn auch? Sie sehen so gesund aus, so heiter und glücklich.«

      »Ich fühle mich heute viel wohler. Aber ich weiß, das dauert nicht lange. Ich kenne jetzt meine Krankheit. Durch nichts aber konnten Sie mich so erfreuen wie durch die Bemerkung, ich käme Ihnen so glücklich vor. Die Menschen sind zum Glücklichsein geschaffen, und wer ganz glücklich ist, der darf sagen: Ich habe Gottes Gebot erfüllt. Alle Gerechten, alle Heiligen, alle heiligen Märtyrer waren glücklich.«

      »Wie Sie das sagen! Was für kühne, erhabene Worte!« rief die Mama. »Es dringt einem mitten ins Herz, wenn Sie reden. Und doch, das Glück – wo ist das Glück? Wer kann von sich sagen, er sei ganz glücklich? Da Sie uns gütigst erlaubt haben, Sie heute noch einmal zu sehen, so hören Sie denn alles, was ich Ihnen das vorige Mal verschwiegen habe, weil ich nicht den Mut hatte, es Ihnen zu sagen: alles, worunter ich leide, schon lange, lange leide! Ich leide, verzeihen Sie mir, ich leide ...« Ungestüm faltete sie ihre Hände vor ihm.

      »Worin besteht Ihr Leiden?«

      »Mein Leiden besteht im Unglauben ... «

      »Im Unglauben an Gott?«

      »O nein, so etwas wage ich gar nicht zu denken! Aber das zukünftige Leben, das ist mir ein Rätsel! Und niemand kann es mir lösen, dieses Rätsel! Hören Sie, Sie Heilsspender, Sie Kenner der menschlichen Seele! Ich kann natürlich nicht verlangen, daß Sie mir völlig glauben, aber ich versichere Ihnen hoch und teuer, daß ich nicht leichtfertig zu Ihnen rede, daß mich vielmehr der Gedanke an ein Leben nach dem Tode aufregt bis zu tatsächlichem Leiden, ja bis zu Schrecken und Angst ... Ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll. Ich hatte mein Leben lang nicht den Mut. Und jetzt, jetzt wage ich es, mich an Sie zu wenden ... O Gott, wofür werden Sie mich halten!« Sie schlug die Hände zusammen.

      »Sorgen Sie sich nicht um meine Meinung«, antwortete der Starez. »Ich glaube durchaus an die Aufrichtigkeit Ihres Kummers.«

      »Oh, wie dankbar bin ich Ihnen! Sehen Sie, ich schließe oft die Augen und denke: Wie kommt es, daß alle Menschen glauben? Es wird vielfach gesagt, das habe seinen Ursprung in der Furcht vor schrecklichen Naturerscheinungen, weiter gar nichts. Und nun denke ich: Wenn ich mein ganzes Leben geglaubt habe und dann sterbe, und dann ist da nichts, und auf dem Grabe wächst die Klette, wie ich bei einem Dichter las? Das wäre doch entsetzlich! Wodurch kann ich den Glauben wiedererlangen? Übrigens habe ich nur geglaubt, als ich noch klein war, mechanisch, ohne etwas dabei zu denken. Aber wie und wodurch läßt sich das beweisen? Ich bin gekommen, um vor Ihnen niederzufallen und Sie um Auskunft zu bitten. Denn wenn ich jetzt die Gelegenheit verstreichen lasse, wird mir mein Leben lang niemand mehr meine Frage beantworten. Wie läßt es sich beweisen, wie kann man zur Überzeugung gelangen? Oh, das ist mein Unglück! Ich stehe da und sehe, daß allen oder fast allen rings um mich her die ganze Sache gleichgültig ist und daß niemand sich darum Sorge macht – nur ich kann das nicht ertragen. Das richtet mich zugrunde, völlig zugrunde!«

      »Ohne Zweifel richtet das einen Menschen zugrunde. Beweisen läßt sich hier allerdings nichts; doch zur Überzeugung zu gelangen, das ist möglich.«

      »Wie das? Wodurch?«

      »Durch die Erfahrung der tätigen Liebe. Bemühen Sie sich, Ihre Nächsten tätig und unermüdlich zu lieben! Je größere Fortschritte Sie in der Liebe machen, desto mehr werden Sie sich überzeugen von dem Dasein Gottes und von der Unsterblichkeit Ihrer Seele. Und wenn Sie in Ihrer Nächstenliebe bei völliger Selbstverleugnung angelangt sind, dann werden Sie auch zuversichtlich glauben, und kein Zweifel wird mehr in Ihre Seele Eingang finden. Das ist erprobt, das ist sicher.«

      »Tätige Liebe? Das ist auch wieder eine Frage, und zwar eine schwere, schwere Frage! Sehen Sie, ich liebe die Menschheit so sehr, daß ich – werden Sie mir das glauben? – manchmal daran denke, alles, was ich besitze, von mir zu werfen, Lisa zu verlassen und Barmherzige Schwester zu werden. Ich schließe die Augen, denke und träume; in solchen Augenblicken fühle ich eine unwiderstehliche Kraft in mir. Keine Wunde, kein eiterndes Geschwür könnte mich schrecken. Ich würde sie verbinden und mit meinen eigenen Händen waschen, ich würde die Wärterin dieser Leidenden sein, ich wäre bereit, diese Geschwüre zu küssen.«

      »Es ist schon viel und gut, wenn Ihr Geist davon träumt und nicht von etwas anderem. Nein, nein, Sie, werden wirklich eine gute Tat tun, bevor Sie sich dessen versehen.«

      »Aber könnte ich so ein Leben lange führen?« fuhr die Dame erregt, beinahe außer sich fort. »Das ist die Hauptfrage, das ist die Frage, die mich am meisten quält. Ich schließe die Augen und frage mich: Würdest du es lange auf diesem Weg aushalten? Und wenn der Kranke, dessen Geschwüre du wäschst, dies nicht sogleich durch Dankbarkeit vergilt, sondern dich im Gegenteil anschreit, ohne deine Menschenfreundlichkeit zu bemerken und zu würdigen; wenn er in grobem Ton dies und das verlangt und sich sogar bei den Vorgesetzten beschwert. Wie es bei Schwerkranken häufig vorkommt? Was dann? Wird deine Liebe fortdauern oder nicht? Und denken Sie, ich habe mir mit Zittern und Zagen bereits die Antwort auf diese Frage gegeben: Wenn irgend etwas meine tätige Liebe zur Menschheit sofort auslöschen kann, so ist es einzig und allein der Undank. Ich bin eben eine Lohnarbeiterin: ich fordere augenblicklich Bezahlung, Lob und Vergeltung meiner Liebe durch Gegenliebe. Anders kann ich niemanden lieben!«

      Es war ein Anfall aufrichtigster Selbstanklage, und sie blickte, als sie geendet hatte, den Starez mit herausfordernder Entschlossenheit an.

      »Genau dasselbe hat mir schon vor langer Zeit ein Arzt erzählt«, erwiderte der Starez. »Er war ein schon bejahrter Mann und unstreitig klug. Er sprach ebenso offen wie Sie, zwar scherzend, aber dabei traurig. ›Ich liebe die Menschheit‹, sagte er, ›aber ich wundere mich über mich selbst: je mehr ich die Menschen liebe, desto weniger liebe ich den einzelnen Menschen, das Individuum. Wenn ich mich so meinen Träumereien hingab‹, sagte er, ›hatte ich manchmal die seltsamsten Absichten, der Menschheit zu dienen. Ich würde mich vielleicht für die Menschen kreuzigen lassen, wenn das einmal irgendwie nötig wäre – und dabei bin ich außerstande, auch nur zwei Tage mit jemand dasselbe Zimmer zu teilen. Ich weiß das aus Erfahrung. Kaum kommt er mir nahe, verletzt seine Persönlichkeit schon meine Eigenliebe und beeinträchtigt meine Freiheit. Ein einziger Tag genügt schon, mich den besten Menschen hassen zu lehren: den einen, weil er mittags zu langsam ißt, den anderen, weil er Schnupfen hat und sich fortwährend schneuzt. Sobald die Menschen mit mir in Berührung kommen, werde ich ein Menschenfeind‹, sagte er. ›Und dabei wurde meine Liebe zur Menschheit bisher desto flammender, je mehr ich die einzelnen Menschen haßte.‹«

      »Was aber soll man tun? Was soll man in solchen Fällen tun? Muß man da nicht verzweifeln?«

      »Nein, es genügt schon, daß Sie sich darum sorgen. Tun Sie, was Sie können, und es wird Ihnen angerechnet werden. Sie haben schon viel dadurch getan, daß Sie sich selbst so tief und aufrichtig erkennen lernten! Sollten Sie aber jetzt nur deshalb so offen mit mir gesprochen