selbst wenn er noch wüsste, was sie für einen Inhalt hatten und wer sie im übergeben hat.... würden wir es nie erfahren?“
„Nicht, wenn er den nächsten Tag noch erleben will.“
„Auch nicht, wenn Lennys....?“
„Lennys würde sich nie über dieses Gesetz erheben. Zumal sie ja immer noch den Gedanken an einen Verräter verweigert.“
„Und Talmir?“
„Talmir könnte vielleicht tatsächlich etwas ausrichten. Aber solange wir nicht absolut sicher sind, dass er nichts mit der Sache zu tun hat, möchte ich ihn ungern darauf aufmerksam machen, was wir für einen Verdacht haben.“
„Glaubst du wirklich, Talmir könnte dieser Auftraggeber sein?“
„Vielleicht. Oder zumindest mehr darüber wissen. Nein, ich glaube es nicht wirklich. Aber wir können es nicht ausschließen. Ebenso wenig wie Mondor, wobei ich mir auch nicht vorstellen kann, dass ein Batí-Priester sich gegen sein eigenes Volk stellt. Er am allerwenigsten. Aber denk an Wandans Worte. Traue keinem.“
„Also sind wir keinen Schritt weiter.“
Irgendetwas an Rahors Gesicht sagte Sara, dass er noch nicht alles erzählt hatte.
„Also gut... ich will nicht länger drumherum reden.“ gab er schließlich zu. „Nur eines vorneweg: Wer hinter allem steckt, weiß ich immer noch nicht sicher. Aber ich glaube zu wissen, um welche Schriftstücke es sich handelt.“
„Was? Aber... wie....?“
„Du hast genauso kompliziert gedacht, wie ich Sara. All die Tage drehten sich meine Gedanken nur darum, wie wir die Schreiber zum Reden oder vielmehr zum Schreiben bringen könnten, denn wie gesagt, sie sind taubstumm. Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, wie wir an den Inhalt dieser Kopien kommen könnten. Und habe – wie du im Moment auch – das Offensichtlichste übersehen. Bis es mir eines Abends wie Schuppen von den Augen fiel.“
„Aber... aber was denn?“
„Warum nach den Kopien fahnden? Entscheidend ist doch... das Original.“
„Ich sehe da keinen Unterschied.“
„Dann ganz langsam. Die Abschriften werden absolut originalgetreu ausgeführt. Das sagte ich ja bereits.“
„Ja.“
„Wir gehen davon aus, dass wir es mit einer Kopie von sechsundachtzig Pergamentbögen zu tun haben, die nach Askaryan verkauft wurde. Richtig?“
„Ja.“
„Und was sagt uns das?“
„Nichts. Nur, dass irgendwo ein Original aus sechsund.... das... das ist es.“ Endlich begriff auch Sara.
„Na also!“ Rahor strahlte. „Es gibt unzählige alter Texte, Abhandlungen, Bücher... Aber nur sehr, sehr wenige, die aus genau sechsundachtzig Bögen bestehen.“
„Wie viele?“
„Acht. Aber nur drei davon fallen zwischen den neunten und den zwölften Grad.“
„Und.... welche....?“
Rahor wurde plötzlich sehr ernst. Sein Enthusiasmus verschwand hinter einer Maske aus Stein.
„Sara. Das ist ein Geheimnis, dass ich dir unter normalen Umständen niemals verraten dürfte. Du darfst nicht wissen, welche Geheimnisse in unseren Archiven lagern, noch nicht einmal durch eine vage Beschreibung. Und natürlich sage ich es dir doch. Du sollst nur wissen, dass du mit niemandem darüber sprechen darfst.“
„Ich verspreche es.“
„Gut. Die erste Niederschrift ist die harmloseste. Ich glaube auch nicht, dass sie unser gesuchtes Dokument ist. Es ist eine genaue Beschreibung der Zeremonie zur Erhebung eines Priesters in den zehnten Grad.“
„Damit könnte Iandal nichts anfangen.“
„Nein, nicht wirklich. Aber die anderen beiden.... sind Dokumente aus dem Archiv des... des elften Batí-Grades.“
Sara machte große Augen. Doch sie bezähmte ihre Neugier noch einen Moment. „Woher … woher weißt du das?“
„Ich bin ein Batí, wie du weißt. Natürlich kein Priester, schon gar nicht des elften Grades. Aber ich habe eine Möglichkeit gefunden, ein Schriftenverzeichnis unseres Kultes einzusehen. Darin sind nur Titel und Umfang aufgelistet, aber das genügte. Du kannst dir wohl denken, dass ich nicht ganz... nun ja... ich würde dafür mit meinem Leben bezahlen, wenn jemand herausfindet, dass und wie ich an das Verzeichnis gekommen bin, also sage ich jetzt lieber nichts.“
„Was sind das für Schriften?“
„Zum einen ein Stammbaum. Ein Stammbaum der Batí-Linien. Nicht aller natürlich.“
„Was sollte Iandal damit?“
„Nun, …er ist ein Batí-Halbblut, musst du wissen. Vielleicht wollte er Nachforschungen über seine Herkunft anstellen. Ich persönlich aber glaube das nicht. Ich glaube, er hat es auf das andere Schriftstück abgesehen.“
„Und das ist …?“
„Es ist ein Buch. Eine Art Prophezeihung, die eine Anleitung enthält. Es ist so alt wie unser Volk selbst. Die ersten Priester haben es geschrieben und niemand weiß, wie viel Wahrheit es wirklich enthält. Aber wenn es wahr ist....“ Er schluckte. Zum ersten Mal seit sie Rahor kannte, sah Sara so etwas wie Furcht in seinen Augen.
„Rahor?“
„..... Es ist die genaue Beschreibung eines Rituals.“
„Des Rituals in Sagun?“
„Nein. Es beschreibt wie man.... wie man sich als einzelner Krieger mit Ash-Zaharr vereinigen kann...“
„Vereinigen?“
„Ein Mensch... mit Ash-Zaharrs Stärke. Mit seiner Macht... seinem Geist.“
„So etwas wie... Besessenheit?“
„Nenn es so, wenn du dir darunter etwas vorstellen kannst. Es wäre... die absolute Kontrolle, verstehst du? Die absolute Kontrolle von Ash-Zaharrs Kräften. Es befähigt den Ausführenden, den Dämon voll und ganz auf seine Seite zu bringen.“
Bei der Ratsversammlung am Nachmittag war die Stimmung denkbar schlecht. Lennys war immer noch wütend wegen Rahors langem Verschwinden. Rahor selbst war tief in Gedanken versunken, ebenso Sara. Beide dachten daran, welche Gefahr dem Sichelland drohte, wenn sich ihre Vermutung bestätigen sollte. Auch Menrir machte ein betrübtes Gesicht. Sein Sohn Log hatte ihn wissen lassen, dass er an keinerlei weiteren Gesprächen Interesse hatte und riet seinem Vater zudem, im eigenen Interesse die Bande zu den Cycala zu kappen. Zu guter Letzt kam es auch noch zu einem neuerlichen Streit zwischen Talmir und Mondor, dessen eigentlichen Auslöser niemand so recht kannte.
Die einzigen, die an diesem Tage nicht am Treffen im Großen Saal teilnahmen, waren der alte Cas Faragyl, der sich vor einigen Tagen zum Ostbogen aufgemacht hatte und Wandan, der ja ohnehin lieber zurückgezogen in seinem Turm blieb.
Sara und Rahor hatten lange beratschlagt, inwieweit sie Lennys vom Ergebnis ihrer Nachforschungen in Kenntnis setzen wollten. Doch so bedrohlich die Situation auch sein mochte, sie hatten einen guten Grund, ihr Wissen vorerst noch für sich zu behalten.
„Lennys würde sofort Mondor zu Rate ziehen.“ hatte Rahor eingewandt. „Und ich weiß nicht, ob das im Augenblick eine gute Idee wäre. Du weißt, dass sie nicht an einen Verräter glaubt. Wir müssen zuerst mehr über dieses Buch herausfinden und auch über den, der es Iandal verkauft hat. Solange wir keine Beweise haben, wird sie uns keinen Glauben schenken.“
Sara hatte dem Cas Recht gegeben. Hinzu kam, dass vorerst noch niemand, nicht einmal Lennys, wissen durfte, dass Rahor seine eigenen Wege ging, auch wenn er dies nur zum Wohle seines Landes tat.
So wurde auch heute nicht mehr über die Pergamentlieferung gesprochen,