Hanna daher mitten ins Gesicht. Sie ging sofort zu Boden. Da der Hieb sie unerwartet getroffen hatte, merkte sie nur, wie ihr Kreislauf nachließ. Sie konnte nicht aufstehen, auch wenn sie gewollt hat. Es war ein Kampf gegen Windmühlen.
„Das wollte ich nicht“, sprach der Bettler, „aber du hast mir keine Wahl gelassen, nun muss ich dich beseitigen, denn sonst redest du.“
Der Mann begann zu weinen, denn es tat ihm tatsächlich leid, er war voller Verzweiflung. Ständig ging er hin und her. Er war sich seines Plans wohl nicht so sicher. Hanna dröhnte der Kopf. Der Schlag hatte ganz schön gesessen. Dann blieb der Mann stehen.
„Entschuldige bitte, möge Gott mir verzeihen, aber ich habe keine andere Wahl“, sagte er unter Tränen und schlug erneut zu.
Hanna fühlte erst einen tiefen Schmerz, der sich in ihrem gesamten Körper ausbreitete, dann fühlte sie nichts mehr, alles wurde dumpfer. Am Ende schloss sie die Augen und alles wurde schwarz.
„Hallo?“ fragte eine Stimme, die klang, als sei sie eine sehr weit weg, „kleines Mädchen?“
Hanna öffnete ihre Augen. Sie konnte nur verschwommen wahrnehmen, dass ein anderer Herr, in feiner Kleidung und einem Zylinder auf dem Kopf vor ihr gebeugt war. Hanna zog sofort zurück.
„Ist alles in Ordnung?“ fragte der edle Herr weiter.
Hanna war nicht sicher, ob alles in Ordnung war, denn sie sah den Bettler nicht mehr. Wo war er? Sie schaute sich um.
„Wen suchst du?“ wollte der Herr wissen, „deine Eltern?“
Hanna erblickte den Bettler. Er saß gefesselt schräg hinter dem Mann, der sie geweckt hatte.
„Sind Sie ein Wachmann?“ fragte Hanna und merkte, wie kraftlos sie noch war.
„So ähnlich“, antwortete er.
Der Bettler wollte schreien, aber er konnte nicht, denn er hatte ein Knebel im Mund und er war zudem auch noch gefesselt.
„Wer sind Sie dann?“ wollte Hanna nun wissen, denn sie verstand nicht ganz, was hier vor sich ging.
„Ich werde dich beschützen“, sagte der Mann, „und ich kann dir helfen.“
Hanna traute ihm nicht, denn ihre Intuition verriet ihr, vorsichtig zu sein. Er hatte etwas Freundliches und zeitgleich auch etwas Bedrohliches.
„Wie können Sie mir helfen?“ wollte Hanna dennoch wissen.
„Ich kann diesen Mann bestrafen für das, was er dir angetan hat“, erklärte der Fremde.
Hanna wollte das nicht und schaute beschämt weg. Auch wenn er ihr körperliche Gewalt zugefügt hat, so war sie Christin und vergeben war eines der festen Säulen ihres Glaubens, aber auch ihres Wesens. Dann entdeckte sie ihren Ludwig, immer noch in der Blutlache liegend. Wo sollte er denn auch hin? Der Mann sah ihren Blick Richtung Ludwig.
„Es geht um ihn“, erkannte er, „und gar nicht um den anderen Herren.“
Hanna starrte weiterhin zu ihrem Onkel Ludwig. Immer wieder schossen ihr Bilder der Erinnerung ins Gedächtnis, die sie und ihn lachend im Laden ihres Vaters zeigten.
„Willst du, dass er wieder aufwacht?“ fragte der Mann und beugte sich zu runter.
Jetzt ging Hannas Blick in seine Richtung. Konnte er ihn aufwecken? Aber war ihm nicht bewusst, dass Ludwig tot war?
„Er ist tot“, sprach Hanna, „du kannst ihn nicht mehr aufwecken.“
„Doch, das kann ich“, korrigierte er, „wenn du es willst.“
Hanna schaute dem Herrn nun in die Augen, denn sie wartete auf den Lacher. Sie fühlte sich vorgeführt. Sollte dies ein übler Scherz sein und sie war das Opfer?
„Du musst mir nur einen Gefallen tun, dann mache ich ihn wieder lebendig“, machte der Herr deutlich.
„Wenn Sie das schaffen, dann tue ich Ihnen jeden Gefallen“, sagte Hanna, ohne darüber nachzudenken, was für Konsequenzen ihr Ausspruch haben könnte.
Um ehrlich zu sein, glaubte sie nicht daran. Daher konnte sie auch eine solche Versprechung machen. Und was kann ein Fremder schon von ihr wollen? Vielleicht Köstlichkeiten aus der Bäckerei ihres Vaters? Aber wie gesagt, daran glaubte sie absolut nicht.
Der Mann trug einen langen Mantel aus dem er eine Kette mit einem Amulett zog. Dieses fing an, grünlich zu leuchten. Dann versteckte er es wieder. Hannas Augen wurden größer, denn sie hatte sowas noch nie zuvor gesehen.
„Gleich wird es geschehen“, sagte der Herr, „und denke daran, was du mir versprochen hast.“
„Ja“, bestätigte Hanna, „ich weiß.“
Ludwigs Körper fing auf einmal an zu zucken. Erst der Rumpf, dann die Beine und die Arme, sowie der Kopf. Als nehme das Leben wieder von ihm Besitz.
„Was passiert?“ fragte Hanna, denn sie bekam Angst.
„Was du wolltest“, antwortete er.
War es Teufelswerk? Oder Magie? Auf jeden Fall hatte Hanna es im Gefühl, dass es kein gutes Ende nehmen konnte. Andererseits wollte sie ihren Ludwig wieder zurückholen. Die Bewegungen wurden stärker und stärker, bis es zu einem jähen Stillstand kam und Ludwig regungslos da lag.
„Was ist los?“ wollte Hanna wissen, „hat es nicht geklappt? Es hat nicht geklappt.“
„Warte“, bat der Herr sie, „habe nur Geduld.“
Im nächsten Moment öffnete Ludwig seine Augen und sein Oberkörper richtete sich auf. Hannas Augen wurden größer als je zuvor. Es musste sich um eine Wunder handeln!
„Er…er…lebt!“ rief sie und war voller Begeisterung.
Sie lief sofort zu ihm hin. Noch während ihres Laufs erkannte sie, dass er rote Augen hatte, wie blutdurchtränkt. Hanna blieb sofortig stehen und schluckte, denn es war ein schrecklicher Anblick. Was war passiert?
„Was haben Sie mit ihm gemacht?“ warf Hanna dem Herrn vor und war dabei ziemlich laut.
Anscheinend hörte sie niemand, denn sie war zu weit weg von dem Geschehen auf dem Markt. Der Fremde wandte sich Hanna zu.
„Ich habe dir deinen Wunsch erfüllt“, antwortete er und hatte ein Grinsen im Gesicht.
„Aber das habe ich mir nicht gewünscht“, machte sie ihm sofort klar.
„Dann hättest du es mir besser erläutern müssen“, entgegnete er.
Währenddessen richtete sich der Oberkörper des Rotaugen- Ludwigs nach oben und fixierte das kleine Mädchen. Hanna bekam Angst, denn Ludwig hatte einen Blick, den sie von ihm nicht kannte. Es waren nicht nur diese blutigen Augen, es war vielmehr dieser gierige Blick, als wäre er ein Löwe und sie die Gazelle, die er fressen wollte. Dann stand er auf. Er war zwar langsam, aber am Ende ging er nahezu aufrecht auf Hanna zu. Hanna bekam nun Panik. Es ließ sie erstarren, statt dass sie sich in die Flucht begibt.
„Stopp!“ rief der Herr und Ludwig hielt sofort inne.
Hanna wunderte sich. Es war eine Mischung aus Furcht, aber auch Begeisterung. Die Furcht war offensichtlich, aber die Begeisterung kam von dem Verdacht, dass dieser Mann kein gewöhnlicher Mensch war. War er etwa der Teufel? Als Christin gab es den Glauben an den Teufel- er konnte überall sein. Hanna schluckte als ob sie einen dicken fetten Kloß im Hals hatte.
„Keine Angst, er wird dir nichts tun“, sagte der Mann.
Im nächsten Moment ging alles plötzlich sehr schnell. Zwei Männer, die Gewänder trugen und Hanna an Priester erinnerten, tauchten auf. Es befanden sie nahezu an jeder Stelle ihrer Kleidung Kreuze und Schriften, sowie andere Symbole, die Hanna nicht identifizieren konnte.
„Was wollt‘ ihr denn hier?“ fragte der Fremde.
„Sie festsetzen und wegen Hexerei anklagen“, antwortete der eine.