Frank Hille

Drei Musketiere - Eine verlorene Jugend im Krieg, Band 20


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von zwei Sekunden wie ein Schlangenmensch im Inneren verschwunden.

      „Der erzählt ne Menge“ brummte Anton Häber „ma sehn, wasr als Schütze kann. Abr gelenkisch isser.“

      Fred Beyer hatte den Eindruck, dass der Neue kein Blender war, sondern einfach ein sehr offener Mensch, der an seine Arbeit sehr ernsthaft heranging und trotz seines Alters schon so etwas wie Verantwortungsgefühl entwickelt hatte. Für ihn hatte das nie eine große Rolle gespielt, zu Hause gab es nur heruntergekommenes Mobiliar, das Geld wurde für Essen und einigermaßen vernünftige Kleidung ausgegeben. Bei der Wehrmacht war ihm schon deutlicher klar gemacht worden, dass es so etwas wie Achtung vor Dingen gab. Alles hatte Arbeit und Material gekostet und das beste Beispiel für ihn war die Ansprache des Karabiners als „Braut des Soldaten“. Die Waffe sollte also äußerst pfleglich behandelt werden. Er realisierte erstmalig, dass das Angebot an Waren nicht selbstverständlich war, sondern erst in einem komplizierten Prozess mit vielen Arbeitsstufen zustande kam. Von da an gab er mehr acht im Umgang mit ihm anvertrauten Sachen.

      Sie waren wieder vollzählig, und wie sich Fritz Kwasnik als Richtschütze machen würde sollte sich garantiert schnell zeigen.

      Natürlich wusste der Ritterkreuzträger Oberleutnant zur See Martin Haberkorn nicht, dass die alliierten Befehlshaber an diesem letzten Junitag des Jahres von einem vollständigen Erfolg der Invasion in der Normandie ausgingen. Mittlerweile befanden sich in dem von den Alliierten eroberten Gebiet eine Million Soldaten, 150.000 Fahrzeuge aller Art und Unmassen an weiteren Waffen, Munition und Versorgungsgütern.

      Nach dem Angriff der zwei Jagdbomber auf den Zug hatte ein LKW Haberkorn mit zur Standortkommandantur mitgenommen. Mit einem kurzen Dank war er ausgestiegen und hatte die Dienstzimmer betreten. Die Kommandantur war in einem unauffälligem Haus Vis a vis mit dem Bahnhof untergebracht. Haberkorns Ritterkreuz hatte den Gefreiten in der Schreibstube sichtlich beeindruckt, so dass er ihn sofort zum Büro des Kommandanten begleitete. In den Räumen sah es aus, als ob hier alles seinen üblichen deutschen Gang gehen würde, langsam zwar, aber wohlgeordnet. Ein paar augenscheinlich liebevoll gepflegte Grünpflanzen dekorierten die deutsche Verwaltungsidylle.

      Als der Gefreite angeklopft und nach einem mürrischen „Ja“ von drinnen die Tür geöffnet hatte, sah sich Haberkorn einem untersetzten und fast als dürr zu bezeichnendem Oberstleutnant gegenüber, der gerade eine Zigarette in einem schon überquellenden Aschenbecher ausdrückte. Angewidert zeigte der Offizier auf den Aschenbecher und fuhr den Gefreiten an:

      „Ausleeren, aber dalli!“

      Dann erst schien er Haberkorn wahrzunehmen.

      „Sie wünschen?“

      „Oberleutnant zur See Haberkorn. Es würde mich freuen zu erfahren, mit wem ich die Ehre habe.“

      „Oberstleutnant Kraut. Ja, Kraut. So wie die Amis uns nennen. Lustig, was?"

      „Wenn Sie meinen. Aber dürfte ich Ihnen mein Anliegen vortragen?“

      „Aber gern, nichts lieber als das. Wer bei mir erscheint, trägt immer ein Anliegen vor.“

      Der Mann brannte sich eine Zigarette an und suchte nach einem Aschenbecher für das benutzte Streichholz.

      „Weber“ brüllte er, und der Gefreite erschien mit dem gesäuberten Aschenbecher.

      Der Oberstleutnant schaute sich den Aschenbecher genau an, dann wandte er sich an Haberkorn.

      „Ich habe zwei Wochen gebraucht um diesem Einfaltspinsel beizubringen, dass er den leeren Aschenbecher auch abzuspülen und trocken zu reiben hat.“

      Er nahm ein paar Züge aus der Zigarette, hustete bellend, dann sagte er:

      „Also, Herr Oberleutnant, wo liegt Ihr Problem?“

      „Ich habe einen Marschbefehl nach Hamburg, und bin hier nach dem Luftangriff erst einmal gestrandet. Ich habe keinen Fahrplan und keine Ahnung, wie ich weiterkommen kann.“

      „Nach Hamburg“ sagte der Oberstleutnant wie träumerisch „warum nicht gleich nach Honolulu? Dorthin zu kommen ist vermutlich einfacher. Wo kommen Sie denn her?“

      „Aus Brest.“

      „So wie ich unseren ruhmreichen Führer kenne, wird Brest sicher bis zur letzten Patrone verteidigt werden. Darf ich Ihnen mal etwas zeigen, Herr Oberleutnant?“

      Auf einem Tisch lag eine größere Karte von Frankreich. Im Gebiet der Normandie waren von der Küste ausgehend parallel dazu verlaufende Linien eingezeichnet worden, die immer mehr in das Landesinnere nach Süden wiesen, allerdings nicht allzu weit, vielleicht 20 Kilometer, und im Bereich zwischen Cherbourg und Bayeux lagen.

      „So sieht das aus, wenn man sich aus dem Wehrmachtsbericht und anderen Quellen ein Lagebild zusammenbasteln muss. Sie wissen ja selbst, dass der Wehrmachtsbericht nun nicht immer ganz die Realität abbildet, um es einmal vorsichtig auszudrücken. Also habe ich ein wenig, nicht ganz legal, wenn man das so sagen will, gehorcht, und denke, dass ich eine einigermaßen realistische Darstellung fabriziert habe. Die Lage scheint auf den ersten Blick noch nicht sonderlich kritisch. Der Feind ist wie erwartet gelandet, leider haben ihn unsere Verteidigungsstellungen und unsere Kräfte nicht aufhalten können. Nun sitzt also der schlechtgelaunte Uncle Sam zusammen mit dem versoffenen Syphilitiker Churchill, um mal im Sprachgebrauch des Führers zu bleiben, in der Normandie auf dem Küstenstreifen und macht sich jeden Tag ein bisschen breiter. Der Führer ist der Meinung, dass ruhig noch mehr Leute anlanden sollen, um sie dann in einer gewaltigen Operation so ins Meer zu treiben, dass sie für ewig und immer die Lust verlieren, nochmal wiederzukommen.“

      Der Mann gab ein Geräusch von sich, dass sich wie eine Mischung aus einem erstickten Lachen und einem unterdrückten Brüllen anhörte.

      „Entschuldigung“ sagte der Oberstleutnant „ein kleines Zurückbleibsel von der Ostfront 1943. Acht Stunden verschüttet in einem Unterstand, und dazu noch mit einem Balken auf der Rübe. Der hat möglicherweise etwas Durcheinander in meinem Kopf angerichtet. Jedenfalls hat man nach meinem Lazarettaufenthalt entschieden, dass ich dem Vaterland noch in der Verwaltung dienen kann. Das tue ich hier und frage mich gerade, was wohl im Kopf des Führers so vorgeht.“

      Der Mann machte eine Redepause, Haberkorn schwieg.

      „Wenn ich mir die Lage so ansehe muss derjenige, der auf unserer Seite die Befehle gibt, ein ziemlicher Idiot sein. Jede Stunde wird der Feind stärker, und wir? Wir tun nichts, setzen nicht einmal Reserven in Marsch, um den Gegner tatsächlich wieder ins Meer zu werfen. Aber eine Million Mann wirft man nicht so einfach wieder ins Meer. Tja, so geht das aus, wenn nur eine Person entscheidet, die sich selbst für unfehlbar hält.“

      Der Oberstleutnant hustete, dann sagte er zu Haberkorn:

      „Morgen ist jeglicher zivile Zugverkehr eingestellt. Sie kommen also aus diesem lieblichen Ort vorerst nicht weg. Man sollte es nicht glauben, aber hier leben immerhin knapp 7.000 Leute. Man sieht sie bloß nicht. Irgendwie gespenstisch.“

      „Und mit einem Fahrzeug?“

      „Einem Fahrzeug? Nun da habe ich einen Opel Blitz zu bieten, leider mit einem Achsbruch. Wir warten schon 3 Monate auf das Ersatzteil. Dann gibt es noch einen Kübelwagen, aber den benötige ich selbst. Ich werde Sie im Hotel „Au Poulet“ einquartieren. Geht so. Die Zimmer sind zwar nicht unbedingt Extraklasse, dafür ist das Essen gut. Weber, der Kerl mit dem Aschenbecher, bringt Sie dann mal rüber. Und Herr Oberleutnant, bitte keine Eigenmächtigkeiten, wie mal auf eigene Faust probieren ob man von hier weiterkommt. Die Posten haben allen Schiss, dass der Tommie vor ihnen auftaucht, und die Abzugsfinger sitzen locker. Es gibt strikten Schießbefehl.“

      Der Mann ging zur Tür, riss sie auf und brüllte:

      „Gefreiter Weber!“

      Der Soldat war sofort zur Stelle.