Йозеф Рот

Tarabas


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Feind, den es im gewaltigen, steinernen New York gab. Als nun der Feind in die Tasche griff, nach einem Tuch suchend, das Blut zu trocknen, vermeinte Tarabas, der Wirt suche nach einer Waffe. Deshalb stürzte sich Tarabas auf ihn, biß sich mit gekrallten Händen an seinem Halse fest, würgte, bis der Wirt niederfiel, mit dem Kopf gegen die gläserne Tür der Bar. Ein ungeheuerlicher Lärm erfüllte Tarabas' Kopf. Das Splittern und Krachen des Glases, der dumpfe Aufschlag des feindlichen Körpers, der gemeinsame Schrei gaffender, belustigter und zugleich erschrockener Passanten, der Kellnerinnen und Gäste vereinigte sich zu einem Ozean aus schrecklichen Geräuschen. Mit dem Wirt zusammen, die Hände an dessen mächtigem Hals, war auch Tarabas hingefallen. Er fühlte des Wirtes gespannten muskulösen Bauch durch Rock und Weste. Der geöffnete Mund des Feindes zeigte den roten Rachen, den blaßgrauen Gaumen, darinnen sich die Zunge bewegte wie ein seltsames Tier, das blendende Weiß der kräftigen Zähne. Tarabas sah den perlenden Schaum an den Mundwinkeln, die bläulich angelaufenen Lippen, das aufwärtsgereckte Kinn. Eine unbekannte Faust faßte Tarabas plötzlich am Nacken, kniff ihn, würgte ihn, hob ihn hoch. Dem Schmerz und der Gewalt konnte er nicht widerstehen. Seine Faust wurde locker. Er sah sich nicht mehr um. Er sah überhaupt nichts mehr. Furcht erfüllte ihn plötzlich. Mit kräftigen Stößen zerteilte er die Menge, Lärm noch im Ohr, unbestimmten, riesigen Schrecken in der Brust. Mit großen Sprüngen setzte er über die Straße, Verfolger und Rufe und den schrillen Pfiff eines Polizisten hinter sich. Er lief. Er fühlte sich laufen. Er lief, als hätte er zehn Beine, eine großartige Kraft in Schenkeln und Füßen, die Freiheit vor Augen, den Tod im Rücken. In eine Seitenstraße lief er und warf einen Blick zurück. Kein Mensch mehr hinter ihm. Er rettete sich in ein dunkles Tor, kauerte hinter der Stiege, sah und hörte die Schar seiner Verfolger am Haus vorüberrennen. Leute kamen die Treppe herunter. Er hielt seinen Atem an. Eine Ewigkeit, so dünkte es ihn, hockte er still. – Es war wie in einem Grab. In einem Sarg hockte er. Ein Säugling jammerte irgendwo. Kinder schrien im Hof. Diese Stimmen beruhigten Tarabas. Er rückte das Hemd, den Anzug, die Krawatte zurecht. Er stand auf und ging sachte ans Haustor. Die Straße hatte ein gewöhnliches Aussehen. Tarabas verließ das Haus. Schon war der Abend da. Schon brannten die Laternen, und die Fenster der Läden waren schon hell erleuchtet.

      2

      Tarabas bemerkte bald zu seinem Schrecken, daß er im Begriffe war, sich wieder der Bar zu nähern. Nun kehrte er um, bog um die Ecke, verlor sich in einer Seitenstraße, war überzeugt, daß er die linke Richtung einhalten müsse, und erkannte ein paar Sekunden hierauf, daß er im Rechteck herumgegangen war und sich nun zum zweitenmal in der Nähe der Bar befand. Unterdessen hielt er, wie es seine Art war, Ausschau nach einem der Zeichen, die Glück oder Unheil bringen konnten, einem Schimmel, einer Nonne, einem rothaarigen Menschen, einem rothaarigen Juden, einer Greisin, einem Buckligen. Da sich kein einziges Zeichen begab, beschloß er, anderen Dingen schicksalhafte Bedeutung zuzutrauen. Er begann, Laternen und Pflastersteine zu zählen, die kleinen, viereckigen Netzlöcher der Kanalgitter, die geschlossenen und die offenen Fenster dieser und jener Häuser und die Zahl seiner eigenen Schritte von einem bestimmten Punkt der Straße aus bis zum nächsten Übergang. Also beschäftigt mit der Prüfung verschiedenartigster Orakel, gelangte er vor eines jener langen, schmalen und wohltätig dunklen Kinotheater, die damals noch »Bioskope« oder »Kinematographen« hießen und manchmal die ganze Nacht bis zum Morgengrauen ihr vielfältiges Programm abrollen ließen, ohne Unterbrechung. Weil es Tarabas nun vorkam, daß dieses Theater vor ihm plötzlich auftauchte (und nicht, daß er davorgelangt war), nahm er es als ein Zeichen, kaufte eine Karte und betrat den finsteren Raum, geleitet von der gelblichen Lampe des Billetteurs.

      Er setzte sich – und zwar nicht, wie er es sonst gewohnt war, auf einen Eckplatz, sondern in die Mitte, zwischen die anderen, nahe der Leinwand, obwohl er hier die Bilder weniger genau sehen konnte. Er war aber entschlossen, seine ganze Aufmerksamkeit den Vorgängen auf der Leinwand zu schenken. Dies wollte ihm eine Zeitlang nicht gelingen, sei es, weil er gerade in die Mitte der Handlung geraten war, sei es, weil er zu nahe der Leinwand Platz genommen hatte. Er mußte den Kopf recken, weil die Reihe, in der er saß, viel zu tief gelegen war, und bald schmerzte ihn der Nacken. Allmählich nahm ihn die Handlung gefangen, deren Anfang er zu erraten versuchte, als hätte er eines der Rätsel zu lösen, die in den illustrierten Zeitschriften standen und mit denen er sich oft die Stunden zu vertreiben pflegte, in welchen er auf Katharina warten mußte. Nunmehr erkannte er, daß es auf der Leinwand um das Schicksal eines sonderbaren Mannes ging, der unschuldig, und sogar aus edlen Grünen, nämlich um eine schutzlose Frau zu verteidigen, ein Verbrecher geworden war, ein Mörder, Dieb und Einbrecher – und der, unverstanden von der schutzlosen Dame, deretwegen er so viel Grausiges verübt hatte, ins Gefängnis kam in eine fürchterliche Zelle, zum Tode verurteilt wurde und zum Schafott schließlich geführt. Als man ihn, wie es üblich ist, nach seinem letzten Wunsch fragte, bat er um die Erlaubnis, mit seinem Blut den Namen der Geliebten an die Zellenwand malen zu dürfen, und um das Versprechen der Behörde, daß sie niemals diesen Namen auslöschen lassen würde. Er schnitt sich mit dem Messer, das ihm der Henkersknecht geliehen hatte, in die linke Hand, tauchte den rechten Zeigefinger in das Blut und schrieb an die steinerne Wand der Zelle den süßesten aller Namen: »Evelyn«. Die ganze Geschichte spielte, wie an den Kostümen zu erkennen war, nicht in Amerika, auch nicht in England, sondern in einem der sagenhaften Balkanländer Europas. Unbewegt starb der Held auf dem Schafott. Die Leinwand wurde still und leer. Das angenehme Surren des Apparates verstummte, ebenso das Klavier, das die Dramen begleitete. Ein paar Augenblicke war Tarabas der Überlegung überlassen, ob das Stück, das er gesehen hatte, einen so deutlichen Hinweis auf sein eigenes Erlebnis bedeuten mochte, daß er es als eines der besonderen Zeichen nehmen dürfe, die ihm, seiner Meinung nach, der Himmel zu schicken pflegte. Gewiß war jedenfalls ein Zusammenhang zwischen ihm und dem Helden vorhanden, zwischen Katharina und Evelyn. Ehe Tarabas noch dazu gelangen konnte, diesen Zusammenhang genauer festzustellen, belichtete sich wieder die Leinwand, und ein neuer Film begann.

      Der behandelte eine biblische Geschichte, nämlich die Art, wie Dalila Simson die Haare abschnitt, um ihn schwach zu machen und gefügig den Philistern. War Tarabas bereits unter dem Einfluß des vorigen Stückes geneigt gewesen, sich der irdischen Gerechtigkeit zu überliefern und das heldenmütige Geschick zu erleiden, das ihn dem Mann auf dem Schafott anzunähern geschienen hatte, so wurde er jetzt durch die Gestalt Simsons, der noch als Geblendeter Rache an den Philistern und an Dalila nahm, verführt, sich eher den viel heroischeren Tod Simsons zu wünschen. Und, eine Beziehung herstellend zwischen Dalila und Katharina, begann er, die beiden zu verwechseln. Er überlegte, auf welche Weise es möglich wäre, unter den gänzlich von den biblischen verschiedenen amerikanischen Umständen an der Welt der Philister Rache zu nehmen, nach der Art des judäischen Helden. Mußte es doch auch in New York Wunder geben wie im alten Lande Israel. Und mit Hilfe Gottes, der wahrscheinlich ein Gönner Tarabas' war, konnte man die mächtigen Säulen der Gefängnisse und Gerichte stürzen. Kraft fühlte Tarabas in seinen Muskeln. Ein starker Glaube lebte in seinem Herzen. Er war Katholik. Lange schon hatte er nicht mehr die Kirche besucht. Als junger Mann und Student, der Revolution ergeben, hatte er dem gefürchteten Gott seiner Kindheit den Gehorsam und den Glauben gekündigt und war kurz hierauf dem Aberglauben an Schornsteinfeger, Schimmel und rothaarige Juden anheimgefallen. Aber immer noch hegte und liebte er die Vorstellung von einem Gott, der die Gläubigen nicht verließ und der die Sünder liebte. Gewiß: Gott liebte ihn, Nikolaus Tarabas. Er war entschlossen, nach dem Ende des Programms sich der irdischen Gerechtigkeit zu stellen, in frommer Zuversicht auf die himmlische Gnade.

      Allein, Müdigkeit überfiel ihn – und außerdem begann das Programm von neuem. Tarabas blieb sitzen, während vor, hinter ihm und neben ihm die alten Zuschauer gingen und neue Zuschauer kamen. Fünfmal sah er das Programm des Kinematographen ablaufen. Endlich kam der Morgen, und man schloß das Haus.

      3

      Es hatte in der Nacht geregnet. Der Morgen war frisch, die Pflastersteine waren noch naß. Sie trockneten aber schnell im herben, beständigen Morgenwind. Schon ratterte der Spritzwagen durch die Straßen und netzte das Pflaster aufs neue.

      Tarabas beschloß, sich dem ersten Polizisten auszuliefern, der ihm begegnen würde. Da aber vorläufig keiner kam,