Karl Olsberg

Das Dorf Band 10: Aufstand der Endermen


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runzelt die Stirn. „Hm, in dem Fall suchen wir ihn besser.“

      Zu viert durchstreifen sie den Wald, doch von Primo ist keine Spur zu finden.

      Allmählich setzt die Dämmerung ein.

      „Ihr solltet nach Hause zurückkehren“, sagt Willert. „Nachts ist es im Wald nicht sicher.“

      „Aber wenn er hier immer noch irgendwo ist?“, fragt Golina. „Schutzlos und allein?“

      „Primo ist schlau. Er wird sich notfalls auch ohne Waffe zu schützen wissen“, meint Willert, doch auch er wirkt besorgt.

      In diesem Moment bellt Paul laut. Rasch eilen die vier zu dem Wolf, der vor einem Baum steht, immer wieder am Boden schnüffelt und kläfft.

      „Sieht so aus, als wittere er etwas“, stellt Kolle fest. „Vielleicht war Primo hier.“

      „Aber wo ist er dann hingegangen?“, fragt Willert. „Er müsste doch eine Spur hinterlassen haben, der der Wolf folgen kann.“

      Golina sieht sich um. Sie befinden sich am Waldrand, nicht weit vom Flussufer entfernt. Wenn Nano auf der anderen Seite des Flusses stand, hätte er von dort aus diese Stelle gut sehen können.

      „Ich fürchte, mein Sohn hat die Wahrheit gesagt.“ Sie kann nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen schießen. „Primo ist hier gewesen, und dann ist Artrax gekommen und hat ihn entführt!“

      4. Seine Gleichheit

      Die Wirbel violetter Funken lösen sich auf und geben den Blick auf eine fremdartige Landschaft frei. Unter einem pechschwarzen Himmel erstreckt sich eine Ebene aus graugrünem Gestein, von der schwarze Obsidiansäulen aufragen, an deren Spitzen große Kristalle ein magisches Licht ausstrahlen. Primo war bereits zweimal an diesem mystischen Ort, doch er erfüllt ihn immer noch mit Ehrfurcht und Schrecken: das Ende.

      Etwas allerdings ist anders als bei seinem letzten Besuch: In der Mitte der Ebene erhebt sich jetzt eine Pyramide aus schwarzen Blöcken. Auf ihrer Spitze steht ein Thron aus violettem Stein, auf dem ein einzelner Enderman sitzt. Hunderte der schwarzen Gestalten umringen die Pyramide. Viele von ihnen halten Schilder hoch, auf denen „0=1“ zu lesen ist. Sie bilden eine Gasse für Primo und die drei Endermen, die ihn hierher gebracht haben.

      Einer seiner Entführer krächzt etwas und schubst Primo in Richtung der Pyramide. Offenbar wollen sie, dass er dort hinauf geht. Seltsam, bis jetzt hatte Primo den Eindruck, dass Seine Singularität freundlich und hilfsbereit ist und nicht viel Aufhebens um seine besondere Stellung als Anführer der Endermen macht. Doch nun sitzt er oben auf dieser hässlichen Pyramide, als wäre er Notch persönlich, und die anderen Endermen beugen ihrer Häupter vor ihm. Aber was weiß Primo schon von den Bräuchen der Endermen? Vielleicht ist das alles nur ein seltsames Ritual, so wie der Gottesdienst, den Magolus abhält.

      Gefolgt von den drei Endermen, die ihn gegen seinen Willen herbrachten, schreitet Primo zum Fuß der Pyramide und klettert die fünf Stufen hinauf. Doch gerade, als er dem obersten Enderman in die Augen blicken will, um auf jene geheimnisvolle Art in Gedanken mit ihm zu sprechen, wird er von hinten gepackt und auf die Knie gezwungen, während ein schwarzer Arm seinen Kopf herabdrückt. Primo hält es für klüger, nicht gegen diese unwürdige Behandlung zu protestieren.

      Der oberste Enderman sagt etwas, und der Druck auf Primos Kopf lässt nach. Er hebt den Blick und sieht dem Enderman in die leuchtenden Augen.

      „Eure Singularität, warum ...“, beginnt Primo, doch dann stockt er, als er ein heiseres Lachen hört.

      „Willkommen, Primo!“, sagt eine vertraute Stimme. „Ich hoffe, es gefällt dir hier, denn du wirst diesen Ort nie wieder verlassen.“

      Primos Magen fühlt sich an wie ein Eisklumpen, als ihm klar wird, wer auf dem Thron sitzt.

      „Endlich bekomme ich meine Rache!“ Artrax lacht hässlich. „So oft schon hast du meine Pläne durchkreuzt. Doch natürlich lasse ich mich von einem armseligen Sterblichen wie dir nicht aufhalten! In gewisser Weise hast du mir sogar geholfen. Durch dich habe ich erkannt, dass ich mein Ziel, die Welt perfekt zu machen, nicht allein erreichen kann. Solange der alte Trottel, der sich Seine Singularität nennen ließ, über das Ende herrschte, fehlte mir die Macht, die ich brauchte, um alle Ebenen der Existenz meinem Willen zu unterwerfen. Daher habe ich einen Aufstand angezettelt und das alte Herrschaftssystem gestürzt.“

      „Was ... was hast du mit Seiner Singularität gemacht?“, fragt Primo.

      Artrax stößt ein langes Lachen aus, das seinen ganzen schwarzen Körper erbeben lässt. „Ich muss zugeben, ihr Sterblichen habt manchmal wirklich gute Ideen. Sieh selbst!“

      Primo löst seinen Blick von den hypnotischen Augen des Endermans. Von der Spitze der Pyramide aus hat er einen guten Überblick über die Ebene. Nicht weit entfernt entdeckt er ein kleines Oval aus Schienen, auf dem eine Lore im Kreis herumfährt. In der Lore sitzt ein einzelner Enderman. Andere schwarze Gestalten umringen die Kreisbahn, als wären sie Zuschauer, oder vielleicht auch Wächter.

      Oh nein! Artrax hat dieselbe Falle, die ihm Primo und Lausius gestellt haben, verwendet, um den Anführer der Endermen zu fangen!

      Primo will die Stufen hinabspringen, um die Kreisbahn anzuhalten und Seine Singularität zu befreien. Doch die Endermen, die ihn hierher gebracht haben, packen ihn und zwingen ihn zurück auf die Knie vor Artrax‘ Thron. Einer packt Primos Kopf und dreht ihn so, dass er wieder in die glühenden Augen seines Feindes starren muss.

      „Der alte Narr wird nun das Schicksal erleiden, das du mir zugedacht hast“, höhnt Artrax. „Zum Dank für deine Hilfe lasse ich dich am Leben. Du sollst mitansehen, wie meine Untertanen über die Welt ausschwärmen, sie nach meinem Willen umgestalten und perfekt machen!“

      „Perfekt?“, fragt Primo. „Was meinst du damit? Ist dir die Welt, so wie Notch sie geschaffen hat, etwa nicht gut genug?“

      „Pah! Notch ist ein Stümper! Sieh dir doch an, wie unvollkommen die Welt ist, die er gemacht hat! Ein einziges Durcheinander aus absurd steilen Bergen, Wüsten, Wäldern, Sümpfen und Meeren, der Boden voller Löcher, bevölkert von lächerlichen Wesen, gesprenkelt mit armseligen Dörfern, deren hohlköpfige Bewohner glauben, er habe das alles für sie gemacht. Dabei seid ihr bloß Dekoration, Marionetten in einer Kulisse, um dieser Illusion von einer Welt den Anschein intelligenten Lebens zu geben. Und wozu das alles? Willst du wissen, warum er diese Welt geschaffen hat?“

      Artrax wartet nicht auf Primos Antwort, sondern fährt mit seiner Tirade fort: „Nur zum Spaß! Er hat die Welt zu seiner eigenen Unterhaltung geschaffen, und für seine Freunde, die hin und wieder hierher kommen und die ihr ‚die Fremden‘ nennt. Unsere Welt ist bloß ein Spielzeug, ein primitives, unvollkommenes Abbild der Kugelwelt, in der sie leben.“

      „Und du glaubst, du kannst unsere Welt der Kugelwelt ähnlicher machen?“, fragt Primo.

      „Ähnlicher? Oh nein! Die Kugelwelt ist ein Ort voller Missgestalt und Schmutz, noch viel schlimmer als das Durcheinander, das Notch hier angerichtet hat. Perfektion, mein ahnungsloser Freund, bedeutet Einheitlichkeit und Gleichheit. Die Unterschiede sind es, die sich der Ordnung widersetzen und ins Chaos führen. Aber damit wird bald Schluss sein. Ich werde dafür sorgen, dass alle Verschiedenheit verschwindet, bis die absolute Perfektion erreicht ist. Ich werde Berge einebnen und Täler auffüllen, Flüsse und Meere austrocknen und Lava erkalten lassen. Schluchten und Höhlen werden ebenso verschwinden wie all die lächerlichen Gewächse, die die Landschaft verunstalten. Natürlich wird es dann auch keine Dörfer mehr geben, ebenso wenig wie Kühe, Schafe, Schweine, Wölfe und all das andere Ungeziefer. Und du, mein Freund, wirst mit ansehen, wie ich mein großes Werk vollende. Als letzter Überlebender wirst du Zeuge des Untergangs deiner Art und aller anderen Lebensformen sein.“

      „Und wie willst du das alles bewerkstelligen?“, fragt Primo. „Hältst du dich etwa für noch mächtiger als Notch?“

      „Auch hierbei warst du es, der mich auf die entscheidende Idee brachte. Erinnerst du dich an das Drachenei,