Joseph Conrad

Lord Jim


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der Patna zu sehen, auf dem Schauplatz auf. Er kam eifrig und barhäuptig gelaufen, blickte nach rechts und nach links und war ganz erfüllt von seinem Auftrag. Dieser erwies sich als unausführbar, soweit die Hauptperson in Frage kam; doch näherte sich der Schreiber den andern mit umständlicher Wichtigtuerei und geriet sofort in einen heftigen Wortwechsel mit dem Mann, der seinen Arm in der Schlinge trug und große Lust zeigte, sich zu prügeln. Er lasse sich nicht herumkommandieren – fiele ihm gar nicht ein. Er lasse sich nicht mit einem Pack Lügen von einem frechen halbblütigen Federfuchser ins Bockshorn jagen. Er werde sich durch »nichts der Art« beikommen lassen, und wäre die Geschichte auch »noch so wahr«. Er heulte seinen Wunsch, sein Begehren, seinen Entschluß, zu Bett zu gehen. »Wenn Sie nicht ein gottverlassener Portugiese wären«, hörte ich ihn brüllen, »dann wüßten Sie schon lange, daß ich ins Spital gehöre.« Er hielt dem andern die Faust seines gesunden Arms unter die Nase; es entstand ein Menschenauflauf; der Mischling kam in Verwirrung, doch tat er sein Bestes, um seine Würde zu wahren, und versuchte seine Absichten zu erklären. Ich ging fort, ohne das Ende abzuwarten.

      Doch da ich zu der Zeit gerade einen Mann im Spital liegen hatte und mich am Tage vor der Eröffnung des Verfahrens nach ihm umsehen wollte, geriet ich in der Abteilung für Weiße an den kleinen Patron, der sich mit eingeschientem Arm auf dem Rücken hin und her wälzte und ganz irre schien. Zu meinem großen Erstaunen sah ich, daß auch der andere, der lange Bursche mit dem hängenden weißen Schnurrbart, hierhergefunden hatte. Ich erinnerte mich, daß ich während des Streits gesehen hatte, wie er sich halb trotzig, halb scheu davonmachte, offenbar stark bemüht, keine Angst zu zeigen. Er war anscheinend kein Fremder in dem Hafen und hatte also in seinem Schmerz den geraden Weg zu Marianis Billardzimmer und Schnapsladen neben dem Basar gefunden. Dieser unaussprechliche Lump Mariani, der den Mann gekannt und schon an einigen andern Plätzen seinen Lastern Vorschub geleistet, hatte, sozusagen, den Boden vor ihm geküßt und ihn in einem oberen Zimmer seiner famosen Bude mit einem großen Vorrat an Flaschen eingeschlossen. Es scheint, daß der Bursche in bezug auf seine persönliche Sicherheit unter einer unklaren Angstvorstellung gestanden und sich zu verbergen gewünscht hatte. Wie dem auch sei – Mariani erzählte mir lange hernach (als er eines Tages an Bord kam, um meinen Steward wegen einer Zigarrenrechnung zu mahnen), daß er, ohne Fragen zu stellen, auch noch mehr für ihn getan hätte – aus Dankbarkeit für eine Gefälligkeit heikler Natur, die der andre ihm vor vielen Jahren einmal erwiesen hatte –, soweit ich das ergründen konnte. Er schlug sich zweimal gegen seine stämmige Brust, ließ seine großen schwarz und weißen Augen rollen, in denen Tränen glänzten, und sagte: »Antonio niemals vergessen – Antonio niemals vergessen!« Worin diese unmoralische Verpflichtung eigentlich bestand, erfuhr ich nie; doch wie dem auch sei, dem Burschen wurde alle Möglichkeit geboten, hinter Schloß und Riegel zu bleiben, wohlversorgt mit einem Stuhl, einem Tisch, einer Matratze in einer Ecke und einer Masse abgefallenen Kalks auf dem Boden, in einem Zustand wahnwitziger Angst und unbehindert, seinem Mut mit den tonischen Mitteln aufzuhelfen, die Herr Mariani zu vergeben hatte. Dies dauerte bis zum Abend des dritten Tages, wo er sich nach ein paar wilden Schreien gezwungen sah, sich vor einer Legion von Tausendfüßlern durch die Flucht zu retten. Er sprengte die Tür, machte ums liebe Leben einen Satz über die wackelige kleine Treppe hinunter, landete buchstäblich auf Marianis Bauch, raffte sich auf und schoß wie ein Kaninchen in die Straßen hinaus. Die Polizei sammelte ihn früh am nächsten Morgen von einem Müllhaufen auf. Er hatte zuerst geglaubt, er sollte nun gehängt werden, und hatte für seine Freiheit wie ein Held gekämpft; doch als ich mich an seinem Bett niederließ, da war er zwei Tage lang ganz still gewesen. Sein hagerer, bronzefarbener Kopf mit dem weißen Schnurrbart lag fein und ruhig auf dem Kissen, nicht unähnlich dem Kopf eines im Krieg verbrauchten Soldaten mit einer Kinderseele; nur daß in dem flackernden Glanz seiner Augen eine gespenstische Furcht saß, wie ein unfaßbares Ungeheuer, das hinter einer Glasscheibe lauert. Er war so über die Maßen still, daß ich mich der törichten Hoffnung hingab, von seinem Gesichtspunkt aus über die berühmte Affäre einigen Aufschluß zu erhalten. Ich kann nicht sagen, warum ich eigentlich so darauf erpicht war, in den kläglichen Einzelheiten eines Falles zu wühlen, der mich schließlich nur insofern etwas anging, als ich ein Mitglied jener unscheinbaren, durch harte Arbeit und gewisse Ehrbegriffe geeinten Körperschaft von Männern war. Ihr mögt es ungesunde Neugierde nennen, wenn ihr wollt; doch habe ich das bestimmte Gefühl, daß ich etwas herauszufinden wünschte. Vielleicht hoffte ich im stillen, jenes Etwas zu finden, die geheime gute Absicht, eine mildernde Erklärung, den Schatten einer triftigen Entschuldigung. Nun sehe ich wohl, daß ich das Unmögliche erhoffte – den Geist zu bannen, der der widerspenstigste in der ganzen Schöpfung des Menschen ist, den lästigen Zweifel – der wie ein Nebel aufsteigt, sich heimlich einnistet und erkältender wirkt als die Gewißheit des Todes – den Zweifel an der unbedingten Gültigkeit des bestehenden Ehrbegriffs. Er ist die gefährlichste Klippe, an die man geraten kann, er läßt heulende Panik entstehen und stille kleine Gemeinheiten; er ist der wahre Schatten des Unheils. Glaubte ich an ein Wunder? Und warum wünschte ich es so brennend? War es um meinetwillen, daß ich den Schimmer einer Entschuldigung für diesen jungen Mann zu finden hoffte, den ich nie vorher gesehen hatte, dessen bloße Erscheinung aber über die von dem Wissen um seine Schwäche ausgelösten Gefühle hinaus persönliches Mitgefühl weckte – diese Schwäche mit Geheimnis und Grauen umgab – sie als den Fingerzeig einer bösen Macht erscheinen ließ, die auf uns alle lauert, auf uns alle, deren Jugend – zu ihrer Zeit – der seinen geglichen hatte. Ich fürchte, das war der geheime Beweggrund meines Nachforschens. Ich war zweifellos auf ein Wunder aus. Das einzige, was mir nun, nach dieser langen Zeit, noch wunderbar vorkommt, ist meine Dummheit. Ich erhoffte tatsächlich von diesem klapprigen, anrüchigen Invaliden eine Beschwörungsformel gegen den Geist des Zweifels. Ich muß in einem ziemlich trostlosen Zustand gewesen sein, denn ohne Zeitverlust, nach ein paar gleichgültigen freundlichen Sätzen, die er willig, mit matter Stimme, wie irgendein gewöhnlicher, anständiger Kranker, beantwortet hatte, sprach ich das Wort Patna aus, in eine behutsame Frage gehüllt wie in Seidenflor. Ich war behutsam aus Egoismus; ich wollte ihn nicht kopfscheu machen; ich hatte keine Sorge um ihn; ich empfand weder Zorn noch Mitleid für ihn: seine Bekehrung war mir unwichtig, seine Ehrenrettung kam für mich nicht in Frage. Er war in kleinen Schändlichkeiten alt geworden und konnte weder Widerwillen noch Mitleid mehr einflößen. Er wiederholte Patna? in fragendem Ton, schien sich kurz zu besinnen und sagte: »Ach so. Ich bin ein alter Praktikus hier draußen. Ich sah sie untergehen.« Ich war eben im Begriff, meiner Entrüstung über solch alberne Lüge Ausdruck zu geben, als er sanft hinzufügte: »Sie war voll Reptilien.«

      Dies machte mich stutzig. Was meinte er? Das unstete Schreckgespenst hinter seinen glasigen Augen schien stillzustehen und begierig in die meinen zu blicken. »Sie warfen mich während der Hundewache aus meiner Koje, um sie untergehen zu sehen«, fuhr er nachdenklich fort. Seine Stimme klang mit einmal beängstigend stark. Ich bereute meine Torheit. Die weiße Flügelhaube einer Krankenschwester war in dem Saal nirgends zu erblicken; doch in der Mitte einer langen Reihe eiserner Bettstellen setzte sich braun und hager, einen weißen Verband flott über die Stirn, das Opfer eines Schiffsunglücks in der Reede auf. Plötzlich streckte mein interessanter Kranker einen spinnendürren Arm aus und packte meine Schulter. »Nur ich konnte alles sehen. Ich bin nämlich berühmt wegen meiner Augen. Darum riefen sie mich wahrscheinlich. Kein einziger war flink genug, sie untergehen zu sehen; sie sahen nur, daß sie weg war, und dann schrien sie alle zusammen auf... – so!« Ein Wolfsgeheul ging mir durch Mark und Bein. »Oh! Sagen Sie ihm, daß er still sein soll«, wimmerte der Verunglückte. »Sie glauben mir wohl nicht«, fuhr der andere fort, unsagbaren Dünkel im Gesicht. »Ich sage Ihnen, solche Augen hat kein zweiter auf dieser ganzen Seite des Persischen Meerbusens. Sehen Sie unter das Bett.«

      Natürlich bückte ich mich sofort. Ich bin überzeugt, jeder hätte es getan. »Was können Sie sehen?« fragte er. »Nichts«, sagte ich und schämte mich fürchterlich. Er maß mich mit wildem, vernichtendem Hohn. »Das kann ich mir denken«, sagte er. »Aber wenn ich nachsehen wollte, ich könnte sehen – es gibt keine solchen Augen mehr wie meine, sage ich Ihnen.« Wieder packte er mich und zerrte mich nieder, in seinem Eifer, sich durch eine vertrauliche Mitteilung zu erleichtern. »Millionen rosa Kröten. Es gibt keine Augen wie meine. Millionen rosa Kröten. Es ist schlimmer, als ein Schiff sinken zu sehn. Ich könnte den ganzen Tag lang sinkenden Schiffen zusehen und dabei meine Pfeife rauchen. Warum gibt man mir meine Pfeife