»Haben Sie mal nach ihr gesehen?«
Der Diener schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«, fragte McFlaherty.
»Ihre Frau sagte ausdrücklich, sie wünsche nicht gestört zu werden, Sir.«
»Vielleicht hätte sie irgendetwas gebraucht.«
»Ihr Frau ließ mich wissen, sie würde klingeln, wenn sie etwas benötigte, Sir.«
»Sie wird sich gleich wohler fühlen, wenn sie sieht, was ich für sie gekauft habe.«
Da es sich für einen guten Diener nicht ziemt, an den Dienstgeber Fragen zu stellen, begnügte sich Finley mit einem fragenden Blick.
Malcolm McFlaherty blinzelte ihn vergnügt an. »In dieser kleinen Schachtel befindet sich das Platinarmband, von dem sie schon seit Wochen träumt.«
Finley nickte. Das war es, was er gern wissen wollte. Nun wusste er es. Ohne gefragt zu haben.
McFlaherty schob ihn zur Seite und lief auf die Treppe zu, die nach oben führte. Er nahm gleich drei Stufen auf einmal, um schneller im Obergeschoß zu sein. Mit großen Sätzen rannte er auf die Tür zu, die in das Schlafzimmer seiner Frau führte. Er klopfte. »Whitney?« Er wartete und lächelte in Vorfreude. »Whitney!«, rief er noch einmal. »Ich bin es, Malcolm! Darf ich eintreten?« Er bekam keine Antwort. Deshalb klopfte er noch einmal, diesmal lauter und ungestümer.
Vielleicht schlief sie. Dann wollte er sie jetzt wecken. Der Tag war zu schön um zu schlafen. Außerdem wollte er ihr das Armband geben, sich über ihre Freude freuen und anschließend noch irgendetwas mit ihr unternehmen. Irgendetwas. Er war heute von einer unbändigen Unternehmungslust beseelt, und das kam bei ihm nicht allzu oft vor. »Whitney!«, rief er erneut, nachdem er ein weiteres Mal geklopft hatte. »Whitney?«
Drinnen blieb es still. Das kam ihm zwar sonderbar vor, aber er machte sich in diesem Augenblick deswegen noch keine Sorgen. »Whitney! Ich weiß, dass du da drinnen bist! Warum antwortest du nicht?« Er griff nach der Klinke und musste feststellen das abgeschlossen war. Wieder rief er ihren Namen, jetzt schon deutlich unruhiger. Er klopfte erneut. »Fühlst du dich nicht wohl, Whitney? Was ist denn los? Warum machst du nicht auf?« Als sie immer noch nicht reagierte, ballte er die Faust und knallte sie ärgerlich gegen das Türblatt. »Whitney! Nun komm schon! Sei doch nicht albern! Was soll der Unfug? Mach endlich auf. Ich habe dir etwas mitgebracht. Du musst es dir unbedingt ansehen.«
Allmählich stiegen in ihm ernstliche Zweifel auf, ob mit seiner Frau alles in Ordnung war. Sie hatte sich in der Vergangenheit schon häufiger in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen, doch da war jedesmal ein mehr oder weniger heftiger Streit vorangegangen. Danach hatte sie allein sein wollen. Ein durchaus verständlicher Wunsch. Aber was hatte das heute zu bedeuten? Sie hatten sich schon ein paar Monate lang nicht mehr gezankt. Es war alles in Ordnung zwischen ihnen.
»Whitney!«, rief er nun beunruhigt. »Um Himmels willen, Whitney!«
Finley kam wie ein geprügelter Hund die Treppe hochgeschlichen. »Es ist doch hoffentlich nichts passiert, Sir«, sagte der Diener mit belegter Stimme.
McFlaherty wandte sich mit flackerndem Blick nach ihm um. »Brechen Sie die Tür auf, Finley!«, verlangte Malcolm McFlaherty kurzentschlossen.
Der Diener riss die Augen auf. »Sir …«
»Machen Sie schon, was ich sage!«, bellte McFlaherty gereizt.
Finley nickte. Er trat drei Schritte zurück und rannte dann gegen die Tür. Er warf sich mit der Schulter dagegen. Dem ersten Ansturm vermochte die Tür standzuhalten. Dem zweiten und dem dritten ebenfalls. Finley wurde puterrot im Gesicht. Er keuchte und warf sich ein viertes Mal gegen die Tür, die bereits einmal leise geknackt hatte. Diesmal splitterte das Holz mit einem hässlichen Geräusch. Die Tür flog auf und krachte gegen die Wand. Finley taumelte in den düsteren Raum hinein.
Malcolm McFlaherty drängte ihn zur Seite.
Seine Frau lag kerzengerade auf dem Bett. Der Lärm hätte sie selbst dann wecken müssen, wenn sie eine oder zwei Schlaftabletten eingenommen hatte. Es stimmte irgendetwas nicht mit ihr.
McFlaherty glaubte, sein Herz würde aussetzen, als er den Eindruck hatte, seine Frau würde nicht mehr atmen. Er eilte zum Bett.
Sie bot einen beunruhigenden Anblick. Ihr Gesicht war kreideweiß, soweit es nicht von der schwarzen Schlafmaske verdeckt war. Sie lag vollkommen still auf dem Rücken. Als würde sie schlafen. Aber sie atmete nicht.
McFlaherty fasste blitzschnell nach ihrem Handgelenk. Kein Puls, dachte er entsetzt. Sein Gesicht wurde fahl. Er nahm seiner Frau die Schlafmaske ab. Die Lider waren geschlossen. Sein entsetzter Blick irrte umher und fiel auf das Kuvert, das an dem Glas lehnte. ›An meinen Mann‹ stand darauf.
Ein Abschiedsbrief. Er erstarrte. Eine kalte Faust griff an sein Herz und versuchte, es zu zerdrücken. Er begriff. »Whitney!«, schrie er in wahnsinnigem Schmerz auf. Dann ließ er sich erschüttert auf das Bett fallen und umklammerte weinend seine Frau. Er hatte nicht die Kraft, sich zu beruhigen.
3
»Rufen Sie sofort Dr. Wellington an, Finley!«, keuchte McFlaherty nach einigen Minuten. »Sagen Sie ihm, dass meine Frau vermutlich eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt hat. Er soll auf dem schnellsten Weg hierherkommen.«
»Ja, Sir. Ja!«, presste der Diener benommen hervor. Er wankte aus dem Schlafzimmer und hastete so schnell er konnte die Treppe hinunter. »Es hat doch keinen Zweck mehr den Arzt zu bemühen«, murmelte er halblaut vor sich hin. »Sie ist tot … und nicht mehr zu retten!«
Doch ihr verzweifelter Mann weigerte sich, diese schreckliche Tatsache zu akzeptieren. McFlaherty wischte sich mit dem Handrücken über den zitternden Mund. Mit zitternden Fingern griff er nach dem Briefumschlag – zögernd, als hätte er Angst vor dem, was sich in dem Kuvert befand.
Ungeschickt begann er damit, den Umschlag aufzureißen. Er leckte sich mit der Zunge über die strohtrockenen Lippen. Ein Blatt Papier fiel ihm in den Schoß. Es war leer, oder zumindest beinahe leer. Die wenigen Worte, die sie für ihn niedergeschrieben hatte, konnte er mit einem Blick überfliegen.
Sie muss sehr aufgeregt gewesen sein, als sie diese Worte geschrieben hat, ging es ihm durch den Kopf. Er erkannte ihre Schrift kaum wieder. Ihre Hand musste gezittert haben. Ein heller Fleck zeigte an, dass sie während des Schreibens geweint hatte.
Er las: »Bitte verzeih mir, Malcolm. Ich wusste nicht mehr weiter.«
Das ist alles?, dachte er und knüllte das Papier verzweifelt zusammen. Was ist das für ein Brief? Was soll ich damit anfangen? Der Brief gibt mir keinen Aufschluss, warum Whitney sich das Leben genommen hat. »Warum, Whitney?«, rief er gequält. »Warum hast du das getan?«
*
Zwanzig Minuten, nachdem Finley den Hausarzt angerufen hatte, traf Dr. Wellington ein. Er war ein kleiner Mann mit schlohweißem Haar, einer stabilen Hornbrille auf der Nase und Tausenden von Sommersprossen im faltenreichen Gesicht. Während der Mediziner die Tote untersuchte, mussten McFlaherty und sein Diener vor dem Schlafzimmer warten. Nervös rauchte der Hausherr zwei Zigaretten hintereinander.
Dann öffnete sich wie in Zeitlupe die Schlafzimmertür.
Dr. Wellington brauchte kein Wort zu sagen. Sein Gesicht sprach Bände.
McFlaherty starrte den Arzt, mit dem er schon seit Jahren eng befreundet war, fassungslos an. Es schien, als würde er durch ihn hindurchsehen.
Bedauernd zuckte Wellington die Achseln. Auch ihn traf der Tod der Frau seines Freundes schmerzlich. »Es tut mir sehr leid, Malcolm.«
»Sie