solchen Augenblicken fing er meistens an, seine Wohnung aufzuräumen, Geschirr zu spülen oder Wäsche zu waschen, also Dinge zu tun, von denen er sonst immer glaubte, sie seien eigentlich völlig bedeutungslos und hielten ihn nur von den wirklich wichtigen Dingen ab.
Beim Spülen machte ihm dieser Gedanke Spaß: Gab es nicht viele Menschen, die sich nach einer Welt ohne Bedeutungen sehnten? Er glaubte, in einer solchen Welt auch das Saufen gar nicht nötig zu haben. Sein Saufen war doch der permanente Versuch, sich diesen Bedeutungen einfach zu entziehen, aus Angst davor wegzulaufen, einfach auszusteigen, weil man sie nicht mehr ertragen konnte.
Einen anderen Weg des Aussteigens als den des Alkohols hatte er noch nicht gefunden. Einfach anders zu sein, das war ein Kampf gegen Windmühlen, ein Anrennen gegen Gummiwände. Das hatte er schließlich gesehen, als er den Polizeidienst verlassen hatte. Die Kollegen hatten seinen Entschluss nicht verstehen können; zu Beginn hatte er sich selber in der Rolle des Unbeugsamen gefühlt, dessen, der wegen seiner Überzeugungen keine Konzessionen macht. Lange hatte das nicht gedauert. Bei der Polizei würde man sich schon nach nun neun Monaten kaum noch an ihn erinnern. Höchstens noch im Scherz: Hast du diesen Verrückten auch noch gekannt... Und dann dieser Job im Anwaltsbüro: Börner glaubte, noch nie so stark gegen seine Überzeugungen gehandelt zu haben. Aber irgendwo musste man sein Geld verdienen, und was gelten da Überzeugungen?
Verrückt.... Börner legte das Spültuch weg, ging in den Korridor, nahm seine unachtsam in die Jackentasche gestopften Aufzeichnungen vom vergangenen Tag und legte sie auf den Küchentisch. Dieser Schwulenmörder war doch auch schon des öfteren als Verrückter bezeichnet worden. Noch immer spürte Börner eine Abneigung, sich weiter mit dieser Sache zu beschäftigen. Was war eigentlich das Motiv des Täters? Dass er verrückt war sagte alles und gar nichts.
Börner sah, dass auch Heinz Behrend am gestrigen Tag etwas auf seine Liste geschrieben hatte. Zuvor hatte er bemerkt, dass seine eigene Schrift mit dem steigenden Alkoholkonsum immer unleserlicher geworden war, und wieder hatte er zunächst den ganzen Kram wegwerfen wollen. Die Schrift des Bekannten machte ihn neugierig. Schon nach wenigen Augenblicken war ihm der Stand seiner Untersuchungen wieder präsent.
Und so ganz dumm erschien ihm alles das nun auch wieder nicht.
Dann musste er lachen: Fiel nicht auch er schon wieder auf irgendwelche Bedeutungen herein? Vielleicht war die ganze Beschäftigung mit dieser Sache völlig sinnlos. Aber selbst wenn es sinnlos war, konnte man es doch als interessantes Spiel ansehen, dachte er.
Auf der Fete waren 20 bis 25 Personen anwesend gewesen. Börner überflog seine Aufzeichnungen: Drei der anwesenden Personen waren ermordet worden, an zehn weitere hatte sich Heinz Behrend erinnert; außerdem hatte ein Bekannter von Heinz drei weitere Namen genannt. Es blieben also nicht viele Unbekannte zurück. Möglicherweise..... Die Idee, dass der Name des Mörders auf seinem Zettel stehen könne, faszinierte Börner einen Augenblick. Dann wieder kam ihm die Idee absurd vor: So einfach konnte es nicht sein. Schließlich suchte die Polizei schon seit drei Wochen nach dem Täter. Aber die Polizei wusste sehr offensichtlich nichts von der Fete. Selbst wenn diese Fete gar nichts mit den Morden zu tun haben sollte, es war seine einzige Gewinnchance.
Außerdem waren die Morde in verschiedenen Städten verübt worden. Börner wusste, dass die Koordination der einzelnen Polizeibehörden sehr schwierig war. Und die Sonderkommission in Dortmund war nach den Zeitungsberichten erst vor einer Woche eingerichtet worden. Und die musste sich auch erst mal durch den Wust von Berichten und Vernehmungsprotokollen wühlen. Seine Chancen waren gar nicht so schlecht.
Immer wieder überflog er die Liste mit den Namen, versuchte irgendwelche Auffälligkeiten oder Gemeinsamkeiten bei den Opfern zu entdecken, was deren Berufe, deren Wohnorte usw. betraf. Aber das brachte nichts: Es waren eben Leute, die schwul waren und die dieser Bennie auf seine Geburtstagsfete eingeladen hatte. Und drei dieser Leute waren ermordet worden. Dabei spielten Dinge wie Beruf und Wohnort wohl keine entscheidende Rolle, sondern die Tatsache, dass Bennie diese Leute gekannt hatte. Und zwar wohl fast alle aus der
schwulen Sub.
Aber wer sagte eigentlich, dass Bennie all die Leute auf seiner Fete gekannt hatte? Auch Heinz Behrend hatte sich gestern Abend an eine Person erinnert, die er nicht gekannt hatte. Hastig, ohne zu wissen warum, überflog Börner die Liste noch einmal. Da war es: Ein gewisser Jochen Winger, der jetzt in Berlin wohnte, hatte seinen Freund mitgebracht, den auch die anderen offensichtlich nicht gekannt hatten. Aber was besagte das schon? Eigentlich gar nichts. Man wird auf eine Fete eingeladen, und wenn man einen Freund hat, bringt man den natürlich mit, auch wenn der den Gastgeber gar nicht kennt. Er selber war ja auch nur als Freund von Heinz Behrend an jenem Abend anwesend gewesen, und weder Bennie noch einer der anderen Anwesenden hatten ihn gekannt.
Börner seufzte resigniert: Er kam so nicht weiter. Er musste seine Voraussetzung erhärten, dass der Mörder an jenem Abend auf der Fete war; sonst konnte er sich die Arbeit ersparen.
Seit wann sind denn Spiele Arbeit, sagte er sich dann. Du wolltest der ganzen Sache nicht zuviel Bedeutung beimessen; du musst es nun wirklich als Spiel sehen.
Also noch einmal: Was spricht dafür, dass der Mörder auf der Fete war? Die Tatsache, dass drei der Opfer auf jeden Fall da waren. Und dein Wunsch, dass es so war. Das ist zwar nicht gerade überzeugend aber immerhin etwas. Waren möglicherweise die anderen zwei Opfer ebenfalls auf der Fete gewesen? Schließlich waren da noch einige Anwesende namenlos. Wieder wurde Börner unruhig: Wenn diese zwei Leute ebenfalls dort gewesen waren, dann musste seine Voraussetzung richtig sein, dann hatten die Morde etwas mit dieser Fete zu tun. Aufgeregt wühlte Börner in den Zeitungsartikeln und schrieb die dort erwähnten Namen der anderen zwei Opfer heraus. In beiden Fällen waren wiederum nur der Vorname und der Anfangsbuchstabe des Nachnamens erwähnt. Außerdem notierte er die Berufe und den Wohnort.
Er musste Heinz noch einmal anrufen, er musste ihn fragen, ob er diese Leute kannte. Er wusste sofort, dass er genau das nicht tun würde. Hatte er das nicht auch gestern Abend schon gefragt? Er wusste es nicht mehr. Auch Spiele musste man ernster nehmen.
Aber wahrscheinlich war es ohnehin sinnlos, Heinz nach diesen Namen zu fragen. Wenn noch jemand von den Opfern auf dieser Fete gewesen wäre, hätte Heinz ihm das doch gesagt. Andererseits hatte Heinz gesagt, dass auch er nicht alle Leute auf der Fete gekannt hatte.
Es musste immer noch rund fünf bis acht Leute geben, die auf der Fete gewesen waren und die er noch nicht in Erfahrung gebracht hatte. Börner wusste, dass es eine Leichtigkeit sein musste, die restlichen Namen herauszubekommen. Man musste nur alle bisher bekannten Personen befragen. Irgendeiner würde sich sogar noch an ihn, Richard Börner, als einen ungefähr 1,8o großen, dunkelhaarigen Typen mit Schnäuzer erinnern, der meistens alleine da gesessen hatte. Spätestens wenn jemand Heinz Behrend fragen würde, würde der Fragende auch seinen Namen herausbekommen. Vielleicht wäre es ohnehin viel besser, gleich nach den unbekannten Personen zu fragen, nach denen, die irgendjemand mitgebracht hatte. Es war im Grunde genommen ein Kinderspiel, die restlichen Personen auf der Fete noch zu bestimmen.
Börner schaute auf die Uhr: Es war kurz nach 18 Uhr. Er ging zum Telefon und wählte die Nummer von Heinz Behrend, die immer noch aufgeschlagen neben dem Telefon lag. Noch bevor der Ruf durchging, legte er den Hörer wieder auf. Sollte er sich bei Heinz für sein gestriges Verhalten entschuldigen? Er hatte ihn doch behandelt wie ein Stück Scheiße.
Er wählte die Nummer noch einmal. Als er den Hörer nach rund drei Minuten wieder auflegte, wusste er, dass Heinz ihn am vergangenen Abend doch ganz gut gefunden hatte, und zum anderen hatte er eine Verabredung um 20 Uhr 30 im GO-IN.
Heinz war zunächst sehr überrascht gewesen über Börners Anruf. Als Börner noch einmal auf die Fete in Langendreer zu sprechen gekommen war, war Heinz' Stimme ärgerlich geworden. Er kannte die Namen der anderen drei Opfer nicht. Außerdem hätte Börner ihn das gestern schon einmal gefragt. Auch wusste er nicht, wer an jenem Abend noch einen Freund mitgebracht hatte. Und dann war plötzlich diese peinliche Stille eingetreten, die erst geendet hatte, als Börner seine Entschuldigung wegen seines Verhaltens am vergangenen Abend vorgebracht hatte. Heinz hatte plötzlich angefangen zu lachen.
"Weißt du eigentlich, dass ich