Stefan Zweig

Die Welt von Gestern


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in der Kunst sich vorbereitete, etwas, das leidenschaftlicher, problematischer, versucherischer war, als unsere Eltern und unsere Umwelt befriedigt hatte, war das eigentliche Erlebnis unserer Jugendjahre. Aber fasziniert von diesem einen Ausschnitt des Lebens, merkten wir nicht, daß diese Verwandlungen im ästhetischen Raume nur Ausschwingungen und Vorboten viel weiterreichender Veränderungen waren, welche die Welt unserer Väter, die Welt der Sicherheit erschüttern und schließlich vernichten sollten. Eine merkwürdige Umschichtung begann sich in unserem alten, schläfrigen Österreich vorzubereiten. Die Massen, die stillschweigend und gefügig der liberalen Bürgerschaft durch Jahrzehnte die Herrschaft gelassen, wurden plötzlich unruhig, organisierten sich und verlangten ihr eigenes Recht. Gerade in dem letzten Jahrzehnt brach die Politik mit scharfen, jähen Windstößen in die Windstille des behaglichen Lebens. Das neue Jahrhundert wollte eine neue Ordnung, eine neue Zeit.

      Die erste dieser großen Massenbewegungen in Österreich war die sozialistische. Bisher war bei uns das fälschlich so benannte ›allgemeine‹ Wahlrecht nur Begüterten zugeteilt gewesen, die eine bestimmte Steuerleistung aufzuweisen hatten. Die von dieser Klasse gewählten Advokaten und Landwirte aber glaubten ehrlich und redlich, daß sie im Parlament die Sprecher und Vertreter des ›Volkes‹ wären. Sie waren sehr stolz darauf, gebildete Leute, womöglich akademisch gebildet zu sein, sie hielten auf Würde, Anstand und gute Diktion; in den Sitzungen des Parlaments ging es darum zu wie bei dem Diskussionsabend eines vornehmen Klubs. Dank ihrem liberalistischen Glauben an eine durch Toleranz und Vernunft unfehlbar fortschrittliche Welt meinten diese bürgerlichen Demokraten ehrlich, mit kleinen Konzessionen und allmählichen Verbesserungen das Wohl aller Untertanen auf die beste Weise zu fördern. Aber sie hatten vollkommen vergessen, daß sie nur die fünfzigtausend oder hunderttausend Wohlsituierten in den großen Städten repräsentierten und nicht die Hunderttausende und Millionen des ganzen Landes. Inzwischen hatte die Maschine ihr Werk getan und um die Industrie die früher verstreute Arbeiterschaft gesammelt; unter der Führung eines eminenten Mannes, Dr. Victor Adler, bildete sich in Österreich eine sozialistische Partei, um die Ansprüche des Proletariats durchzusetzen, das ein wirklich allgemeines und für jeden gleiches Wahlrecht forderte; kaum daß es gewährt oder vielmehr erzwungen war, wurde man gewahr, eine wie dünne, wenn auch hochwertige Schicht der Liberalismus gewesen. Mit ihm verschwand aus dem öffentlichen politischen Leben die Konzilianz, Interessen stießen jetzt hart gegen die Interessen, es begann der Kampf.

      Ich erinnere mich noch aus meiner frühesten Kindheit an den Tag, der die entscheidende Wendung im Aufstieg der sozialistischen Partei in Österreich brachte; die Arbeiter hatten, um zum erstenmal ihre Macht und Masse optisch zu zeigen, die Parole ausgegeben, den Ersten Mai als Feiertag des arbeitenden Volkes zu erklären, und beschlossen, in geschlossenem Zuge in den Prater zu ziehen, und zwar in die Hauptallee, wo sonst an diesem Tage nur die Wagen und Equipagen der Aristokratie und der reichen Bürgerschaft in der schönen, breiten Kastanienallee ihren Korso hielten. Entsetzen lähmte bei dieser Ankündigung die gute liberale Bürgerschaft. Sozialisten, das Wort hatte damals in Deutschland und Österreich etwas vom blutigen und terroristischen Beigeschmack wie vordem das Wort Jacobiner und später das Wort Bolschewisten; man konnte es im ersten Augenblick gar nicht für möglich halten, daß diese rote Rotte aus der Vorstadt ihren Marsch durchführen werde, ohne Häuser anzuzünden, Läden zu plündern und alle denkbaren Gewalttaten zu begehen. Eine Art Panik griff um sich. Die Polizei der ganzen Stadt und Umgebung wurde in der Praterstraße postiert, das Militär schußbereit in Reserve gestellt. Keine Equipage, kein Fiaker wagte sich in die Nähe des Praters, die Kaufleute ließen die eisernen Rollläden vor den Geschäften herunter, und ich erinnere mich, daß die Eltern uns Kindern streng verboten, an diesem Schreckenstage, der Wien in Flammen sehen konnte, die Straße zu betreten. Aber nichts geschah. Die Arbeiter marschierten mit ihren Frauen und Kindern in geschlossenen Viererreihen und mit vorbildlicher Disziplin in den Prater, jeder die rote Nelke, das Parteizeichen, im Knopfloch. Sie sangen im Marschieren die Internationale, aber die Kinder fielen dann im schönen Grün der zum erstenmal betretenen ›Nobelallee‹ in ihre sorglosen Schullieder. Es wurde niemand beschimpft, niemand geschlagen, keine Fäuste geballt; kameradschaftlich lachten die Polizisten, die Soldaten ihnen zu. Dank dieser tadellosen Haltung war es dem Bürgertum dann nicht mehr lange möglich, die Arbeiterschaft als eine ›revolutionäre Rotte‹ zu brandmarken, es kam – wie immer im alten und weisen Österreich – zu gegenseitigen Konzessionen; noch war das heutige System der Niederknüppelung und Ausrottung nicht erfunden, noch das (freilich schon verblassende) Ideal der Humanität selbst bei den Parteiführern lebendig.

      Kaum tauchte die rote Nelke als Parteizeichen auf, so erschien plötzlich eine andere Blume im Knopfloch, die weiße Nelke, das Zugehörigkeitszeichen der christlich-sozialen Partei (ist es nicht rührend, daß man damals noch Blumen als Parteizeichen wählte statt Stulpenstiefeln, Dolchen und Totenköpfen?). Die christlich-soziale als durchaus kleinbürgerliche Partei war eigentlich nur die organische Gegenbewegung der proletarischen und im Grunde ebenso wie sie ein Produkt des Sieges der Maschine über die Hand. Denn, indem die Maschine durch die Zusammenfassung großer Massen in den Fabriken den Arbeitern Macht und sozialen Aufstieg zuteilte, bedrohte sie gleichzeitig das kleine Handwerk. Die großen Warenhäuser, die Massenproduktionen wurden für den Mittelstand und für die kleinen Meister mit ihren Handbetrieben zum Ruin. Dieser Unzufriedenheit und Sorge bemächtigte sich ein geschickter und populärer Führer, Dr. Karl Lueger, und riß mit dem Schlagwort: »Dem kleinen Manne muß geholfen werden« das ganze Kleinbürgertum und den verärgerten Mittelstand mit sich, dessen Neid gegen die Wohlhabenden bedeutend geringer war als die Furcht, aus seiner Bürgerlichkeit in das Proletariat abzusinken. Es war genau die gleiche verängstigte Schicht, wie sie später Adolf Hitler als erste breite Masse um sich gesammelt hat, und Karl Lueger ist auch in einem anderen Sinne sein Vorbild gewesen, indem er ihn die Handlichkeit der antisemitischen Parole lehrte, die den unzufriedenen Kleinbürgerkreisen einen Gegner optisch zeigte und anderseits zugleich den Haß von den Großgrundbesitzern und dem feudalen Reichtum unmerklich ablenkte. Aber die ganze Vulgarisierung und Brutalisierung der heutigen Politik, der grauenhafte Rückfall unseres Jahrhunderts zeigt sich gerade im Vergleich der beiden Gestalten. Karl Lueger, mit seinem weichen, blonden Vollbart eine imposante Erscheinung – der ›schöne Karl‹ im Wiener Volksmund genannt –, hatte akademische Bildung und war nicht vergebens in einem Zeitalter, das geistige Kultur über alles stellte, zur Schule gegangen. Er konnte populär sprechen, war vehement und witzig, aber selbst in den heftigsten Reden – oder solchen, die man zu jener Zeit als heftig empfand – überschritt er nie den Anstand, und seinen Streicher, einen gewissen Mechaniker Schneider, der mit Ritualmordmärchen und ähnlichen Vulgaritäten operierte, hielt er sorgfältig im Zaum. Gegen seine Gegner bewahrte er – unanfechtbar und bescheiden in seinem Privatleben – immer eine gewisse Noblesse, und sein offizieller Antisemitismus hat ihn nie gehindert, seinen früheren jüdischen Freunden wohlgesinnt und gefällig zu bleiben. Als seine Bewegung schließlich den Wiener Gemeinderat eroberte und er – nach zweimaliger Verweigerung der Sanktionierung durch den Kaiser Franz Joseph, der die antisemitische Tendenz verabscheute – zum Bürgermeister ernannt wurde, blieb seine Stadtverwaltung tadellos gerecht und sogar vorbildlich demokratisch; die Juden, die vor diesem Triumph der antisemitischen Partei gezittert hatten, lebten ebenso gleichberechtigt und angesehen weiter. Noch war nicht das Haßgift und der Wille zu gegenseitiger restloser Vernichtung in den Blutkreislauf der Zeit gedrungen.

      Aber schon tauchte eine dritte Blume auf, die blaue Kornblume, Bismarcks Lieblingsblume und Wahrzeichen der deutschnationalen Partei, die – man verstand es nur damals nicht – eine bewußt revolutionäre war, die mit brutaler Stoßkraft auf die Zerstörung der österreichischen Monarchie zugunsten eines – Hitler vorgeträumten – Großdeutschlands unter preußischer und protestantischer Führung hinarbeitete. Während die christlich-soziale Partei in Wien und auf dem Lande, die sozialistische in den Industriezentren verankert war, hatte die deutschnationale ihre Anhänger fast einzig in den böhmischen und alpenländischen Randgebieten; zahlenmäßig schwach, ersetzte sie ihre Unbeträchtlichkeit durch wilde Aggressivität und maßlose Brutalität. Ihre paar Abgeordneten wurden der Terror und (im alten Sinn) die Schande des österreichischen Parlaments; in ihren Ideen, in ihrer Technik hat Hitler, gleichfalls ein Randösterreicher, seinen Ursprung. Von Georg Schönerer hat er den Ruf ›Los von Rom!‹ übernommen, dem damals Tausende Deutschnationale deutsch gehorsam folgten, um den Kaiser und den