Migräneanfällen und Verdauungsstörungen, die ganze Zeit kerngesund. Zudem neigte er zur Selbsthilfe.
Von einer gegenseitigen Abneigung ist nichts bekannt, aber sie ist angesichts der langjährigen beruflichen Frustration gut vorstellbar. Für den ehrgeizigen Mediziner kann es kaum eine Lebenserfüllung gewesen sein, die besten Jahre fast tatenlos verstreichen zu lassen. Vom ersten Tag seiner Anstellung bis zum Zeitpunkt des Todes seines Dienstherrn waren immerhin 27 Jahre vergangen. Damit soll hier nicht behauptet werden, dass er Leopold aus lauter Frust den Garaus hätte machen wollen. Eine gute Geschichte wäre es allemal: ein Arzt, der nach 27 Dienstjahren zum ersten Mal wirklich gebraucht wird, verweigert seinem ungeliebten Chef die notwendige Medizin und rächt sich durch eine letale Behandlung! Denkbar ist eine derartige Reaktion auf alle Fälle, nur: welche Strafe hätte der Mann nach einer solchen Tat zu erwarten gehabt? Mit Königs- und Kaisermördern wurde damals nicht gerade zimperlich verfahren! Und ebenso wenig mit Versagern.
Und doch war Lagusius’ Versagen offenbar. Seltsamerweise wurde er dafür nicht bestraft, sondern ganz im Gegenteil fürstlich belohnt, indem er zum Leibarzt des neuen Kaisers ernannt wurde. Die Schlussfolgerung aus diesem Paradox ist, dass seine Leistung vom neuen Chef nicht im Geringsten als Versagen bewertet wurde. Vielmehr muss man vermuten, dass Franz sie als eine lobenswerte Tat betrachtet hat. Wenn dies stimmt, wird Lagusius diese Reaktion natürlich im Voraus schon gekannt haben. Das wirft die Frage nach den Kontakten zwischen Arzt und Kronprinz auf. Die Quellen verraten darüber nichts, aber es gilt zu bedenken, dass die beiden bereits Jahrzehnte in demselben Haushalt gelebt hatten. Dass der Vater den Arzt nicht leiden konnte, bedeutet noch lange nicht, dass auch der Sohn eine Abneigung gegen ihn empfunden hätte. Womöglich standen die beiden in einer viel engeren Beziehung, als die Geschichtsschreibung uns verraten hat.
Wir werden auf dieses Thema später noch zurückkommen müssen. Für den Augenblick genügt die Feststellung, dass Lagusius unmöglich auf eigene Faust gehandelt haben kann. Er muss demzufolge im Auftrag anderer oder in Absprache mit anderen gehandelt haben und es ist unsere Aufgabe, herauszufinden, wer diese anderen waren.
Die gleiche Feststellung gilt übrigens auch für Dr. Closset. Ein persönliches Motiv für ein Attentat auf einen der begnadetsten Musiker aller Zeiten ist bei aller Phantasie der Welt nicht auszudenken. Mozart schuldete Closset nichts, war ihm nie in die Quere gekommen und bedeutete keine Gefahr für dessen Leben oder Beruf. Angeblich waren die beiden Männer sogar mit einander befreundet. Höchstens könnte man sich vorstellen, dass Closset als stiller Kämpfer der Jesuiten einen Gegner seines Ordens umbringen wollte oder musste. Immerhin glaubt der Autor Hartmut Perl zu wissen, dass der Komponist ein Todfeind der Kirche und insbesondere des Jesuitenordens gewesen sei, wofür es jedoch nach meinen Erkenntnissen nicht den geringsten Hinweis gibt. Mozart selbst war niemandes Feind. Zweifellos gab es Leute, die ihm feindlich gesonnen waren, aber dazu gehörten bestimmt nicht die Jesuiten. Zum Zeitpunkt seines Todes hatten diese illegalen Ordensbrüder ganz andere Sorgen. Es ist abwegig, ihnen zu unterstellen, sie hätten etwas gegen einen Tonkünstler, der dem Klerus unsterbliche Kirchenmusik geschenkt hatte.
Das Gleiche gilt für die Freimaurer, die bereits um das Überleben ihres Geheimbundes bangen mussten und in der Person Mozarts einen ihrer tatkräftigsten Vorkämpfer besaßen. Beide Gruppierungen sind weit über den Verdacht erhaben, dem Salzburger Meister auch nur irgendetwas Böses gewollt zu haben.
Wenn wir die wirklichen Drahtzieher hinter den Ärzten Closset und Lagusius herausfinden wollen, ist im nächsten Schritt festzustellen, wer Macht über sie besaß. Denn es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Mediziner aus religiöser Überzeugung oder wegen einer versprochenen Geldsumme gegen ihr Berufsethos verstoßen hätten. Ganz klar, für diese Männer galt nur Gehorsam als einzig denkbares Motiv für absichtliches Versagen. Und weil uns nur das Denken des Denkbaren zur Aufklärung historischer Kriminalfälle bleibt, wollen wir uns an diese Denkbarkeit halten. Sie allein soll uns zum Leitfaden dienen, unser überprüfbarer Kompass sein.
Kapitel 3 • Der Thronfolger
Die Denkbarkeit als Leitlinie hört sich einfach an und doch lässt sich ein Motiv für die Ermordung Mozarts außerordentlich schwer denken. Auf den ersten Blick ist es absolut nicht ersichtlich, welche Vorteile jemandem aus dem Tod eines Musikers erstehen könnten und ehrlich gesagt: auch nicht auf den zweiten Blick. Die Kenntnis der Hintergründe ist in dieser Hinsicht unerlässlich.
Anders steht es im Falle Leopolds. Für ein Attentat auf einen mit absoluter Macht ausgestatteten Monarchen fällt einem sofort eine ganze Reihe von Motiven ein. Wer an exponierter Stelle der Gesellschaft steht, lebt nun mal gefährlich. Das war damals so und ist heute so. Feinde gibt es für die Hochstehenden immer und jeder Herrscher muss ständig damit rechnen, dass einer dieser Feinde die Besinnung verliert und in einem unbewachten Augenblick zuschlägt. Außerdem droht stets das wohlbekannte Phänomen einer gewaltsamen Machtübernahme, sprich: eines Staatsstreichs.
Unsere erste Frage muss demnach lauten, ob der Thronfolger seine Hand im Spiel gehabt haben könnte. Bis jetzt hat man sie noch nicht gestellt, denn bereits die Frage verstößt gegen alle guten Sitten. Der Gedanke, dass ein habsburgischer Prinz den eigenen Vater umgebracht haben könnte um an die Macht zu gelangen, ist in hohem Maße tabuisiert. In der Tat gibt es auch wenig Anhaltspunkte für eine derartige Annahme. Damit soll nicht gesagt sein, dass Franz bedingungslos den höchsten Maßstäben der Ethik und Moral verpflichtet gewesen wäre. Vielmehr scheint er uns für eine gewaltsame Eroberung des Kaiserthrons nicht machthungrig genug gewesen zu sein. Aus den Beschreibungen seiner Person geht der mangelnde Ehrgeiz eindeutig hervor. Vor allem in den ersten Jahren seiner Regierung machte der junge Herrscher einen unsicheren Eindruck, als empfinde er es als Missgeschick, so früh schon an die Macht gelangt zu sein.
Ganz bezeichend für den fehlenden Ehrgeiz ist der Bericht vom Historiker Eduard Vehse im 9. Band seiner Geschichte des Östereichischen Hofs und Adels (1850er Jahre):
Bei dem plötzlichen Tode seines Vaters weigerte Franz sich aus Geschäftsscheu Anfangs entschieden, die Nachfolge anzutreten und erst am zweiten Tage gelang es seinem Beichtvater, dem nachmaligen Erzbischof von Wien, Grafen von Hohenwarth, seinen hartnäckigen Eigensinn mit der Vorstellung zu brechen: „dass die Regierung ihm von Gott auferlegt sei und dass er in seinen Gewissen ruhig sein könne, wenn es in allen Dingen der Majorität in seinem Ministerrathe folge“.
Es spricht von selbst, dass dieser Graf Sigismund Anton von Hohenrat, der von 1792 bis 1803 auch Militärbischof von Österreich war, zu den Mitwissern am Attentat auf Leopold II. Gezählt werden muss.
Dazu sollte man bedenken, dass Franz als Heranwachsender kaum in die Lage versetzt worden war, seinen Charakter zu festigen. Weil schon bei seiner Geburt feststand, dass er einst den Kaiserthron erben würde, war seine Erziehung Chefsache. Geboren wurde er 1768 in Florenz als zweites Kind und ältester Sohn von Leopold und Maria Luisa. Das großherzogliche Paar gehörte zu den fürsorglichsten Eltern der Welt und nahm die Erziehung der Kinder überaus ernst. Großmutter Maria Theresia, Kaiserin, und Onkel Joseph, Kaiser, erhoben jedoch ebenfalls Ansprüche auf die Erziehung des „Kaiserlehrlings“. Die dynastiebewusste Maria Theresia und ihr Sohn Joseph, der nach dem Verlust seiner einzigen Tochter kinderlos geblieben war, stürzten sich mit unverhohlenem Eifer auf die Erziehung des nicht sonderlich alerten Kindes. Wandruszka, der Biograph des Vaters Leopold, spricht sogar von Erziehungsfanatismus.
Wenn die drei oder vier Erziehungsberechtigten wenigstens gleicher Meinung gewesen wären, wäre der Schaden sicher begrenzt geblieben. Die gesellschaftlichen Vorstellungen von Großmutter, Onkel und Eltern wichen aber stark von einander ab. Auch die psychologischen Methoden, mit denen auf die Kinderseele eingewirkt wurde, waren nicht einheitlich. Seltsamerweise scheinen sich bei Franz die Auffassungen jener Bezugsperson, die am weitesten von ihm entfernt war, am meisten durchgesetzt zu haben. Sein späterer Regierungsstil zeigt eine auffallende Verwandtschaft mit dem leutseligen und doch durch und durch autoritären Stil der Großmutter. Mehr noch: sein ganzes späteres Bestreben schien darin zu bestehen, die Uhr zurückzudrehen und die Epoche Maria Theresias wieder auferstehen zu lassen. Für die Reformen des Onkels hatte Franz nichts übrig, noch viel weniger