dem Boden knieten, hatten sich nicht gerührt. Signora Teresa öffnete die Augen ein wenig, als hätte er sie aus einem sehr tiefen, traumlosen Schlaf geweckt. Bevor er noch Zeit fand, in seiner überlegten Art ein tröstliches Wort zu sagen, sprang sie auf, während die Kinder noch, eines an jeder Seite, sich an sie klammerten, schnappte nach Luft und stieß einen heiseren Schrei aus.
Gleichzeitig wurde ein scharfer Schlag gegen die Außenseite des Fensterladens geführt. Sie konnten plötzlich das Schnauben eines Pferdes hören, das Scharren unruhiger Hufe auf dem schmalen Pflasterweg vor dem Hause; eine Stiefelspitze stieß nochmals gegen den Fensterladen, ein Sporn klirrte bei jedem Stoß, und eine aufgeregte Stimme schrie: »Holla, holla, ihr da drinnen!«
4
Den ganzen Morgen über hatte Nostromo von weitem ein Auge auf die Casa Viola gehabt, sogar während des heißesten Getümmels um das Zollamt. »Wenn ich dort drüben Rauch aufsteigen sehe«, hatte er sich gesagt, »dann sind sie verloren.« – Sobald die Menge sich zur Flucht gewandt, hatte er sich mit einer kleinen Abteilung italienischer Arbeiter in Richtung auf das Haus aufgemacht, das ja wirklich auf dem kürzesten Wege nach der Stadt lag. Der versprengte Haufe, dem er auf den Fersen war, schien sich hinter dem Haus nochmals festsetzen zu wollen; eine Salve, die seine Leute hinter einer Aloehecke hervor abgaben, brachte das Gesindel auf den Trab: in einer Lücke, die in die Hecke für die Zweiglinie der Bahn nach dem Hafen geschlagen war, tauchte Nostromo auf seiner silbergrauen Stute auf. Er brüllte, sandte den Fliehenden einen Schuß aus seinem Revolver nach und sprengte an das Fenster des Cafes hin. Er hatte es im Gefühl, daß der alte Giorgio in diesem Teil des Hauses Zuflucht gesucht haben würde.
Seine Stimme hatte der Familie im Hause atemlos hastig geklungen. »Hallo! Vecchio! Oh, Vecchio! Ist alles wohl bei euch da drin?«
»Du siehst...«, murmelte der alte Viola seiner Frau zu.
Die Signora Teresa war nun still. Draußen lachte Nostromo.
»Ich kann hören, daß die Padrona nicht tot ist.«
»Du hast dein Bestes getan, um mich durch die Angst umzubringen«, rief Signora TereSa. Sie wollte noch mehr sagen, doch die Stimme brach ihr.
Linda erhob kurz die Augen zu ihr, der alte Giorgio aber rief entschuldigend:
»Sie ist ein bißchen aufgeregt.«
Von draußen brüllte Nostromo wieder lachend zurück:
»Mich kann sie nicht aufregen!«
Signora Teresa fand ihre Stimme wieder:
»Es ist so, wie ich sage. Du hast kein Herz – und du hast kein Gewissen, Giambattista...«
Sie hörte, wie er draußen sein Pferd herumwarf; die Leute, die er anführte, schwatzten aufgeregt, italienisch und spanisch, und machten einander Mut zur Verfolgung. Er setzte sich an ihre Spitze mit dem Ruf: »Avanti!«
»Er hat sich nicht lange mit uns aufgehalten. Hier ist kein Lob von Fremden zu verdienen«, meinte Signora Teresa tragisch. »Avanti! Jawohl! Das ist alles, worum er sich kümmert. Irgendwo der erste zu sein – irgendwie – der erste bei diesen Engländern. Sie werden ihn jedermann zeigen: ›Das ist unser Nostromo!‹« Sie lachte verächtlich. »Was für ein Name! Was ist das? Nostromo? Er würde von ihnen einen Namen annehmen, der gar kein Wort mehr ist.«
Inzwischen hatte Giorgio mit ruhigen Bewegungen die Türe freigemacht; das grelle Licht fiel auf Signora Teresa, eine malerische Frau, die in aufgeregter Mütterlichkeit ihre beiden Töchter umschlungen hielt. Hinter ihr leuchtete die Wand blendend weiß, und die grellen Farben der Garibaldi-Lithographie verblaßten im Sonnenschein.
Der alte Viola an der Türe reckte den Arm empor, als wollte er all seine einander jagenden Gedanken dem Bild seines alten Führers an der Wand befehlen. Sogar wenn er für die »Signori Inglesi« kochte – für die Ingenieure (er war ein ausgezeichneter Koch, obwohl die Küche sehr finster war), selbst dann fühlte er sich sozusagen unter dem Auge des Großen, der in einem glorreichen Kampf sein Führer gewesen war, in einem Kampfe, der unter den Mauern von Gaeta den Todesstoß für die Tyrannei bedeutet hätte, wäre nicht die verfluchte piemontesische Rasse von Königen und Ministern gewesen. Wenn mitunter eine Bratpfanne während einer heiklen Operation mit ein paar Zwiebelschnitzeln Feuer fing und man den alten Mann rücklings in einer Wolke ätzenden Rauchs aus der Türe kommen sah, fluchend und hustend, dann konnte man den Namen Cavours, des an Könige und Tyrannen verkauften Erzschurken, gemengt hören mit Verwünschungen gegen die Chinesenmädchen, das Kochen im allgemeinen und das viehische Land, in dem er aus reiner Liebe zur Freiheit, die jener Schurke erdrosselt hatte, zu leben gezwungen war.
Dann kam wohl Signora Teresa, ganz in Schwarz, aus einer ändern Türe, näherte sich würdig besorgt, neigte ihr schönes, dunkelhaariges Haupt, öffnete die Arme und klagte in tiefen Tönen:
»Giorgio! Du unbesonnener Mann! Misericordia divina! So bloß in der Sonne! Er wird sich den Tod holen!«
Unter ihren Füßen stoben die Hennen mit langen Schritten in alle Richtungen auseinander; wenn gerade ein paar Ingenieure von der Strecke in Sulaco waren, dann erschien wohl das eine oder andere junge Engländergesicht in der Türe des Billardzimmers, das am einen Ende des Hauses lag. Am anderen Ende aber, im Café, hütete sich Luis, der Mulatte, wohlweislich, sich zu zeigen; die Indianerrnädchen, mit Haaren wie schwarze Mähnen und mit einem Hemd und kurzem Rock als einziger Bekleidung, gafften mit großen Augen unter den Ponyfransen hervor, die ihnen in die Stirne fielen; das laute Brutzeln des Fettes erstarb allmählich, die Rauchschwaden verwehten im Sonnenschein, der scharfe Geruch verbrannter Zwiebeln hing in der brütenden Hitze rings um das Haus; und das Auge verlor sich in der Weite der grasigen Ebene nach Westen zu, als wäre die Ebene zwischen der Sulaco überragenden Sierra und der Küstenlinie gegen Esmeralda zu groß wie die halbe Welt.
Nach einer kleinen Pause fuhr Signora Teresa vorwurfsvoll fort:
»Eh, Giorgio! Laß Cavour in Frieden und paß auf dich selbst auf, da wir nun doch ganz allein mit zwei Kindern in dieses Land verschlagen sind – weil du unter einem König nicht leben kannst!«
Und während sie ihn ansah, griff sie sich wohl manchmal an die Seite, mit einem kurzen Zucken ihrer feinen Lippen und einem Runzeln der schwarzen, geraden Augenbrauen, das wie das Flackern eines ärgerlichen Schmerzes oder Gedankens ihre schönen, regelmäßigen Züge überflog.
Es war Schmerz: sie unterdrückte die Qual. Es hatte sie zuerst befallen, wenige Jahre, nachdem sie Italien verlassen hatte, um nach Amerika auszuwandern und sich schließlich in Sulaco niederzulassen – nach Irrfahrten von Stadt zu Stadt, wobei sie da und dort versucht hatten, einen kleinen Laden zu führen; einmal auch ein regelrechtes Fischereiunternehmen in Maldonado; denn Giorgio war, wie der Große Garibaldi, seinerzeit Seemann gewesen.
Manchmal brachte sie keine Geduld für die Schmerzen auf. Durch lange Jahre hatte diese nagende Pein mit zu der Landschaft gehört, die das Glitzern des Hafenbeckens unterhalb der bewaldeten Ausläufer der Bergkette umfaßte; und sogar der Sonnenschein selbst war schwer und dumpf – geladen mit Schmerz –, nicht wie der Sonnenschein ihrer Mädchenzeit, da Giorgio, in mittleren Jahren, ernst und leidenschaftlich an den Ufern des Golfs von Spezia um sie geworben hatte.
»Komm sofort ins Haus, Giorgio«, befahl sie. »Man könnte meinen, daß du gar kein Mitleid mit mir haben willst – wo wir doch vier Signori Inglesi im Hause haben.«
»Va bene, va bene«, murmelte Giorgio dann.
Er gehorchte. Die Signori Inglesi würden wohl schleunigst ihr Mittagsmahl haben wollen. Er war einer aus der unsterblichen und unbesieglichen Schar von Befreiern gewesen, die die Söldlinge der Tyrannei in alle Winde zerstreut hatte, wie ein Orkan, »an'uragano terribile«, die Spreu. Doch das war, bevor er geheiratet und Kinder gehabt und bevor die Tyrannei wieder ihr Haupt erhoben hatte, unter Verrätern, die Garibaldi, seinen Helden, eingekerkert hatten.
Die Stirnseite des Hauses wies drei Türen auf, und jeden Nachmittag konnte man den Garibaldiner in der einen oder ändern sehen, mit seinem mächtigen weißen Haarbusch,