SMS 21:58, Darko schreibt
Heute schicke ich dir einen dicken Gutenacht-Kuss
Ich falle fast vom Barhocker. Jetzt geht er aber ganz schön ran! Ein dicker Gutenacht-Kuss von Darko ... ich darf gar nicht darüber nachdenken. Ich nippe an meinem Champagner und versuche mein hämmerndes Herz zu beruhigen. Wer weiß, wie er küsst? Einerseits wirkt er wie ein Seebär, groß mit kräftigen Armen, dichten, dunklen, zum Teil ergrauten Haaren. Er sieht gut aus, sehr mediterran, ein typischer Dalmatiner. Ja, die Region Dalmatien zieht sich über die kroatische Küste und ist bekannt für schöne Männer und Frauen. Nach seinem Äußeren zu urteilen müsste er ein leidenschaftlicher Küsser sein. Seine Stimme ist sehr männlich — dunkel und etwas rauchig. Würde also auch eher für den leidenschaftlichen Kuss stehen. Andererseits wirkt er manchmal sehr einfühlsam, fast schon melancholisch ... ein zärtlicher Kuss könnte auch zu ihm passen. Aber er schreibt ja, dass er mir einen 'dicken Kuss' schickt, also doch eher leidenschaftlich, oder? Ich möchte nach Hause, möchte alleine sein, möchte in mein Bett, möchte die Augen schließen und mir vorstellen wie es wäre, von Darko geküsst zu werden.
Ana! Stop! Bist du jetzt völlig durchgeknallt? Hast du vergessen, dass du verheiratet bist? Du bist doch kein Teenager mehr, du hast erwachsene Kinder! Ja, ja, ja ... ich weiß, aber ... was ist nur mit mir los? Liegt es an der beruflichen Krise? Ich führe doch eine gute Ehe, oder nicht? Ich liebe Victor, er ist mein Mann, der Vater meiner Kinder ... Natürlich ist nicht alles so verlaufen, wie ich es mir erträumt hatte ...
Ich war im vierten Semester meines Jura Studiums und Victor im achten, als wir uns auf einer Juristen-Party an der Uni kennenlernten. Er lehnte an der Bar und unterhielt sich mit einem Mädchen, als sich unsere Blicke zum ersten Mal trafen. Ich bewegte mich wie ferngesteuert auf Victor zu und holte mir ein Getränk an der Bar. Er sah umwerfend gut aus und hatte ein wunderschönes, freches Lächeln. Es funkte sofort zwischen uns. Wenige Minuten später hat er mich angesprochen und eine Stunde später lagen wir uns knutschend in den Armen. Unsere körperliche Anziehung war unbeschreiblich. Seit jenem Abend waren wir unzertrennlich und unsterblich ineinander verliebt. Wir hingen in jeder freien Minute aneinander, küssten uns und hatten Sex, Sex und Sex! Victor war nicht mein erster Liebhaber — ich hatte schon zwei Freunde vor ihm — aber mit ihm habe ich meinen ersten Orgasmus erlebt. Mit Victor lernte ich mich beim Sex fallen zu lassen, mit ihm empfand ich zum ersten Mal diese unbändige Lust und ungezügelte Leidenschaft. Wir waren so heiß aufeinander, dass ich ihm die Tatsache, dass ich ab und zu vergessen hatte die Pille zu nehmen, verschwieg, nur um nicht auf den Sex verzichten zu müssen. Ich dachte, es würde schon irgendwie gut gehen. — Das tat es nicht. Im November, wir waren gerade mal sieben Monate zusammen, blieb meine Periode aus. Den Gedanken an eine Schwangerschaft verdrängte ich genau so, wie die versiebte Einnahme der Pille. Anfang Dezember ergriff mich dann doch langsam die Panik. Ich begann flehende Gespräche mit meiner Gebärmutter zu führen, sie inbrünstig zu bitten, sich doch endlich zusammenzuziehen, doch leider wurde ich nicht erhört. Kurz vor Weihnachten nahm ich all meinen Mut zusammen und kaufte in der Apotheke einen Schwangerschaftstest. Das hellblaue Kreuz veränderte von einem Moment auf den anderen mein ganzes Leben: Ergebnis 'positiv'.
Victor war geschockt. Ich habe diese Szene noch genau vor Augen: Zuerst sah er mich ungläubig an, sagte kein Wort. Dann wandte er sich ab und fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare. Wie gerne hätte ich mich damals einfach in seine Arme geworfen und geweint, aber ich traute mich nicht. Ich fühlte mich schuldig. Als er sich mir, nach einer gefühlten Ewigkeit, mit ernster Miene endlich wieder zuwandte, war seine Reaktion ganz pragmatisch: Ana, ich liebe dich sehr, aber wir sind mitten im Studium und können uns jetzt kein Kind leisten. Geh zum Frauenarzt und lass noch einen Test machen — vielleicht ist das Ergebnis ja falsch. Und wenn nicht, dann finden wir eine andere Lösung. 'Eine andere Lösung' ... und die wäre? Ich weiß bis heute nicht, ob er sich bewusst war, wie sehr mich seine Worte verletzt hatten. Wie Pfeilspitzen mitten in die Brust. Es tat sehr weh.
Meine Eltern waren außer sich. Ich hatte nichts anderes erwartet. Für sie kam meine Schwangerschaft einer Katastrophe gleich. In ihren Augen hatte ich mein Leben verpfuscht. Meine ältere Schwester Katarina studierte Medizin und fragte mich in ihrer arroganten Art, wie man so blöd sein könne, aus einer Arztfamilie zu kommen und nichts über Verhütungsmittel zu wissen. Das Weihnachtsfest war im Eimer. An Heiligabend und am ersten Weihnachtsfeiertag war es besonders schlimm. Alle mieden das Thema und heuchelten, als sei alles in bester Ordnung, und doch lag die Anspannung in der Luft. Ab dem zweiten Weihnachtsfeiertag bröckelte die Fassade und meine Mutter lief immer öfter weinend durchs Haus und fragte sich im Selbstgespräch, was sie nur falsch gemacht hätte, womit sie das verdient hätte. Mein Vater sprach kaum ein Wort mit mir. Bis Neujahr wollte ich eine Entscheidung getroffen haben. Die meiste Zeit verbrachte ich alleine in meinem Zimmer und dachte nach. Victor war über Weihnachten mit seiner Familie nach Argentinien zu seinen Großeltern gereist und wir hatten bis auf einen kurzen Anruf keinen Kontakt. Meine beste Freundin Klara war ebenfalls mit ihrer Familie in den Skiurlaub gereist. Nur mein kleiner Bruder Marko kam ab und zu in mein Zimmer und tröstete mich, indem er mir Witze erzählte und versuchte, mich zum Lachen zu bringen. Alles in mir sträubte sich gegen eine Abtreibung. Warum sollte ich das Kind des Mannes, den ich über alles liebte, nicht behalten? Weil ich erst 21 Jahre alt war? Weil ich mein Studium noch nicht abgeschlossen hatte? Es gab doch Studentinnen, die schon Kinder hatten — wenn sie es schaffen, warum sollte ich es nicht schaffen? Wir lebten doch nicht im Mittelalter! Ich musste diese Entscheidung alleine fällen, was mir sehr schwer fiel. Würde ich ihn verlieren, wenn ich mich für das Kind entschied? Davor hatte ich die größte Angst. Ich liebte Victor so sehr, dass ich mir ein Leben ohne ihn kaum vorstellen konnte. Am zweiten Januar 1993 teilte ich meinen Eltern mit, dass ich das Baby behalten wollte. Schweren Herzens akzeptierten sie meine Entscheidung, bestanden jedoch auf geordnete Verhältnisse. Ein uneheliches Enkelkind kam für sie nicht infrage. Und das Studium durfte ich auch nicht abbrechen, denn schließlich kam ich aus einer Akademikerfamilie und hatte diese Tradition fortzusetzen, vor allem unter den fantastischen Bedingungen, die sie uns boten, die nicht vergleichbar waren mit den ihren — bla, bla, bla ... Sie bestanden auf ein Gespräch mit Victor. In scharfem Ton teilte mein Vater ihm unmissverständlich mit, dass meine Eltern von ihm erwarten, seine Verpflichtung mir und dem Baby gegenüber ernst zu nehmen. Sie setzten ihm die Pistole auf die Brust mich zu heiraten, und zwar möglichst schnell, damit die Tatsache, dass er mich vor der Ehe geschwängert habe, nicht sofort publik würde. Im Gegenzug erklärten sie sich bereit, uns in jeglicher Hinsicht zu unterstützen. Ich fühlte mich, als würde es sich um eine Verhandlung zur Zwangsehe handeln und versank vor Scham im Erdboden. Ich versuchte zu widersprechen, aber es war erfolglos ... Victor war schon 27 Jahre alt und ich war verwundert, dass er ruhig blieb. Er willigte ein, mich zu heiraten. Es war zwar kein romantischer Heiratsantrag, aber dennoch jubelte ich innerlich. Das hätte ich nicht einmal zu träumen gewagt. Mein Victor liebte mich, er wollte mich heiraten! Nach diesem Gespräch nahm Victor mich zum ersten Mal, seit ich ihm von meiner Schwangerschaft erzählt hatte, in die Arme und sagte, es würde hart werden, aber wir würden es schon schaffen. Ich war so glücklich, denn ich ahnte damals noch nicht, wie hart es tatsächlich werden würde ... Es stand noch das Gespräch mit Victors Eltern an. Victors Vater ist Argentinier, lebte jedoch wie meine Eltern, schon seit vielen Jahren in München, wo er eine deutsche Frau geheiratet hatte. Victors Eltern waren immer sehr freundlich zu mir gewesen, aber von meiner ungeplanten Schwangerschaft waren sie gar nicht begeistert. Ich spürte, dass sie mir die Schuld an der Situation gaben. Ihr Sohn sollte mal ein angesehener Anwalt werden und weder Frau noch Kind sollten ihn daran hindern. Im April haben wir dann in kleinem Rahmen standesamtlich geheiratet. Die große kirchliche Hochzeit wollten wir ein Jahr später, nach Victors erstem Staatsexamen, nachholen. Doch dazu ist es nicht gekommen ...
Was soll's, das ist alles Vergangenheit, ich lebe im Hier und Jetzt! Und 'jetzt' heißt, dass ich, auch wenn es falsch sein mag, immer an Darkos Kuss denken muss ...
SMS 01:06 , Ana schreibt