und schmalen Streifen auf das gleißende Gold der Trompeten, das tiefe Schwarz der Pauken und das siegreiche Silber der Tschinellen.
Jacques stand hinter seinem Rücken und räusperte sich. Das Mittagessen begann also. Wenn die Musik eine Pause machte, hörte man ein leises Tellerklirren aus dem Speisezimmer. Es lag durch zwei weite Räume vom Balkon getrennt, genau in der Mitte des ersten Stockwerks. Während des Essens klang die Musik fern, aber deutlich. Leider spielte sie nicht jeden Tag. Sie war gut und nützlich, sie umrankte die feierliche Zeremonie des Essens mild und versöhnend und ließ keins der peinlichen, kurzen und harten Gespräche aufkommen, die der Vater so oft anzubrechen liebte. Man konnte schweigen, zuhören und genießen. Die Teller hatten schmale, verblassende, blaugoldene Streifen. Carl Joseph liebte sie. Oft im Laufe des Jahres gedachte er ihrer. Sie und der Radetzkymarsch und das Wandbildnis der verstorbenen Mutter (an die sich der Junge nicht mehr erinnerte) und der schwere, silberne Schöpflöffel und die Fischterrine und die Obstmesser mit den gezackten Rücken und die winzigen Kaffeetäßchen und die gebrechlichen Löffelchen, die dünn waren wie dünne Silbermünzen: all das zusammen bedeutete Sommer, Freiheit, Heimat.
Er gab Jacques Überschwung, Mütze und Handschuhe und ging ins Speisezimmer. Der Alte betrat es zu gleicher Zeit und lächelte dem Sohn zu. Fräulein Hirschwitz, die Hausdame, kam eine Weile später, im sonntäglich Grauseidenen, mit erhobenem Haupt, den schweren Haarknoten im Nacken, eine mächtige, krumme Spange quer über der Brust wie eine Art Tartarensäbel. Gewappnet und gepanzert sah sie aus. Carl Joseph hauchte einen Kuß auf ihre lange, harte Hand. Jacques rückte die Sessel. Der Bezirkshauptmann gab das Zeichen zum Niedersitzen. Jacques verschwand und trat nach einer Weile wieder mit weißen Handschuhen ein, die ihn völlig zu verändern schienen. Sie strömten einen schneeigen Glanz über sein ohnehin schon weißes Gesicht, seinen ohnehin schon weißen Backenbart, seine ohnehin weißen Haare. Aber sie übertrafen ja auch an Helligkeit wohl alles, was in dieser Welt hell genannt werden konnte. Mit diesen Handschuhen hielt er ein dunkles Tablett. Darauf stand die dampfende Suppenterrine. Bald hatte er sie in der Mitte des Tisches hingesetzt, sorgfältig, lautlos und sehr schnell. Nach alter Gewohnheit verteilte Fräulein Hirschwitz die Suppe. Man kam den Tellern, die sie hinhielt, mit gastfreundlich ausgestreckten Armen entgegen und mit einem dankbaren Lächeln in den Augen. Sie lächelte wieder. Ein warmer, goldener Schimmer wallte in den Tellern; es war die Suppe: Nudelsuppe. Durchsichtig, mit goldgelben, kleinen, verschlungenen, zarten Nudeln. Herr von Trotta und Sipolje aß sehr schnell, manchmal grimmig. Es war, als vernichtete er mit geräuschloser, adeliger und flinker Gehässigkeit einen Gang um den andern, er machte ihnen den Garaus. Fräulein Hirschwitz nahm bei Tisch winzige Portionen und aß nach vollendeter Mahlzeit in ihrem Zimmer die ganze Reihenfolge der Speisen aufs neue. Carl Joseph schluckte furchtsam und hastig heiße Löffelladungen und mächtige Bissen. So wurden sie alle zugleich fertig. Man sprach kein Wort, wenn Herr von Trotta und Sipolje schwieg.
Nach der Suppe trug man den garnierten Tafelspitz auf, das Sonntagsgericht des Alten seit unzähligen Jahren. Die wohlgefällige Betrachtung, die er dieser Speise widmete, nahm längere Zeit in Anspruch als die halbe Mahlzeit. Das Auge des Bezirkshauptmanns liebkoste zuerst den zarten Speckrand, der das kolossale Stück Fleisch umsäumte, dann die einzelnen Tellerchen, auf denen die Gemüse gebettet waren, die violett schimmernden Rüben, den sattgrünen, ernsten Spinat, den fröhlichen, hellen Salat, das herbe Weiß des Meerrettichs, das tadellose Oval der jungen Kartoffeln, die in schmelzender Butter schwammen und an zierliche Spielzeuge erinnerten. Er unterhielt merkwürdige Beziehungen zum Essen. Es war, als äße er die wichtigsten Stücke mit den Augen, sein Schönheitssinn verzehrte vor allem den Gehalt der Speisen, gewissermaßen ihr Seelisches; der schale Rest, der dann in Mund und Gaumen gelangte, war langweilig und mußte unverzüglich verschlungen werden. Die schöne Ansicht der Speisen bereitete dem Alten ebensoviel Vergnügen wie ihre einfache Beschaffenheit. Denn er hielt auf ein sogenanntes »bürgerliches« Essen: ein Tribut, den er seinem Geschmack ebenso wie seiner Gesinnung zollte; diese nämlich nannte er eine spartanische. Mit einem glücklichen Geschick vereinigte er also die Sättigung seiner Lust mit den Forderungen der Pflicht. Er war ein Spartaner. Aber er war ein Österreicher.
Er machte sich nun, wie jeden Sonntag, daran, den Spitz zu zerschneiden. Er stieß die Manschetten in die Ärmel, hob beide Hände, und indem er Messer und Gabel an das Fleisch ansetzte, begann er, zu Fräulein Hirschwitz gewendet: »Sehn Sie, meine Gnädige, es genügt nicht, beim Fleischer ein zartes Stück zu verlangen. Man muß darauf achten, in welcher Art es geschnitten ist. Ich meine, Querschnitt oder Längsschnitt. Die Fleischer verstehen heutzutage ihr Handwerk nicht mehr. Das feinste Fleisch ist verdorben, nur durch einen falschen Schnitt. Sehen Sie her, Gnädigste! Ich kann es kaum noch retten. Es zerfällt in Fasern, es zerflattert geradezu. Als Ganzes kann man's wohl ›mürbe‹ nennen. Aber die einzelnen Stückchen werden zäh sein, wie Sie bald selbst sehen werden. Was aber die Beilagen, wie es die Reichsdeutschen nennen, betrifft, so wünsche ich ein anderes Mal den Kren, genannt Meerrettich, etwas trockener. Er darf die Würze nicht in der Milch verlieren. Auch muß er knapp, bevor er zum Tisch kommt, angerichtet werden. Zu lange naß gewesen. Ein Fehler!«
Fräulein Hirschwitz, die viele Jahre in Deutschland gelebt hatte, immer hochdeutsch sprach und auf deren Vorliebe für die literaturfähige Ausdrucksweise sich Herrn von Trottas »Beilagen« und »Meerrettich« bezogen hatten, nickte schwer und langsam. Es kostete sie offensichtlich Mühe, das bedeutende Gewicht des Haarknotens vom Nacken zu lösen und ihr Haupt zu einer zustimmenden Neigung zu veranlassen. So bekam ihre beflissene Freundlichkeit etwas Gemessenes, ja, sie schien sogar eine Abwehr zu enthalten. Und der Bezirkshauptmann sah sich veranlaßt zu sagen: »Ich habe sicherlich nicht Unrecht, meine Gnädigste!«
Er sprach das nasale österreichische Deutsch der höheren Beamten und des kleinen Adels. Es erinnerte ein wenig an ferne Gitarren in der Nacht, auch an die letzten, zarten Schwingungen verhallender Glocken, es war eine sanfte, aber auch präzise Sprache, zärtlich und boshaft zugleich. Sie paßte zu dem mageren, knochigen Angesicht des Sprechers, zu seiner schmalen, gebogenen Nase, in der die klingenden, etwas wehmütigen Konsonanten zu liegen schienen. Nase und Mund waren, wenn der Bezirkshauptmann sprach, eher eine Art von Blasinstrumenten als Gesichtspartien. Außer den Lippen bewegte sich nichts in diesem Gesicht. Der dunkle Backenbart, den Herr von Trotta als ein Uniformstück trug, als ein Abzeichen, das seine Zugehörigkeit zu der Dienerschaft Franz Josephs des Ersten beweisen sollte, als einen Beweis seiner dynastischen Gesinnung: auch dieser Backenbart blieb reglos, wenn Herr von Trotta und Sipolje sprach. Aufrecht saß er am Tisch, als hielte er Zügel in den harten Händen. Wenn er saß, sah es aus, als stünde er, und wenn er sich erhob, überraschte immer wieder seine kerzengrade Größe. Er trug immer Dunkelblau, Sommer und Winter, an Sonn- und Wochentagen; einen dunkelblauen Rock und graue, gestreifte Hosen, die eng um seine langen Beine lagen und von Stegen um die glatten Zugstiefel straff gespannt wurden. Zwischen dem zweiten und dritten Gang pflegte er aufzustehen, um sich »Bewegung zu machen«. Aber es war eher, als wollte er seinen Hausgenossen vorführen, wie man sich erhebt, steht und wandelt, ohne die Reglosigkeit aufzugeben. Jacques räumte das Fleisch ab und fing einen hurtigen Blick von Fräulein Hirschwitz auf, der ihn ermahnte, den Rest für sie aufwärmen zu lassen. Herr von Trotta ging mit gemessenen Schritten zum Fenster, lüftete ein wenig die Gardine und kehrte an den Tisch zurück. In diesem Augenblick erschienen die Kirschknödel auf einem geräumigen Teller. Der Bezirkshauptmann nahm nur einen, zerschnitt ihn mit dem Löffel und sagte zu Fräulein Hirschwitz: »Das, meine Gnädigste, ist ein Muster von einem Kirschknödel. Er besitzt die nötige Konsistenz, wenn er aufgeschnitten wird, und gibt auf der Zunge dennoch sofort nach.« Und zu Carl Joseph gewendet: »Ich rate dir, heute zwei zu nehmen!« Carl Joseph nahm zwei. Er verschlang sie im Nu, war eine Sekunde früher fertig als sein Vater und trank ein Glas Wasser nach – denn Wein gab es nur am Abend –, um sie aus der Speiseröhre, in der sie noch stecken mochten, in den Magen hinunterzuspülen. Er faltete, im gleichen Rhythmus wie der Alte, seine Serviette. Man erhob sich. Die Musik spielte draußen die Tannhäuser-Ouvertüre. Unter ihren sonoren Klängen schritt man ins Herrenzimmer, Fräulein Hirschwitz voran. Dorthin brachte Jacques den Kaffee. Man erwartete den Herrn Kapellmeister Nechwal. Er kam, während sich seine Musikanten unten zum Abmarsch formierten, im dunkelblauen Paraderock, mit glänzendem Degen und zwei funkelnden, goldenen, kleinen Harfen am Kragen. »Ich bin entzückt von Ihrem Konzert«, sagte Herr von Trotta heute wie jeden Sonntag.