zu zerteilen. Schließlich nahm er Reitstunden, um seinen Schwager in der Reitallee im Tannenwäldchen zu begleiten. Die Bürger der Stadt fingen an, nachsichtiger dem alten Herrn Bernheim gegenüber zu werden, weil es ihm gelungen war, der Heimat ein Genie zu schenken. Manch einer von den Feinden Bernheims, der sich lange Zeit verletzt gefühlt hatte, begann, weil in seiner Familie indessen eine heiratsfähige Tochter heranwuchs, Felix Bernheim wieder untertänig zu grüßen.
Um jene Zeit verbreitete sich das Gerücht, daß Herrn Bernheim eine große Auszeichnung bevorstehe. Einige sprachen von einer Erhebung in den Adelsstand. Es war lehrreich, zu beobachten, wie diese Aussicht auf den Adel Bernheims die Gehässigkeit seiner Gegner beruhigte. Der zukünftige Adel Bernheims erschien als eine ausreichende Erklärung für den Hochmut des Bürgerlichen. Man kannte nunmehr die wissenschaftliche Grundlage seines Stolzes und fand ihn also berechtigt. Denn nach der Meinung der Stadt war die Arroganz die Zierde des Adligen, des Geadelten und sogar noch desjenigen, der bald geadelt werden sollte.
Es ist unbekannt, welche wirklichen Grundlagen jenes Gerücht hatte. Vielleicht wäre Herr Bernheim nur ein Geheimer Kommerzienrat geworden. Aber da ereignete sich etwas Unerwartetes, Unwahrscheinliches. Eine Geschichte, die so banal ist, daß man sich schämen würde, sie zum Beispiel in einem Roman zu erzählen.
Eines Tages kam ein Wanderzirkus in die Stadt. Während der zehnten oder elften Vorstellung geschah ein Unfall: Eine junge Akrobatin fiel vom Trapez, gerade in die Loge, in der Herr Felix Bernheim saß – allein (denn seine Familie hielt Zirkusvorstellungen für vulgäre Spektakel). Man erzählte später, Herr Bernheim hätte die Künstlerin »geistesgegenwärtig« in den Armen aufgefangen. Aber das ist nicht genau festzustellen – ebensowenig, wie jenes Gerücht noch zu kontrollieren ist, das wissen will, er hätte sich seit der ersten Vorstellung für das Mädchen interessiert und ihr Blumen geschickt. Sicher ist, daß er sie ins Krankenhaus brachte, sie besuchte und sie nicht mehr mit dem Zirkus abreisen ließ. Er mietete ihr eine Wohnung und hatte den Mut, sich in sie zu verlieben. Er, der Stolz des Bürgertums, der Anwärter auf den Adelsstand, der Schwiegervater eines Rittmeisters, verliebte sich in eine Akrobatin. Frau Bernheim erklärte ihrem Mann: »Du kannst deine Mätresse ins Haus nehmen, ich fahre zu meiner Schwester.« Sie fuhr zu ihrer Schwester. Der Rittmeister ließ sich in eine andere Garnison versetzen. Das Haus der Bernheims war nur noch von den zwei Söhnen und den Dienstboten bewohnt. Die gelben Gardinen hingen monatelang vor den Fenstern. Der alte Bernheim allerdings veränderte sein Gehaben nicht. Er blieb hochmütig, er trotzte aller Welt, er liebte ein Mädchen. Von seiner Auszeichnung war keine Rede mehr.
Es war vielleicht die einzige mutige Tat, die Felix Bernheim in seinem Leben gewagt hatte. Später, als sein Sohn Paul eine ähnliche hätte wagen können, dachte ich an die des Vaters, und es wurde mir wieder einmal an einem Beispiel klar, wie die Tapferkeit sich im Ablauf der Geschlechter erschöpft und um wieviel schwächer die Söhne sind, als die Väter waren.
Das fremde Mädchen lebte nur ein paar Monate in der Stadt. Als wäre sie nur zu dem Zweck vom Himmel gefallen, um Felix Bernheim noch in den letzten Jahren seines Lebens zu einer mutigen Handlung zu verführen, ihm noch einen flüchtigen Schimmer Schönheit zu schenken und seine echte Erhebung in den natürlichen Adelsstand zu vollziehen. Eines Tages verschwand das Mädchen. Vielleicht – wenn man einen romanhaften Abschluß dieser romanhaften Geschichte will – kam der Zirkus wieder in die Gegend, und das Mädchen sehnte sich schon nach ihrem Trapez. Denn auch die Akrobatik kann eine Berufung sein.
Frau Bernheim kehrte zurück. Das Haus belebte sich mäßig. Paul, den das Abenteuer seines Vaters traurig gemacht hatte, weil die erwartete Auszeichnung ausgeblieben war und weil der Rittmeister verschwand, erholte sich später schnell und fand sogar eine Freude an der Tatsache, daß »sein Alter doch ein Kerl« sei.
Im übrigen bereitete er seine Abreise vor.
Bald durfte er ein neues Leben beginnen.
2
Er bestand – wie vorauszusehen war – das Abitur mit Auszeichnung. Von nun an trug er ein paar neue Anzüge. Die alten Schülerkleider schienen ihm ungesund, wie Gewänder, die man während einer langen, epidemischen Krankheit getragen hat. Die neuen Anzüge waren locker, hell, von unbestimmter Färbung, weich und haarig, leicht und warm. Die Stoffe kamen aus England, dem Land, in das Paul Bernheim gehen wollte.
Keiner von all den jungen Leuten ging nach England. Ein einziger, der die zage Absicht äußerte, in Paris »perfekt Französisch« zu erlernen, erschien den andern verdächtig. Aber der alte Bernheim hatte einmal in einer Gesellschaft gesagt: »Meinen Sohn schicke ich in die Welt, sobald er das Abitur hat!« Und die Welt war für einen gewissen Kreis von gehobenen Bürgern England.
Diese Herren ließen schon seit einigen Jahren ihre Anzüge aus England kommen, waren Mitglieder von Flottenvereinen, rühmten die britische Politik und die britische Verfassung, trafen König Eduard den Siebenten oft und wie von ungefähr auf der Marienbader Promenade, machten Geschäfte mit Engländern, tranken Whisky und Grogs, obwohl ihnen Pilsner Bier schmeckte, schlossen sich in Klubs zusammen, obwohl sie sich lieber im Kaffeehaus getroffen hätten, simulierten Schweigsamkeit, obgleich sie beredt von Natur waren, wurden Sammler von verschiedenen nutzlosen Gegenständen, weil sie sich einbildeten, ein wohlgeborener Mann müsse einen »Spleen« haben, trieben Gymnastik in den Morgenstunden, verbrachten den Sommer an den Küsten und auf den Meeren, um eine salzluft- und windgerötete Haut zu bekommen, und erzählten Wunder vom Londoner Nebel, der Londoner Börse, den Londoner Polizisten. Manche gingen so weit, »well« statt ja zu sagen und englische Zeitungen zu abonnieren, die viel zu spät kamen, als daß man aus ihnen noch Neuigkeiten hätte erfahren können. Aber die Abonnenten nahmen Ereignisse, die sie noch nicht auf englisch gelesen hatten, vorläufig nicht zur Kenntnis. »Warten wir ab!«, sagten sie, wenn etwas geschah, »morgen kommt die Zeitung.« Ihre Kinder lernten Englisch wie Deutsch sprechen. Und eine Zeitlang sah es aus, als wüchse eine kleine angelsächsische Nation mitten in der Stadt heran, um sich gelegentlich freiwillig dem britischen Imperium einverleiben zu lassen. Man mußte in dieser Stadt, die einen durchaus kontinentalen Charakter hatte, in der niemals die Spur von einem Nebel zu ahnen war, so essen, trinken, gekleidet sein wie an den meerumrauschten Küsten von England.
Sobald Paul seine englischen Anzüge ein paar Wochen getragen hatte, erklärte er, einige Jahre in England bleiben zu wollen. Und wahrscheinlich in der Angst, man könnte den Wert eines Studiums und eines Lebens in England leicht unterschätzen, erzählte er: »Die Bedingungen, in ein englisches College zu kommen, sind gar nicht so leicht, wie man sich einbildet. Ein Ausländer muß überhaupt von zwei repräsentativen Engländern empfohlen werden, sonst kommt er im Leben nicht hinein! Und vor allem muß man sich tadellos benehmen können, was bei uns ja leider so selten ist! Ich gehe nach Oxford! Nächste Woche übe ich mich noch im Schwimmen.«
Es klang, als hätte er die Absicht, das College schwimmend zu erreichen.
Da nach der Vorstellung, die er sich von den Engländern machte, mit Kunstgeschichte bei ihnen wenig auszurichten war und sie eine sozusagen praktische Veranlagung hatten, beschloß er, Staatswissenschaften zu studieren, Geschichte und Jurisprudenz. Von den Bildern und Malern war keine Rede mehr. Ehe man es sich versah, standen alle wissenschaftlichen Werke, die er brauchte, in seiner Bibliothek. Aus den Prospekten wußte er bereits, wie es in Oxford zugeht. Er erzählte Geschichten aus Oxford, als wäre er von dort hergekommen und nicht erst im Begriff, eben hinzugehen. Merkwürdiger aber noch als die Tatsache, daß er von den Colleges mit der Autorität eines langjährigen Kenners sprach, war das Interesse und die Gläubigkeit der Leute, die ihn fragten. Und nicht nur er, sondern auch sein Vater erzählte von Oxforder Studien, und alle Mitglieder des Klubs, dem der alte Bernheim angehörte, zitierten zu Hause den Stundenplan von Oxford. Und alle heiratsfähigen Mädchen erzählten einander: »Paul geht nach Oxford!« Sie sagten Paul, ebenso wie ihn eine ganze Schicht des Bürgertums nannte. Er war ihr Liebling. Es ist das Schicksal der liebenswürdigen Männer, von fremden Menschen beim Vornamen gerufen zu werden.
Paul fuhr nach Oxford, an einem schönen Junitag, von einigen jungen Damen zur Bahn begleitet. Seine Eltern hatten schon eine Woche früher die Stadt verlassen, waren in die Sommerferien gefahren, weil