Lars Bessel

Die schönsten Wochen des Jahres


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die fertige Spülmaschine offen, ohne ausgeräumt worden zu sein, im Esszimmer stand neben dem benutzen Kaffeegeschirr, bestehend aus zwei Tassen und zwei Tellern mit Besteck, auch noch eine angebrochene Prosecco-Flasche nebst zweier Sektflöten, und im Keller hörte er den Trockner piepen.

      »Tenderchen, wo bist du denn?« Noch immer keine Antwort. Stattdessen meinte Horst Gekicher zu hören – von den Nachbarn.

      Horst zog sein Jackett aus, legte die Krawatte ab, und da er sowieso völlig aus dem Tritt geraten war, machte er sich an die Hausarbeit. Er räumte die Spülmaschine aus, räumte das Kaffeegeschirr in die nun leere Spülmaschine ein, wusch die Sektgläser per Hand ab, bevor er die Prosecco-Flasche mit einem Verschluss versah und in den Kühlschrank stellte. Endlich hatte alles wieder seine Ordnung. Das Piepen aus dem Keller erinnerte ihn schließlich an seine noch verbliebene Aufgabe. Irritierend waren für Horst aber nicht nur der Umstand, dass Gaby nicht da war, sondern auch diese ungewohnten Geräusche.

      Im Reihenhaus direkt neben ihnen wohnen seit ihrer Heirat und dem Einzug ins Eigenheim die Schuberts, ein ebenfalls kinderloses Ehepaar. Kai ist Fitnesstrainer, Sybille »Nail-Designerin«. Horst kann nichts Schlechtes über die beiden sagen, mag sie aber trotzdem nicht sonderlich. Vor allem die aufschneiderische Art von Kai geht ihm meist gehörig auf den Senkel, was seine Frau Gaby aber nicht davon abhält, die beiden regelmäßig zum Grillen einzuladen, oder zum Glühwein, oder zum Geburtstag, oder einfach nur so auf einen Prosecco. Der alljährliche Höhepunkt ist jedoch der gemeinsame zweiwöchige Urlaub auf Rømø, der am nächsten Tag beginnen sollte.

      In diesem Moment fragte sich Horst, wann Kai eigentlich arbeiten muss. Das anfängliche Gekicher hatte sich im Laufe von Horsts Hausarbeit nämlich unverkennbar in ein regelmäßiges Stöhnen verwandelt – mal tief brummend, mal hoch glucksend. Kai musste also im Bett, statt im Fitnessstudio sein.

      Sex. Hätte Horst auch gern mal wieder. War aber vermutlich erst in zwei Monaten wieder dran, schließlich sind seit dem vergangenen Mal erst vier Wochen vergangen. Gaby hat es nicht so mit der Zärtlichkeit. »Dieser Austausch von Körperflüssigkeiten wird völlig überbewertet«, ist ihr Credo. Dass Nachbarin Sybille das anders sieht, hatte Horst schon vermutet, bislang aber noch nie Koitusgeräusche aus dem Nachbarhaus vernommen. Obwohl der Trockner flehend piepte, setzte sich Horst in die Küche und lauschte dem immer lauter werdenden Treiben. Normalerweise trinkt Horst keinen Alkohol, schon gar nicht am Tag. Aber heute war sowieso alles anders, weshalb er sich eine der just abgewaschenen Sektflöten nahm, sie halbvoll mit dem noch lauwarmen Prosecco aus dem Kühlschrank füllte und sich genüßlich seinen Phantasien hingab.

      Die Frau, die er sich vorstellte, war ein wenig korpulent, vielleicht Ende 30. Sie stand nur wenige Meter von seinem Platz am Esszimmertisch entfernt in der Küche. Nackt und ohne erkennbares Gesicht. Die Brünette streichelte ihre Brüste und begann leise zu stöhnen. »Komm’ zu mir«, hörte er sie raunen. Sie drehte sich um, zeigte Horst ihren prallen Hintern und legte ihre kleinen Brüste auf die graumarmorierte Küchenarbeitsplatte, die Horst erst vor einem Jahr neu gekauft hatte. Horst stand in Gedanken auf, öffnete seine dunkelblaue Bundesbahnerhose und drang in sie ein. Die Frau vor ihm stöhnte laut auf. »Tiefer, mein Dicker! Tiefer!« Bereits nach wenigen Stößen streckte sie ihren Körper nach oben, weshalb Horst aus ihr herausglitt. Sie drehte sich um, kniete sich vor ihm auf den kalten Küchenfußboden mit den hellgrauen lasierten Fliesen und begann mit ihrem Mund kräftig an seinem besten Stück zu saugen. »Komm’, spritz ab, mein Hengst«, hörte er sie sagen.

      Bevor Horst zur Toilette gehen konnte, um den traumhaft erwarteten Orgasmus Realität werden zu lassen, wurden die Bilder von der geilen Brünetten in seiner Küche durch ein anderes ersetzt: Gaby stand direkt vor ihm und schüttelte den Kopf, zum Glück nur in Gedanken. Auf einen Schlag war Horst die Lust vergangen.

      Er hatte sich immer Kinder gewünscht, genau wie Gaby. Jahrelang hatten sie alles Mögliche ausprobiert, jeden noch so bescheuerten Tipp von Freunden und Bekannten, aus Frauenzeitschriften und dem Internet ausprobiert, aber es klappte nicht. Horst dachte zunächst, sie sollten häufiger miteinander schlafen. Aber ein Besuch bei seinem Urologen brachte ihm schließlich die niederschmetternde Erkenntnis: unfruchtbar. Den Grund lieferte der Arzt gleich mit: »Heizerhoden«. »Wie passend«, dachte Horst jetzt, mit erschlaffendem Glied an seine Sektflöte geklammert, erneut – und heult statt zu ejakulieren.

      Schleichend war es damals mit dem Sex immer weniger geworden, und als Horst ins Gästezimmer umziehen musste, fand er quasi gar nicht mehr statt. Etwa zum gleichen Zeitpunkt vor zehn Jahren hatte Gaby das Verhältnis zu den Nachbarn deutlich intensiviert. Die zierliche Sybille machte ihr seitdem regelmäßig die Fingernägel. Etwas mit »french« hatte sich Horst gemerkt, und dass es ziemlich teuer war. Sybille hat lange braune Haare mit blonden Strähnen, die ihre vermutlich falschen Brüste umspielen, die sie gern tiefausgeschnitten samt Brustbeinpiercing zur Schau stellt. Selbst bei der (seltenen) Gartenarbeit trägt sie enge Miniröcke und Highheels. Horst wartet seitdem auf den Tag, an dem sich seine Nachbarin die Sprunggelenke beim Blumengießen bricht.

      Zu ihrem Mann Kai muss Horst beständig aufschauen. Kai misst über 1,90 Meter, ist muskulös, an beiden Unterarmen und beiden Waden tätowiert. Eine Stereotype von Fitnesstrainer, wie Horst findet. Und er muss sich die Haare färben, ist sich Horst sicher. Schließlich ist Kai nur drei Jahre jünger als er, aber von weißen Schläfen noch immer keine Spur. Was Horst jedoch an seinen Nachbarn am meisten stört, ist nicht das Äußere. Er würde bei den regelmäßigen Treffen, und erst recht im Sommerurlaub auf Rømø, gern ernsthafte Gespräche führen wollen, aber das ist mit Sybille und Kai nicht möglich. Und wenn Horst ehrlich war, auch nicht mit Gaby.

      Stattdessen konnte er jetzt sogar einzelne Worte und sogar Satzfetzen von nebenan verstehen. Nicht geistreich, aber das wäre selbst für Horst in diesem Moment zu viel verlangt gewesen:

      »Du großer Fitnesstiger, du, an dir ist aber wirklich alles groß ...«

      »... du durchtriebene Schlampe!«

      »... schneller ...«

      Plötzlich ein Schrei im Duett – und Stille. Aber nur kurz; dann wurde seine Peepshow für die Ohren fortgesetzt. Doch Horst hatte genug gehört und widmete sich seiner Wäsche. Das Piepen des Trockners klang inzwischen heiser. Mit nun nicht mehr gewölbter Dienstanzughose ging er in den Keller. Nachdem er die zahllosen schwarzen Socken paarweise gebündelt und seine weißen Feinripp-Unterhosen und -hemden ordentlich zusammengelegt hatte, wollte er sie ebenso säuberlich in den Kleiderschrank räumen. Aber der Boden des ehelichen Schlafzimmers war zu seiner Überraschung übersät mit Kleidungsstücken, die alles andere als ordentlich abgelegt worden waren.

       Zug 1 | Waggon 5

      Wenn Horst nicht mehr weiter weiß, geht er in seinen Hobbykeller – auf 3,5 mal 5,0 Metern steht dort sein ganzer Stolz: eine Modelleisenbahn in H0. Wenn er einmal in Rente ist, möchte er gern seine gesamte Strecke von Altona bis nach Westerland nachbauen. Doch dafür fehlt ihm im Moment noch die Zeit – und der Platz. Als er Gaby das erste Mal gefragt hatte, ob sie nicht das Schlafzimmer in den Keller verlegen könnten, damit er die erste Etage komplett für sein »Bahnprojekt 21« nutzen könnte, hatte die ihm nur wortlos einen Vogel gezeigt. Außerdem hatte sie ihm kurzerhand den »Frühlings-Sex« gestrichen.

      »Vielleicht hätte ich mich damals einfach durchsetzen müssen«, dachte Horst nun, »vielleicht wäre das dann alles nicht passiert. Kai wäre bestimmt nicht in den Keller gegangen.« Er drehte den erstbesten Trafo am Führerstand seiner Modelleisenbahn voll auf, der daraufhin den Schnelltriebwagen »ST 800.5« in Rot von Märklin so stark beschleunigte, dass er aus der nächsten Kurve gegen die weißgekalkte Kellerwand flog.

      Der dreiteilige Triebwagen hat einen Wert von rund 1.400 Euro, aber das interessierte Horst in diesem Moment nicht. Warum hatte er sich beim Thema »Ausbau der Marschenbahn« wie immer arrangiert, fragte er sich, stattdessen nur den Sackbahnhof Altona en miniature nachgebaut, das Stellwerk in Elmshorn, die Hochbrücke über den Nord-Ostsee-Kanal, die Hafenbrücke von Husum und den Hindenburgdamm? Er hätte viel mehr kämpfen müssen, sich gerade machen müssen, dachte er. Aber genau das werde er jetzt tun.