Maria Rohmer

Am Ende des Regenbogens


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Vater nehmen wird.

      Die Krankheit, die uns so nahe bringen wird, wie nichts zuvor.

      Krebs - Die Krankheit, mit der sich 20 Jahre später unser Neffe auseinandersetzen muss. Maximilian, ich danke dir dafür, dass ich dich auf deinem Weg begleiten durfte. Es war eine so unendlich wertvolle Zeit.

       2. Kapitel

      Hautnah mit dem Sterben, mit dem Tod in Berührung gekommen bin ich bisher dreimal. Das erste Mal in der Kindheit, als meine Großmutter an einem Herzinfarkt starb. Die Oma, mit der ich abends noch erzählt und gelacht und der ich `eine gute Nacht` gewünscht hatte und von der es am nächsten Morgen hieß: Sie ist tot. Gestorben. Weg für immer.

      Meine geliebte Oma. Die Frau, die mich all die Jahre mit ihrer Güte, ihre Liebe und ihrer Wärme umhüllt hatte. Eine Oma, wie jedes Kind sie sich wünscht und wie jeder kleine Mensch sie haben müsste - weil er sie braucht. Bei ihr war es so herrlich gemütlich. An sie konnte ich mich ran kuscheln, wenn wir zusammen auf dem breiten, alten Sofa saßen. Heute noch meine ich oft, die weiche Wolle ihres großen, grauen Schultertuches auf meiner Haut zu spüren. Einen kurzen, glücklichen, wehmütigen Augenblick lang.

      Und nun war diese Oma gestorben. Sie lag da in ihrem Bett, die gefalteten Hände auf der Decke. Die Augen geschlossen, stumm, mit einem seltsam wächsernen Gesicht. Und plötzlich war sie so weit weg, so fremd.

      Und das Mädchen von 13 Jahren stand in der Tür zu ihrem Schlafzimmer. Voller Angst schaute es auf diese reglose Gestalt und wagte sich nicht hinein in diesen Raum, in dem ja jetzt wohl nur noch der Geist oder die Seele der Oma waren.

      Es stand da und wartete, dass diese geschlossenen Augen sich wieder öffnen, dieser Mund wieder lächeln und diese erstarrte Gestalt endlich wieder die Oma sein würde, die es kannte und liebte, und die einen nicht verlassen darf! Und da war er zum ersten Mal: Dieser Schmerz um etwas, das man für immer verloren hat.

      Beim zweiten Mal war ich 21. Es war an einem Samstagmorgen und ich betrat das Krankenzimmer genau in dem Moment, als der Tod zu meinem Großvater kam.

      Er kam wie ein flüchtiger Schatten, der sich auf sein Gesicht legte, wie ein leiser Hauch, wie ein sanftes Auslöschen. So, wie man die Flamme einer Kerze behutsam auspustet.

      Ich hatte mir gerade im Bad das Blut von den Händen gewaschen. Das Blut meines Großvaters, das er in einem dunkelroten Schwall in die Schale erbrochen hatte, die ich für ihn hielt. Mehr konnte ich nicht tun. Seltsamerweise waren meine Hände dabei völlig ruhig. Kein Zittern. So, als sei das, was ich tat, das Natürlichste von der Welt.

      Ich durfte während seiner letzten Stunden bei ihm sein. Ich war bei demjenigen, der, seit ich denken kann, Tag für Tag für mich da gewesen war. Hier hatte ich keine Angst mehr. Ihn konnte ich streicheln. Ein letztes Mal. Ein gnädiges Schicksal ließ ihn friedlich und in Würde sterben.

      Man sagt: Der Mensch stirbt so, wie er gelebt hat.

      Meine Mutter hatte den Vater verloren und ich den Mann, der in so vielen Dingen mein Lehrer war. Für uns alle war er der Fels in der Brandung des Lebens, den mancher Schicksalsschlag angekratzt, aber über den nichts die Macht gehabt hatte, ihn stürzen zu lassen. Ihm verdanke ich meine Liebe zur Natur, zu den Tieren. Er lehrte mich Dinge überhaupt wahrzunehmen, mit wachen Augen zu sehen, zu beobachten. Ich kann Freude empfinden an dem tanzenden Blatt im Herbstwind, an dem Geruch des Waldes nach einem Regenschauer, an flaumweichen Schneeflocken, die alles in eine Märchenwelt verzaubern. Ich staune, wenn aus einem winzigen Samen etwas so Prachtvolles wie eine Sonnenblume emporwächst. Ich finde es herrlich, barfuß über ein Stoppelfeld zu laufen und an einem Sommertag auf einer Wiese zu liegen und in den blauen Himmel über mir zu schauen. Mehr nicht, nur schauen und träumen und längst Vergangenes wieder sehen.

      Ich mag einen feuchten Hundekuss, und es macht mich glücklich, wenn ich meine Wange an die samtenen Nüstern eines Pferdes legen kann, und es mir seinen warmen Atem ins Gesicht pustet. Ich liebe den Wald und seine heilsame Stille und wenn mir danach ist, umarme ich Bäume.

      Ob ich es noch kann? Bis auf den höchsten Ast eines Apfelbaumes klettern, mich so lang machen, dass ich mit den Fingerspitzen auch den Apfel ganz da oben ertasten kann. Dann würde ich sie wieder hören, die Stimme meines Großvaters: „Na, kriegst du den auch noch?“ Und ich würde ihn wieder sehen, wie er erwartungsvoll zu mir hinaufblickt.

      Von ihm habe ich das Positiv-Denken und die Gabe, Menschen zu erkennen. Er brachte mir bei, da Gelassenheit und Besonnenheit zu zeigen, wo beides angebracht ist. Ich bin sicher, wäre ich nicht so schüchtern, ich könnte ganze Gesellschaften unterhalten, genau wie er es konnte und liebte.

      Wenn es so etwas gibt wie Stolz und wenn man solch ein Gefühl zulassen darf, dann ... Dann würde ich sagen: „Opa, darauf, dass ausgerechnet du mein Großvater warst, darauf bin ich mächtig stolz!“

      Am Tag seiner Beerdigung begann meine Esssucht. Die Stärke, mich dem Trennungsschmerz zu stellen, besaß ich nicht. Damals noch nicht. Wieder war eine Verbindung zu meiner Kindheit unwiderruflich zerstört.

      Ich wählte die Flucht, versuchte mich zu betäuben. Letztendlich war es nur ein Hinauszögern der Trauer. Der Trauer um diesen Mann und um alles, wofür er gestanden, um alles, was ich auf immer verloren hatte. Aber der Trauer entgeht man nicht. Sie lauert einem auf, und früher oder später muss man sich ihr stellen.

      Für mich wurde daraus ein langes, zähes Ringen: Die Suche nach meinem Weg im Leben, nach meinen Zielen, meinen Wünschen, nach mir selbst. Diesen Weg bin ich alleine gegangen, musste ihn alleine gehen. Nichts war mir damals klarer als das. Ich habe mein Ziel erreicht - auch über Umwege.

      Aus dieser Zeit, aus diesem Wissen heraus, stark genug zu sein, um mich nicht aufzugeben, daraus schöpfe ich einen Großteil meiner Kraft.

      Ein `Ich kann nicht` gibt es seither für mich nicht mehr. Auch ein Mosaiksteinchen zu diesem Puzzle, das Wozu heißt.

      Beim dritten Mal erlebten wir ein qualvolles, ein elendes Sterben mit. Ein Sterben, verlängert durch eine Apparatemedizin, die in all ihren Möglichkeiten ausgenutzt wurde, deren Einsatz von niemandem hätte verhindert werden können - einzig von der Patientin selbst. Nur war diese längst schon nicht mehr in der Lage sich zu artikulieren. Längst war sie gefangen in ihrer eigenen Gedanken- und Gefühlswelt, tauchte nur manchmal aus dem Nebel der Betäubungsmittel und aus den Grenzen ihrer Krankheit auf und kehrte zu uns zurück.

      Die Tochter kapitulierte unter dem psychischen Druck der Ärzte - `Wollen Sie das verantworten?` - und wir ließen zu, dass der Leidensweg einer 83jährigen Frau um weitere Wochen verlängert wurde. Durch eine Operation, deren Sinnlosigkeit wir von Anfang an mit brutaler Gewissheit vor Augen hatten.

      Damals war ich 34, und zu dritt begleiteten wir meine `kleine Oma` bis zum Ende. Gemeinsam mit meiner Mutter und meiner Schwester wachte ich drei Tage und fast drei Nächte an ihrem Krankenbett. Im Morgengrauen des vierten Tages wurde sie erlöst.

      Die Wochen zuvor waren grausam und menschenunwürdig.

      Ein Abbild dessen, was sie durchlitten hatte, blieb auf ihrem Antlitz zurück. Sie hatte es mit bewundernswerter Tapferkeit erduldet.

      Diese Oma hatte ich geachtet und respektiert, aber ich war ihr nie richtig nah gewesen. Wir waren zu verschieden in unserem Denken und Handeln. Irgend etwas mir Fremdes war in ihrem Wesen, etwas, das sich mir nicht erschloss. Es blieb ein gewisser Abstand, ein Rest von Zurückhaltung.

      Nun war sie gestorben. Wir hatten mit ansehen müssen, wie die Krankheit ständig mehr Besitz von ihr ergriff, sie aufzehrte, ihren Körper und ihren Geist verfallen ließ. Sie dämmerte dahin, auf der Grenzlinie zwischen Leben und Tod. Wochenlang, weil sie zu stark war, den Kampf aufzugeben. Denn das war sie - eine Kämpferin zeit ihres Lebens. So manche Begebenheit kam uns wieder in den Sinn, während wir neben ihr wachten. Wir hatten viel Zeit. Zeit zum Reden. Zeit zum Schweigen. Zeit zum Lachen. Ja, auch zum Lachen.

      Da saßen wir am Sterbebett einer Kranken, erinnerten uns an deren liebenswert schrullige Angewohnheiten der letzten Jahre, und uns wurde ein Lachen geschenkt. Inmitten dieser Atmosphäre aus Leid,