Alfred Bekker

Palazzo der Geister


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Archäologe - auf einer Forschungsreise nach Südamerika verschollen war, be-

      wohnte sie das riesige, im viktorianischen Stil gehaltene Gebäude allein mit mir.

      Meine Eltern waren früh gestorben, und Tante Erie hatte mich an Kindes statt bei sich aufgenommen. Wie eine eigene Tochter hatte sie mich großgezogen.

      Tante Erie war es auch gewesen, die mich nach und nach mit der Welt des Übersinnlichen vertraut gemacht und mich auf meine eigene leichte seherische Gabe hingewiesen hatte. Eine Gabe, die sich in Träumen, Visionen und Ahnungen zeigte, in denen ich hin und wieder schlaglichtartig den Abgrund von Raum und Zeit überwinden konnte. Lange Zeit hatte ich mich gegen die Tatsache, eine solche Fähigkeit zu besitzen, gesträubt. Ich wollte es nicht akzeptieren, bis ich nach und nach begriff, daß ich lernen mußte, damit umzugehen.

      Und das war nicht leicht.

      Noch immer betrachtete ich diese Gabe manchmal mehr als einen Fluch. Wissen ist nämlich durchaus nicht nur Macht, wie es irgendwo so schön heißt. Es kann einen auch zu seinem Gefangenen machen. Ein Verhängnis auf sich oder andere zukommen zu sehen, ohne etwas dagegen tun zu können, ist etwas Furchtbares.

      Genauso furchtbar ist es, nur einen kleinen Ausschnitt der Zukunft zu sehen. Ein winziges Teil in einem Puzzle, mehr war es oft nicht.

      Ich stellte meinen roten 190er Mercedes in der Einfahrt der Villa ab, klemmte das Archivmaterial unter den Arm und sog die kühle Abendluft ein. Nebel kroch durch die Straßen Londons. Es war naßkalt, und ich schlug mir den Kragen meiner Jacke hoch.

      James hat recht! ging es mir unwillkürlich durch den Kopf.

      Italien ist um diese Jahreszeit wirklich eine Alternative...

      Wenig später betrat ich die Villa. Die obere Etage hatte ich für mich. Der Rest war ein für Außenstehende ein etwas eigenartig wirkendes Kuriositätenkabinett.

      Tante Eries Interesse hat seit jeher dem Übersinnlichen und allen unerklärlichen Phänomenen gegolten. Und so hatte sie auf diesem Gebiet in jahrelanger Sammlertätigkeit eines der größten Privatarchive Englands zusammengetragen. Alte Schriften, obskure Bücher, die in magischen Zirkeln kursier-ten waren ebenso darunter wie zahllose Presseartikel. Dazu kamen noch zahlreiche okkulte Gegenstände. Pendel und Geistermasken unterbrachen die langen Reihen dicker, staubiger Folianten, von denen die Regale nur so überquollen.

      Dazu kamen noch die vielen archäologischen Fundstücke, die ihr verschollener Mann Fred von seinen Forschungsreisen mitgebracht hatte. Artefakte vergangener Kulturen, Götterstatuen und rätselhafte Tonscherben, deren Schriftzeichen bislang niemand hatte entschlüsseln können.

      Tante Erie wußte nur zu gut, daß das Gebiet des Okkultismus ausgesprochen anziehend auf alle möglichen Beutelschneider und Betrüger wirkte. Die Harmloseren davon wollten sich nur wichtig machen und einmal im Leben in den Medien erwähnt werden. Den anderen ging es um Macht oder das Geld ihrer naiven Anhänger.

      Aber auf der anderen Seite war Tante Erie davon überzeugt, daß es einen Rest an unerklärlichen Phänomenen gab, bei dem es sich nicht um die Machenschaften von Scharlatanen oder Sinnestäuschungen handelte.

      Es waren einfach Vorkommnisse, die mit den Mitteln der heutigen Wissenschaft noch nicht zu erklären waren. Um die herauszufiltern, darum ging es Tante Erie. Dieser Aufgabe hatte sie ihr Leben gewidmet.

      Ich fand sie in der Bibliothek.

      Sie saß in einem der großen Ohrensessel und war über der Lektüre eines dicken, in Leder eingeschlagenen Bandes eingeschlafen.

      Ich lächelte, als ich sie so da liegen sah.

      Eigentlich wollte ich mich wieder aus dem Raum schleichen, aber kaum hatte ich einen Fuß über die Türschwelle gesetzt, knarrte eine der alten Parkettbohlen.

      "Ah, Jane!" hörte ich Tante Eries Stimme. Ich drehte mich herum. Sie klappte das Buch zu und legte es auf einen kleinen runden Tisch. "Ich bin zwischendurch einfach eingeschlafen", meinte sie dann kopfschüttelnd, während sie sich erhob.

      "Ich wollte dich nicht wecken!"

      "Schon gut! Möchtest du eine Tasse Tee?"

      "Da sage ich nicht nein..."

      Tante Erie sah auf die Mappe unter meinem Arm. "Mr. Bennett scheint von dir zu erwarten, daß du auch noch nachts recherchierst!" Sie schüttelte den Kopf. "Ich wette, der Mann schläft in seinem Bürosessel..."

      Ich lächelte. "Manchmal kommt mir das auch so vor. Aber was das hier angeht..." Ich deutete auf die Mappe. "Es hat mich einfach gefesselt..."

      "Etwas, wobei ich dir helfen kann? Du weißt, ich tue das gerne..."

      Immer wieder hatte Tante Erie mir bei Recherchen geholfen, die sich mit okkulten oder übersinnlichen Phänomenen befaßten. Ihre Sammlung war dabei oft weitaus ergiebiger als das riesenhafte Zeitungsarchiv der LONDON HAUTE COUTURE, das in den Kellern des Verlagsgebäudes untergebracht war.

      Ich legte Jacke, Handtasche und die Mappe in einem der Sessel ab und dann gingen wir gemeinsam in die Küche, wo Tante Erie den Tee aufsetzte. In knappen Worten erzählte ich ihr von der bevorstehenden Italien-Reise.

      "Du bist zu beneiden, Jane", sagte sie daraufhin.

      "Weshalb? Wegen der Begegnung mit einem Mann wie Tardelli -

      oder wegen der italienischen Sonne und der Aussicht, einige Tage in einem traumhaften Palazzo zu verbringen?"

      Tante Erie hob die Augenbrauen.

      "Wegen beidem!" erwiderte sie.

      "Tardellis Frau Franca starb unter sehr mysteriösen Umständen", begann ich dann auf den Inhalt meiner Archivmappe einzugehen. "Seitdem hat sich der Mode-Zar in der Öffentlichkeit ziemlich rar gemacht. Zumindest, was sein Privatleben angeht. Auf seinen Schauen in Mailand oder Paris sieht man ihn kurz eine Kußhand dem Publikum zuwerfen und das war es dann. Kein Wort an die Presse, kein Interview und schon gar keine Berichte über seine Familie..." Ich strich mir mit einer schnellen Geste einige Haare aus dem Gesicht, die sich aus meiner Frisur herausgestohlen hatten.

      Nachdenklich sah ich Tante Erie dabei zu, wie sie mit geübten, tausendfach erprobten Handgriffen den Tee auf ihre ganz spezielle Weise zubereitete. Jeden dieser Handgriffe kannte ich aus der Zeit, als ich noch ein junges Mädchen gewesen war.

      "Was war mit seiner Frau?" fragte sie dann.

      "Sie wurde ermordet. Von wem, konnte nie ermittelt werden."

      "Traurig - aber leider kein Einzelfall!"

      "Tante Erie, die Tardellis leben im Palazzo Luciani, dem ehemaligen Herrensitz der Grafen Luciani. Vicente, der letzte Sproß dieser Familie, verfiel dem Wahnsinn und wurde als Serienmörder überführt. Kurz bevor die Polizei ihn verhaften konnte, brachte er sich um. Der Palazzo war verwaist und Tardelli erwarb ihn preiswert. Jahre später kam Tardellis Frau auf eine Art und Weise um, die deutlich die Handschrift des wahnsinnigen Vicente Luciani trug, der seine Opfer zu erwürgen pflegte und ihnen anschließend eine Haarsträhne abschnitt..."

      "Nun, es kommt doch immer wieder zu Nachahmungstaten!"

      Ich nickte.

      "Aber es gab Zeugen, die den toten Luciani in der Nähe des Tatortes gesehen haben wollten - mit jener Schußwunde an der Schläfe, die er sich bei seinem Selbstmord zugezogen hatte!

      Und über die Jahre hinweg gab es immer wieder derartige Fälle. Ein italienischer Kriminalkommissar verglich schließlich die am Tatort zurückgelassenen Fingerabdrücke mit jenen, die man von dem toten Vicente Luciani genommen hatte.

      Sie stimmten überein..." Ich seufzte. "Zumindest, wenn man nach den Pressemeldungen geht, die ich gefunden habe."

      "Das klingt wirklich mysteriös", gab Tante Erie zu. Sie wirkte plötzlich sehr in sich gekehrt und nachdenklich.

      "Luciani...", murmelte sie vor sich hin. "Mir ist, als hätte ich diesen Namen auch schon gehört. Aber ich kann ihn im Moment nicht einordnen... Kann sein, daß auch in meiner Sammlung