Stefan Zweig

Drei Dichter ihres Lebens


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denn nirgends wird der sittliche Umriß eines Menschen so vollkommen verräterisch wie in seinem Selbstverrat. Nur dem gereiften, dem seelisch wissenden Künstler kann sie gelingen; darum ist auch die psychologische Selbstdarstellung erst so spät in der Reihe der Künste erschienen; sie gehört einzig unserer, der neuen und der noch werdenden Zeit. Erst mußte das Wesen Mensch seine Kontinente entdeckt, seine Meere durchmessen, seine Sprache erlernt haben, ehe es den Blick wandte in das Weltall seines Innern. Das ganze Altertum ahnt noch nichts von diesen geheimnisvollen Wegen: seine Selbstschilderer, Cäsar und Plutarch, reihen nur Fakten und sachliche Geschehnisse aneinander und denken nicht daran, nur einen Zoll tief ihre Brust zu eröffnen. Bevor er seine Seele belauschen kann, muß der Mensch ihrer Gegenwart bewußt geworden sein, und diese Entdeckung beginnt wahrhaft erst mit dem Christentum: die »Confessiones« des Augustinus eröffnen die innere Schau, doch ist der Blick des großen Bischofs im Bekennen weniger sich selbst zugewandt als vielmehr der Gemeinde, die er an dem Exempel seiner Wandlung zu bekehren, zu belehren hofft; sein Traktat will als Gemeindebeichte wirken, als vorbildliche Buße, also teleologisch, einem Zwecke zu und nicht sich selbst als Antwort und Sinn. Noch müssen Jahrhunderte hingehn, ehe Rousseau, dieser merkwürdig bahnbrechende, überall Tor und Riegel aufsprengende Mann, ein Selbstbildnis schafft um seiner selbst willen, selbst erstaunt und erschreckt von der Neuheit seines Unterfangens. »Ich plane ein Unternehmen«, hebt er an, »das kein Vorbild hat ... ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeichnen, und dieser Mensch bin ich selbst.« Aber mit der Gutgläubigkeit jedes Anfängers vermeint er noch das »Ich als eine unteilbare Einheit, als etwas Kommensurables« und die »Wahrheit« als eine faßbare und tastbare, noch glaubt er naiv »mit dem Buche in der Hand, wenn die Posaune des Gerichts erschallt, vor den Richter treten zu können und sprechen zu dürfen: Dies bin ich gewesen.« Unser späteres Geschlecht hat nicht Rousseaus brave Gutgläubigkeit mehr, dafür ein volleres, ein kühneres Wissen um die Vieldeutigkeit und Geheimnistiefe der Seele: in immer feineren Zerspaltungen, in immer verwegeneren Analysen versucht seine selbstanatomische Neugier Nerv und Ader jedes Gefühls und Gedankens bloßzulegen. Stendhal, Hebbel, Kierkegaard, Tolstoi, Amiel, der tapfere Hans Jäger entdecken ungeahnte Reiche der Selbstwissenschaft durch ihre Selbstdarstellung, und ihre Nachfahren werden, inzwischen mit feineren Instrumenten von der Psychologie versehen, immer weiter, Schicht um Schicht, Raum um Raum vordringen in unsere neue Welt-Unendlichkeit: in die Tiefe des Menschen.

      Das mag Trost bieten all jenen, die einen Niedergang der Kunst innerhalb einer technischen und wachgewordenen Welt unablässig verkündet hören. Die Kunst endet nie, sie wendet sich nur. Zweifellos mußte die mythische Bildnerkraft der Menschheit nachlassen: immer ist ja Phantasie am mächtigsten im Kindwesen, immer erfindet jedes Volk sich nur in seiner Lebensfrühe Mythos und Symbol. Aber für die schwindende Traumkraft tritt die klare und dokumentarische des Wissens ausgleichend hervor; man sieht diese schöpferische Versachlichung in unserm zeitgenössischen Roman, der heute deutlich am Wege ist, exakte Seelenwissenschaft zu werden, statt frei und verwegen zu fabulieren. Aber in dieser Bindung von Dichtung und Wissenschaft wird die Kunst durchaus nicht erdrückt, es erneuert sich nur ein uraltes geschwisterliches Band, denn als die Wissenschaft begann, bei Hesiod und Heraklit, war sie Dichtung noch, dunkeltöniges Wort und schwingende Hypothese; nun eint sich nach tausenden Jahren der Trennung wieder der forschende Sinn dem schöpferischen an, statt Fabelwelten schildert die Dichtung nunmehr Magie unserer Menschlichkeiten. Nicht aus dem Unbekannten ihres Erdballs kann sie mehr ihre Kräfte ziehen, denn entdeckt sind alle Tropen und antarktischen Zonen, durchforscht alle Tiere und Wunder der Fauna und Flora bis an den amethystenen Grund aller Meere. Nirgends kann sich Mythos im Irdischen mehr, es sei denn an den Gestirnen, anranken in unserem ausgemessenen, um und um mit Namen und Zahl bezeichneten Erdball – so wird sich der ewig Erkenntnis wollende Sinn mehr und mehr nach innen wenden müssen, seinem eigenen Mysterium zu. Das internum aeternum, die innere Unendlichkeit, das seelische Weltall, eröffnet der Kunst noch unerschöpfliche Sphären: die Entdeckung ihrer Seele, die Selbsterkennung, wird die künftig immer kühner gelöste und doch unlösbare Aufgabe unserer wissend gewordenen Menschheit sein.

      Salzburg, Ostern 1928

      Casanova

       Il me dit qu'il est un homme libre, citoyen du monde.

       Muralt über Casanova in einem Brief an Albrecht von Haller, 21. Juni 1760

      Casanova figuriert als Sonderfall, als einmaliger Glücksfall innerhalb der Weltliteratur, vor allem deshalb, weil dieser famose Scharlatan eigentlich genauso unberechtigt in das Pantheon des schöpferischen Geistes geraten ist wie Pontius ins Credo. Denn mit seinem dichterischen Adel steht's nicht minder windig als mit jenem frech aus dem Alphabet zusammengeklitterten Chevalierstitel de Seingalt: seine paar Verse, hastig zwischen Bett und Spieltisch zu Ehren eines Dämchens hinimprovisiert, muffeln nach Moschus und akademischem Leim, und wenn unser guter Giacomo gar zu philosophieren anfängt, tut man gut, sich die Kinnbacken gegen Gähnkrampf zu sperren. Nein, er gehört sowenig zum dichterischen Adel, Casanova, wie in den Gotha, auch hier Parasit, Eindringling ohne Rechte und Rang. Aber ebenso verwegen, wie er's zeitlebens zuwege bringt, als schäbiger Schauspielersohn, fortgejagter Priester, abgetakelter Soldat, anrüchiger Kartendreher, bei Kaisern und Königen zu verkehren und schließlich in den Armen des letzten Edelmannes, des Prinzen de Ligne, zu sterben, hat sein nachschweifender Schatten sich unter die Unsterblichen eingedrängt, obzwar kleiner Schöngeist scheinbar nur, unus ex multis, Asche im Streuwind der Zeit. Aber – kurioses Faktum! – nicht er, sondern alle seine berühmten Landsleute und sublimen Poeten Arkadiens, der »göttliche« Metastasio, der edle Parini e tutti quanti sind Bibliotheksschutt und Philologenfutter geworden, indes sein Name, in ein respektvolles Lächeln gerundet, noch heute von allen Lippen schwebt. Und aller irdischen Wahrscheinlichkeit nach wird seine erotische Ilias noch Dauer und entzündete Leser finden, wenn längst »La Gerusalemme liberata« und der »Pastor fido« als würdige historische Antiquitäten ungelesen in den Bücherschränken stauben. Mit einem Coup hat der gerissene Glücksspieler alle Dichter Italiens seit Dante und Boccaccio überspielt.

      Und noch toller: für so unendlichen Gewinst wagt Casanova gar keinen Einsatz, er hat schlankweg die Unsterblichkeit um ihren Preis geprellt. Nie erahnt dieser Spielmensch die unsagbare Verantwortung des wirklichen Künstlers. Er weiß nichts von Nächten, die durchwacht, von Tagen, die hingebracht werden müssen im dumpfen, sklavischen Feilwerk der Worte, bis endlich der Sinn rein und regenbogenhaft die Linse der Sprache durchstrahlt, nichts von der vielfältigen und doch unsichtbaren, von der unbelohnten, oft erst nach Menschenaltern erkenntlichen Werkarbeit des Dichters, nichts auch von seinem heroischen Verzicht auf Wärme und Weite des Daseins. Er, Casanova, hat, weiß Gott, das Leben sich immer nur leicht gemacht, kein Gran seiner Freude, kein Quentchen seiner Genießerei, keine Stunde seines Schlafes, keine Minute seiner Lust der strengen Göttin Unsterblichkeit geopfert: er rührt sein Lebtag keinen Finger arbeitend um den Ruhm, und doch fällt er ihm, dem Glücklichen, strömend in die Hände. Solange er noch einen Goldfuchs in der Tasche, einen Tropfen Öl in seiner Liebeslampe spürt, denkt er nicht daran, sich die Finger ernstlich mit Tinte zu beschmutzen. Erst hinausgeworfen aus allen Türen, ausgelacht von den Frauen, einsam, bettelhaft, impotent, erst dann flüchtet er, ein verschabter mürrischer Greis, in die Arbeit als Surrogat des Erlebens; und nur aus Nichtlust, aus Langeweile, aufgekratzt von Ärger wie ein zahnloser Köter von der Räude, macht er sich knurrend und murrend daran, dem abgestorbenen siebzigjährigen Casaneus-Casanova sein eigenes Leben zu erzählen.

      Er erzählt sich sein Leben – dies seine ganze literarische Leistung –, aber freilich, welch ein Leben! Fünf Romane, zwanzig Komödien, ein Schock Novellen und Episoden, eine traubige, überreife Fülle scharmantester Situationen und Anekdoten, eingekeltert in eine einzige strömende und überströmende Existenz: hier erscheint eben ein Leben, selbst schon füllig und rund als vollendetes Kunstwerk ohne ordnende Beihilfe des Künstlers und Erfinders. Und so löst sich auf überzeugendste Weise jenes erst verwirrende Geheimnis seines Ruhmes – denn nicht, wie er sein Leben beschreibt und berichtet, zeigt Casanova als Genie, sondern wie er es gelebt. Was ein anderer erfinden muß, hat er atmend erfahren, was ein anderer mit dem Geist, hat er mit seinem warmen wollüstigen Leib gestaltet, darum brauchen hier Feder und Phantasie die Wirklichkeit nachträglich nicht zeichnerisch auszuschmücken: