Sabine Walther

Als der Fluss zu Staub zerfiel


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Fabiola-Internat, anschließend kannst du an der St.-Beda-Hochschule studieren. Du musst dir also keine Sorgen machen“, er räusperte sich, „ganz egal, was passiert.“

      Das Brötchen hatte Saletta vergessen, aber ihr Mund stand wohl noch offen, denn nur so konnte es passieren, dass ihr genau in diesem Moment eine Wespe hineinflog, die die Gunst des Augenblicks nutzte und ordentlich zustach.

      Während sie schrie und heulte – sie wusste selbst nicht genau, ob nur wegen des Wespenstiches oder auch wegen all dem, was ihre Eltern ihr angetan hatten und ihr in einer unglaublichen Gefühlskälte just in diesem Moment antaten, sahen diese sich mit bedeutsamen Blicken an: Es war ein Zeichen. Alles war nur Zeichen, das auf etwas deutete.

      Saletta rannte schreiend hinaus, erreichte heulend die Schule, sprach mit niemandem. Am Nachmittag flüchtete sie zu Jenny, die gemeinsam mit ihrer Mutter eine Überraschungsparty für sie vorbereitet hatte.

       Ruf sie wenigstens an und sag ihnen, wo du bist.

      Es war nicht das erste Mal, dass sie die Stimme hörte. Aber das erste Mal, dass sie ihr bewusst nicht folgte.

       Nur ein kurzer Anruf, eine Nachricht aufs Band. Ein Zeichen der Versöhnung.

      

      Aber sie wollte nicht, heulte sich bei Jenny kräftig aus, tanzte und sang dann mit ihren Freunden, war froher und übertrieben lauter Dinge, bis die Nachbarn die Polizei riefen.

      Zum ersten Mal im Leben hatte sie einen Jungen geküsst. Zum ersten Mal im Leben war sie glücklich gewesen. Und betrunken. Vergaß die Zeit, vergaß ihre Eltern, vergaß diesen ewigen Widerstreit zwischen Vernunft, Pflichterfüllung und dem Leben, nach dem sie sich sehnte.

      Sie hätten die Nachricht ohnehin nicht erhalten. Sie kamen in eben dem Moment bei einem Autounfall ums Leben, als Jenny die erste CD eingelegt hatte. Ein schwarzer Audi hatte ihnen die Vorfahrt genommen. Sie waren sofort tot.

      Der Fahrer oder die Fahrerin war vom Unfallort geflüchtet.

      5. Jenny

      Saletta hörte das Klingeln, reagierte aber nicht. Sie erwartete niemanden, hatte niemandem etwas mitzuteilen. Als dann aber die kleinen Steinchen gegen die Fensterscheibe prasselten, wusste sie, wer draußen stand. Wie hatte sie hergefunden? Wieso gerade jetzt?

      „Jenny!“

      Saletta fiel ihr in die Arme.

      „Sanna, oh mein Gott, ich freu mich!“, jauchzte die, doch hielt sie Freude wohl nicht für angemessen, ging sofort in einen zärtlich-leisen Tonfall über, strich der Freundin wie früher die Strähnen aus dem Gesicht.

      „Wie geht es dir denn jetzt?“

      Sie wusste es also bereits.

      „Bist du deshalb hergekommen?“

      Sie nickte, sah die Freundin forschend an.

      „Ich will nicht darüber sprechen.“

      „Sanna, …“

      „Rotwein?“

      „Ja, gern.“

      Saletta ging in die Küche, um eine Flasche Rotwein zu holen – Chianti, wie in ihren besten Zeiten, nur dass sie ihn nicht mehr im Supermarkt um die Ecke, sondern im Bioladen erstand. Mit zwei Gläsern und dem festen Vorsatz bewaffnet, Maschas Tod nicht zu zerreden, sich nicht trösten lassen zu wollen, ging sie zu Jenny zurück. „Rauchst du noch? Soll ich dir einen Aschenbecher holen?“„Ja, leider konnte ich es noch nicht lassen.“

      Kaum hatte sie den Aschenbecher vor die Freundin hingestellt, nestelte Jenny auch schon eine Packung Camel Filter aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an. Sie schwiegen, ein würziger Nebel breitete sich zwischen ihnen aus, als wollte er sie zu einer stummen Sprechblase verbinden. Jenny erblickte das Fotoalbum, das aufgeschlagen auf dem Boden lag.

      „Ach du liebe Güte, schau nur, wie wir da ausgesehen haben“, rief sie lachend und verstummte erneut. „Dein Geburtstag“, murmelte sie. „Jetzt bist du ganz allein, Liebes“, sagte sie dann in ihrem zärtlichen Große-Schwester-Tonfall.

      Saletta lief ein Schauer über den Rücken. Es klang, als würde der Freundin dieser Gedanke Freude bereiten. Aber sie kam nicht dazu, sich lange mit dem Gedanken aufzuhalten. Jenny jauchzte schon wieder. „Meine Abschlussfeier! Ach herrje, wer hat denn das Foto gemacht?“

      „Na ich, weißt du nicht mehr?“

      „Stimmt, du warst ja daaa …“

      Warum zog sie die Vokale so in die Länge.

      „Selbst schon Frau Doktor, während ich gerade mit Ach und Krach den Magister schaffe, tss.“

      „Ach Jenny, fang nicht wieder damit an. Ich hatte es einfach leichter.“

      „Nein“, sagte Jenny traurig, „du hattest es nicht leichter. Du warst besser. Und bist einfach abgehauen. Mit dir zusammen hätte ich es geschafft.“

      Saletta antwortete nicht. Sie hatte ja recht. Nach dem Tod ihrer Eltern war sie aufs Internat gekommen, aber wann immer sie konnte, war sie bei Jenny und ihrer Familie zu Gast. Erst als sie zu studieren begannen, trennten sich ihre Wege; Jenny besuchte eine staatliche Universität, studierte Literaturwissenschaft und brachte sich mit vielen Gelegenheitsjobs über die Runden; Salettas Weg führte auf eben jene Elite-Hochschule, an der ihre Eltern ihr bereits einen Platz gesichert hatten und an der sie für 20.000 Euro im Jahr Geschichte und Mediävistik studierte.

      Alles war für sie vorbereitet, nicht einmal selbst bewerben musste sie sich. Die Hochschule trat von sich aus an sie heran. Saletta hatte sich nie darüber gewundert, es erschien ihr selbstverständlich. Ihre Eltern waren immer Meister darin gewesen, sie wegzuorganisieren, wie sie es nannte. Und da sie sowohl reich als auch von besonderem Ruf waren, wurden sie in ihrer Welt stets mit offenen Armen empfangen.

      Ihr selbst erging es nicht anders. Wohin sie auch kam, ihr Name provozierte die übliche Frage: „Sind Sie etwa die Tochter von …“ Auch dies änderte sich endlich, nachdem sie Sascha geheiratet und seinen Namen angenommen hatte. Aber bis dahin empfand sie ihre ewige Bevorzugung als so ungerecht, dass sie sich Jenny gegenüber schämte. Andererseits war sie es ihren Eltern schuldig, zumindest ein gutes Studium abzuleisten. Denn trotz aller Härte und Kälte, trotz der großen Wut, die sie ihnen gegenüber verspürte, hatte sie es sich selbst nie vergeben, dass sie im Streit auseinandergegangen waren.

      Später war Jenny dann in Kreise geraten, die Saletta äußerst suspekt schienen, traf sie sich mit Studenten, die sich als aufsteigende Sterne am Dichterhimmel betrachteten und nach langen Zügen an kreisenden Joints zu der überragenden Erkenntnis gelangten, dass es an der Zeit sei, jegliche Form zu überwinden, um zum Kern der Dichtung vorzustoßen. Ein Kern, der unsagbar sei, also gleichsam der Tod des Dichters.

      Was wiederum dazu führte, dass man die Ansicht verkündete, der beste Dichter sei der, der gar nicht schreibe, weil er sich selbst überwinde und damit auch die Form, den Zwang, die Diktatur des leeren Blattes, die zu Fehlinterpretationen führende Rezeption des Lesers. Oder einer, der früh Selbstmord beging. Was ungefähr der Hälfte der Mitglieder der Verbindung dann nach und nach auch gelang, indem sie sich zu Tode soffen oder spritzten.

      Jenny hatte sie des Öfteren zu ihren Treffen eingeladen, aber Saletta konnte ihren Abscheu vor dieser Art, sich aus dem Leben zu drücken, nie überwinden. Am meisten widerten sie die Kerle aus den gutbürgerlichen Elternhäusern an, für die das alles nur eine spätpubertäre Episode war, ein Alibi, das Zeugnis, einmal gelebt zu haben, bevor man zurückkehrte und die Ansprüche der Eltern sittsam erfüllte.

      Die meisten, die starben, hatten ein solches Zurück allerdings nie gekannt, hatten niemanden, der sie rausboxte, konnten nicht in ihr Zimmer im Elternhaus zurück, sich die Wäsche reinwaschen, sich das zweite oder dritte Studium finanzieren lassen. Sie waren