Carina Zinkeisen

Geliebte Fillu


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schluckt schwer, zuckt dann aber mit den Schultern. „Ist lange her das Ganze. Außerdem ist er Mutters bester Freund und unterstützt die ganze Familie nach Kräften. Und er ist ein begnadeter Musiker, der Onkel Johannes, so nenne ich ihn. Ich bin froh, dass du da bist, hier bei mir. Du wirst mir zeigen, was es heißt zu leben, Fillu.“

      „Fillu“, gebe ich erstaunt zurück, ihre Worte im Geist sortierend.

      „Ich nenne dich so, nicht Marie und auch nicht so, wie man eine Marie bei euch in Österreich als Kosename nennen würde. Du bist meine Marie, und die nenne ich Fillu, da meine älteste Schwester auch Marie heißt und ich beide Marien voneinander unterscheiden möchte. Als ob es einer Unterscheidung bedarf.“

      Sie lacht herzlich und greift meine Hand.

      „Deine österreichische Heiterkeit wird uns norddeutschen Menschen gut tun. Mir gut tun, meiner Schwester und meiner Mutter, der ganz besonders.“

      Ich nicke lächelnd und erwider ihren Händedruck, die Berührung ihrer Haut aufsaugend.

      „Magst du mir dein Klavier zeigen? Und etwas für mich spielen“, frage ich sachte.

      Eugenie spielt ein Stück ihrer Mutter für mich. Sie ist gut, sehr gut sogar, aber ich kann ihre Nervosität fast greifen. Sie tut mir so leid, wie mir noch nie jemand leid getan hat. Das zweitjüngste von acht Kindern, die Liaison ihrer Mutter mit Brahms, die Nervenheilanstalt, in die ihr Vater kam. Sein früher Tod, als Eugenie fünf Jahre alt war. Das frühe abgeschoben werden zu Verwandten und in Pensionate, wenn die Mutter konzertierte und dabei die Welt bereiste. Was auch bedeutete, keine wirkliche Mutter zu haben. Was bin ich froh um meine unbeschwerte Kindheit und Jugend und auch um mein unbekümmertes Liesl.

      Ich trete zu Eugenie neben das Klavier und fahre mit meiner Hand über ihre linke Schläfe und Wange, voller Angst, dass sie ihr Gesicht von mir wegdreht und mich von sich stößt und voller Hoffnung, dass genau dieses nicht passiert. Ich spüre die Wärme ihrer Wange in meiner Hand. Sie scheint förmlich zu glühen und mein Herz klopft heftig gegen meine Brust.

      „Ich werde nie so gut spielen wie meine Mama oder auch mein Papa und der Papa von meiner Mama und ich werde nie konzertieren, ich bin viel zu aufgeregt dazu, Fillu“, murmelt sie leise vor sich hin und ich streiche vorsichtig von ihrer Wange hinab bis zu ihrem Schlüsselbein.

      „Das ist mir egal, Eugenie, ich lieb dich so wie du bist, so und nicht anders.“ Abrupt drehe ich sie zu mir her und küsse sie. Ich spüre ein Verlangen und Begehren, das ich immer geleugnet hatte und ich fühle, daß es Eugenie ähnlich geht. Ich spüre ihre Zunge an meiner und kann nur mit Mühe ein Stöhnen unterdrücken.

      Ich küsse sie und muss ganz plötzlich an Clara Schumann denken, Eugenies Mama und die beste Pianistin und Komponistin, die ich kenne, die man kennt. Einst ein Wunderkind und jetzt eine gefeierte Pianistin. Konzertiert auf allen Bühnen dieser Welt, neben der Marchesi mein absolutes Vorbild in der Welt der Musik. Sie wird meine Musik schätzen, überaus schätzen so wie Brahms es tat. Sie wird die Musikerin Marie Fillunger mögen, mit dem Menschen Marie Fillunger wird sie sich schwer tun. Sehr schwer tun, da bin ich mir ziemlich sicher, leider. Absolut sicher, denn ich kann Menschen sehr gut einschätzen und irre mich sehr selten. Fast nie irre ich mich.

      Die nächste Zeit vergeht wie im Fluge.

      Eugenie, oder wie ich sie zärtlich nenne, Genchen, zeigt mir Berlin und den Palais Raczinsky, in dem die neugegründete Hochschule für Musik untergebracht ist. Eugenie studiert hier seit dem Jahr 1869 Klavier und muss einiges nachholen, da sie oft gefehlt hat, weil sie ihre Mutter auf Konzertreisen begleitet hat. Immer wieder erzählt sie mir von der Reise nach England mit Mutter und Schwester. Sie ist mir eine treue Gefährtin und erleichtert mir das Eingewöhnen im fernen und fremden Berlin. Ich verliebe mich jeden Tag ein wenig mehr in sie, werbe um sie und genieße es, dass mein Werben angenommen wird. Ihr Klavierspiel ist von einer Zartheit und doch kraftvoll und sie spielt mit feinstem Verständnis. Was selbst ihre Mutter zugeben muß und Clara ist sonst nicht so sehr voll des Lobes, sondern eher streng und drückend überlegen. Was sie wohl dazu sagen würde, daß ich mich an den Küssen mit ihrer Tochter durstig und satt getrunken habe? Ich mag gar nicht daran denken. Nicht jetzt.

      Ich verziehe den Mund und nehme einen großen Schluck Limonade zu mir. Verliebt schaue ich mein Genchen an, die das gleiche tut und ihr Glas hebt. Mich breit anlächelt, ganz verliebt und mein Herz klopft wie verrückt.

      Es ist soweit, ich sitze Clara Schumann gegenüber, Eugenies Mama, die von der Kur am Meer zurückgekehrt ist.

      Eugenie wirkt in ihrer Gegenwart ein wenig wie ein verschrecktes Kaninchen und auch mir ist mulmig zumute. Clara, die gefeierte Konzertpianistin, Komponistin, aber auch ganz einfach, eine Frau und eine Mutter. Genau wie die meine, das muss ich mir vor Augen führen und tief durchatmen. Tief ein und ausatmen. Ganz ruhig.

      „Liebes Fräulein Fillunger, Brahms hat mir viel von Ihnen erzählt. Eine großartige Ellen haben Sie gesungen in Wien, versicherte mir Johannes nach der Aufführung. Auch die Herzogenbergs in Leipzig waren voll des Lobes, wie sie mir schrieben, die treuen Freunde. Das Lisl ist ja selber so hochbegabt in der Musik.“

      Clara Schumann seufzt und denkt wohl an das Leipzig ihrer Kindheit, während Eugenie mich verstohlen mustert. Wahrscheinlich sorgt sie sich wegen Lisl und denkt, dass ich Lisl anziehend finde. Ich schüttel unmerklich den Kopf und lächle Eugenie verstohlen an, daran denkend, sie auch mit der Lisl aus Leipzig bekannt zu machen.

      Clara lächelt mich an und reißt mich aus meinen Gedanken. „Und jetzt bekommen Sie den letzten Schliff hier zusammen mit meiner Tochter in unserem Berlin an der musikalischen Universität, eine Schülerin Ottilie Ebners und der Marchesi, Marie…“

      „Fillu, ich nenne sie Fillu“, sagt Eugenie ganz plötzlich und sieht ihre Mutter unsicher an „damit keine Verwechslungen mit unserer Marie zustande kommen. Nenn du sie doch auch so. Das wäre mir eine Freude.“

      „Fillu“, sagt Clara Schumann betont und sehr leise und hört sich dabei so an, als müsse sie es sich lange überlegen, mich so zu nennen.

      „Fillu, vielleicht wollen Sie mich am Klavier begleiten. Brahms bat mich, Ihnen Arrangements zu vermitteln und auch, daß ich Sie bei meinen Konzerten beteilige. Ich möchte wirklich gerne hören, wie Sie sich in Natur anhören. Eugenie schrieb an mich nach Kiel, wie herrlich Ihr Sopran sei. Sie war richtig schwärmerisch. Allein Ihre wunderbare Altstimme verspricht Großartiges.“

      Sie lächelt mich aufmunternd an und ich lächle breit zurück, einen kurzen Blick mit Eugenie austauschend, die mich stolz anschaut. Und auch ich bin stolz und ein klein wenig aufgeregt.

      Was für eine Gelegenheit, was für eine Chance!

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