Chef und Geliebten anzukündigen, sie würde die Aussage des verurteilten und schon einsitzenden Mörders Boris Stepkow vor Gericht bestätigen? Sie musste es Schiefer angedroht haben, sonst hätte der sie nicht so unter Druck gesetzt, dass sie schließlich zur Polizei ging, vor einem Staatsanwalt aussagte und um Zeugenschutz bat.
Rudi verschränkte die Hände hinter dem Kopf und versuchte vergeblich, seine Gedanken abzuschalten und einzuschlafen. Die Gedanken wirbelten weiter und kamen nicht zur Ruhe. War Schiefer der Mann, der vor fünfzehn Jahren auf Isa in Frankfurt wartete, als sie Rudi auf Lanzarote so unerbittlich in die Wüste schickte? War Schiefer der Vater von Jonas und Julia? Rudi starrte in die Rabenschwärze unter der Decke und fühlte sich plötzlich sehr unglücklich. Von der erhofften Freude, Isa wiederzusehen, verspürte er nichts.
Weit entfernt knattert die Drohne leise, aber noch deutlich zu vernehmen. Isa hatte fast den ganzen Liter Rotwein getrunken und war zuerst recht fröhlich und dann ziemlich rasch müde geworden, als sie sich im Fernsehen eine ausgesprochen alberne Komödie angesehen hatte, was sie wahrscheinlich wohl auch deshalb getan hatte, um nicht länger mit ihm reden zu müssen. Sie schlief im Zimmer über dem schmalen Flur gegenüber, das vergitterte Fenster war geklappt, und Rudi hatte zuletzt auch die Haustür kontrolliert, abgeschlossen und den schweren Innenriegel vorgeschoben. Dann erstarrte er und atmete schwer. Seine Zimmertür knarrte und wurde ganz vorsichtig aufgeschoben.
„Rudi?“, flüsterte eine Frauenstimme. „Schläfst du schon?“
Er holte tief Luft. „Nein“, sagte er in normaler Lautstärke. „Isa. Was ist los?“
„Ach, das ist gut.“ Sehen konnte er sie nicht, er ahnte nur den schwarzen Schatten, als sie an sein Bett kam und sich hinlegte, sich unter die Decke schob und ihm eine Hand auf die Brust legte. Er langte nach ihr und wollte sie an sich ziehen, aber sie sperrte sich: „Deswegen bin ich nicht gekommen“, flüsterte sie. „Rudi, da ist jemand im Haus.“
Er sagte nichts. Nach einem Liter Rotwein hörte auch er mal Gespenster, spürte Geister und roch kleine Schwefel-Teufelchen. Sie ahnte, was er dachte. „Nein, bestimmt, Rudi. Es ist nicht der Rotwein. Da ist jemand im Haus. Und ich glaube, der ist schon heute mittag gleichzeitig mit der Drohne gekommen und hält sich seitdem irgendwo verborgen.“
„Isa, wie soll der hereingekommen sein?“
„Durch ein Fenster?“
„Die sind alle vergittert und geschlossen. Oder hast du es irgendwo klirren und brechen hören?“
„Nein“, gab sie zu. „Rudi, ich habe trotzdem Angst.“ Dass sie sich dabei an ihn presste, war ja ganz angenehm, aber sie mussten schlafen, der morgige Tag würde anstrengend werden.
„Okay“, gab er nach. „Wo hast du deine Pistole? Du kannst sie entsichern und so neben deinem Bett liegen lassen, während ich einmal durchs Haus gehe und nachschaue.“
Er hatte sein schönes, neues Stück auf den Nachttisch gelegt, schob Isa sanft aus dem Bett und legte einen Arm um ihre Taille. Kein Zweifel, die Frau war plötzlich sehr viel schlanker geworden. Sie trug einen dünnen baumwollenen Schlafanzug mit kurzen Armen und kurzen Beinen und kicherte, als sie seine forschende Hand auf ihrem nackten Bauch spürte. „Zufrieden mit der Figur?“
„Oh ja, sehr.“
„Ihr Männer habt auch immer nur das eine im Kopf.“
„Im Kopf weniger, schöne Isa.“
Sie gluckste, für Sekunden von ihrer Angst abgelenkt. Sie mussten die Pistole aus ihrer Handtasche holen, die sie leichtsinnigerweise im Wohnraum neben der Couch hatte stehen lassen. Er nahm ihr die Waffe ab, schaute sich das Magazin an – sechs Patronen – lud durch, entsicherte und gab ihr die Beretta zurück. „Vorsicht, Isa. Gespannt und entsichert.“
Er wartete, bis sie in ihr Zimmer gegangen war und innen den Riegel vorgeschoben hatte, dann ging er in sein Schlafzimmer, holte die Akkulampe aus der Reisetasche und wartete lauschend unten im dunklen Wohnzimmer. Nichts zu hören, aber jetzt verspürte er auch das blöde Gefühl, dass sich noch jemand im Haus aufhielt. Anders als Isa hatte er gelernt und geübt, in solchen Fällen systematisch vorzugehen. Nichts zu sehen, nichts zu hören. Aber es roch verändert. Schweiß? - nein. Rasierwasser, Parfüm, Hautcreme? - Ja, so etwas in der Art, schwach, aber unverkennbar. In der albernen Fernsehkomödie, die sie gesehen hatten, war die Ehefrau ihm auf den Seitensprung gekommen, weil er nach dem Parfüm der Freundin roch. Rudi grinste in sich hinein. Er knipste die Lampe an und ging durch die Räume des Erdgeschosses, machte in allen Zimmern Licht, ohne einen unerwünschten Besucher zu entdecken und aufzuscheuchen oder Spuren zu finden, die ein Fremder hinterlassen hatte. Der Geruch von Parfüm, Seife, Rasierwasser oder Hautcreme wurde schwächer. Auch in den Zimmern des ersten Stocks gab es nichts Auffälliges und hier oben konnte er bei aller Konzentration auch nichts mehr erschnuppern. Alle Fenster und Türen waren okay. Er klopfte leise an ihre Tür, aber sie antwortete nicht, und in Erinnerung an ihre Schießkünste zog er es vor, nicht gewaltsam in ihr Zimmer zu poltern und sie aus dem Schlaf hochzureißen. Jetzt konnte er auch einschlafen.
Donnerstag, 12. Juni
Rudi wurde wach, weil irgendwo laute Musik spielte. Er schlug die Augen auf und sofort blendete ihn die helle Sonne. Acht Uhr. Er hatte gut geschlafen und fühlte sich topfit, bis auf den niedrigen Blutdruck. Weil er ein Gewohnheitstier war, stieg er zuerst in seinen Trainingsanzug und verschob das Waschen und Rasieren auf die Zeit nach dem Frühstück. Ohne Kaffee im Bauch sollte kein Mensch gezwungen sein, systematische Handlungen wie etwa Rasieren vorzunehmen. Er zog die Tür einen Spalt auf und rief laut: „Isa?“
„Auch schon wach, du Faulpelz? Auf, auf, Frühstück ist fertig.“ Sie musste in der Küche sein. Auch sie hatte sich in eine Art Hausanzug geworfen, strahlte vor Energie und räumte ein, dass sie im Vertrauen auf seine Sorgfalt sofort eingeschlafen sei.
„Was machen wir heute?“
„Das überlege ich noch.“
Dazu ging er in die kleine Diele, der schwere und offensichtlich vor kurzem geölte Innenriegel der Haustür war aufgezogen. Also doch! Leise lief er in sein Schlafzimmer zurück und nahm das Handy. Katrins Nummer war immer noch gespeichert, er drückte die Taste und wartete, bis sich eine Frau einstellte: „Ja?“
„Hallo, Katrin.“
„Ich werd' verrückt, mein fröhlicher Sesselmann.“
„Den du hoffentlich noch in guter Erinnerung hast.“
„Warum fragst du, willst du mich etwa besuchen?“
„Das auch, aber in erster Linie brauche ich deine Hilfe.“
„Wie das?“
„Katrin, ich bin mit einer Frau unterwegs, der man angedroht hat, sie zu ermorden.“
„Auf erotischen Pfaden unterwegs?“
„Im Rahmen eines Zeugenschutzprogramms. Offenbar haben wir in unserer Abteilung oder in der Staatsanwaltschaft einen Maulwurf, zwei Verstecke sind aufgeflogen und verbrannt, und heute Nacht ist ein Unbekannter in unserem Versteck gewesen, aus dem ich jetzt anrufe.“
„Was hat er gewollt?“
„Das weiß ich noch nicht, aber wahrscheinlich wartet er vor dem Haus und wird sich an uns dranhängen. Ich brauche für ein paar Tage eine sichere Wohnung, die wir bis zum kommenden Mittwoch benutzen können. Und da ist mir die Geschichte mit der geerbten Wohnung bei Bonn eingefallen. Hast du sie schon verkaufen können?“
„Nein, sie steht immer noch leer und wartet auf einen Käufer.“
„Meinst du, wir könnten dort für ein paar Tage und Nächte unterschlüpfen?“
Die Bekanntschaft mit Katrin Köhler verdankte er der deutschen Bahn. Sie saßen sich in einem Regionalexpress gegenüber, sie stand auf, um in das Gepäckfach zu greifen, als die Bahn so plötzlich und so ruckartig bremste, dass sie sich unfreiwillig auf seinen Schoß setzte. Sie