Anna Milow

Von einer, die auszog, einen Büstenhalter zu stehlen


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nicht. Sinnlos, darauf auch nur einen Gedanken zu verschwenden, sie würde mir nicht einmal zuhören.

      Was gab es noch für Möglichkeiten? Gab es überhaupt irgendjemand, den ich ins Vertrauen ziehen konnte, der mich verstand und der dann auch noch mit mir zu Gertrud ging, um mir den Büstenhalter zu kaufen? Nein, außer Kopfschütteln der Erwachsenen war auf geradem Wege einfach nichts zu erreichen. Da war ich mir sicher. Leider. Ich durfte jetzt auf keinen Fall noch einen Fehler machen. So einen wie mit Papa. Nur war Geduld damals wie heute nicht meine Stärke. Ich wollte diesen Büstenhalter – sofort!

      Offensichtlich hatte ich keine andere Wahl: Ich musste es bis auf die Straße schaffen und dann den Bürgersteig entlanglaufen. Bis dahin war es in jedem Fall machbar, überlegte ich. Aber dann? Wie sollte ich in das Geschäft kommen? Ohne Schlüssel? Ich musste in den Laden einbrechen! Bei dunkler Nacht. So wie es Einbrecher gewöhnlich tun. Sie schleichen nachts zum Einsatzort und schlagen Fenster ein. Das hatte mir mein Opa oft erzählt. Der sprach immer von Spitzbove – Spitzbuben. Dann stehlen sie sich heimlich hinein, klauen Gold und Silber, so beschrieb es mein Großvater, und gingen wieder. Einbrechen war meine einzige Chance. Was für ein Wahnsinn! Der Gedanke daran machte mich ganz elend. Das wäre das Aus für mich als gutes Christenkind. Jesus würde mich sicher fallen lassen. Oder? Nein, der würde mir wahrscheinlich wenigstens zuhören.

      Jesus, das wusste ich, war nicht zuständig für Büstenhalter – aber er ist zu den Menschen gekommen, so hatte es der Pastor doziert. Dazu zählte ich doch auch, oder sind Kinder für Gott nicht oder noch nicht richtige Menschen? Sicher war ich mir da keineswegs. Ich wusste aber, er hatte gesagt: „Lasset die Kindlein zu mir kommen.“ Also würde ich zu ihm kommen dürfen. Und er würde verstehen, warum ich unbedingt und ganz dringend wissen musste, woher ich komme und wie es vor meiner Geburt war. Wer ich war. Wer ich jetzt bin und wer ich noch werden würde. Er würde mich nicht wegschicken. Da war ich mir absolut sicher. ER würde mich verstehen und mir zuhören. Wenn ich mit ihm reden könnte, bräuchte ich vielleicht den Büstenhalter gar nicht. Und? Wo blieb er jetzt? „Jetzt liege ich hier im Bett und bräuchte dringend Antworten!“ Ich lauschte in die Stille, hörte meine Schwester atmen, unten den Fernseher meiner Eltern, aber Jesus hörte ich nicht. Ich erinnere mich genau, dass mir damals klar war: Würde ich nur Geduld haben, könnte ich ihn bestimmt irgendwann hören. Aber irgendwann war mir einfach zu spät! Außerdem war mein Ansinnen, einen Büstenhalter zu nutzen, wahrscheinlich höchst unverschämt und viel zu fordernd. Du hast nichts zu wollen! Das war ein Standardsatz, wenn ich mit den Worten begann: „Ich will …“ In diesem Fall würde sich die Antwort wahrscheinlich ungefähr so anhören: „Die armen Negerlein in Afrika haben nicht einmal etwas zu essen und du, böses Mädchen, möchtest einen Büstenhalter!“ Wahrscheinlich würde Jesus sich eher um die armen Kinder in Afrika kümmern. Wenn ich nicht aufessen wollte, fragte mein Vater jedes Mal vorwurfsvoll: „Was sollen die armen Negerlein in Afrika sagen? Die haben nur ein Baströckchen an und müssen Bananen essen, sonst haben sie nichts.“ Ich hörte ihm jedes Mal grimmig zu, hielt schön meinen Mund und beneidete die kleinen Negerlein im Stillen. Nicht um die Baströckchen, aber darum, dass sie den ganzen Tag Bananen essen durften, statt des von mir so ungeliebten Fleisches. Und irgendwie auch, weil sie so herrlich weit weg waren. Irgendwo, frei von Erwachsenen und Zwängen sah ich sie am blauen Meer unter Palmen auf weißem Sand sitzen und Bananen essen. Aber: Wenn ich die Wahl gehabt hätte zwischen den leckersten Bananen und dem Büstenhalter, ich hätte mich immer für den Büstenhalter entschieden. Was war schon eine Banane gegen eine Zeitreise?

      Da Jesus, so meine Gedanken, sicher das Überleben über meine Luxusforderungen stellen würde, wären ihm die Negerlein wichtiger. Also würde er nicht mit mir reden. Er würde mich fallen lassen und auch nichts sagen. Und auch dieses Nichtssagen wäre schwerer auszuhalten, als jede Schimpftirade meiner Eltern. Und die würden nicht nur schimpfen. Sie nannten es drüber hauen. In meiner Erinnerung wurde oft drüber gehauen.

      Ich konnte es drehen und wenden wie ich wollte – ich musste mir den Zugang zu diesem Büstenhalter ergaunern. Auf ehrlichem Weg war da nichts zu machen. Die Folgen, wie schlimm sie auch wären, musste ich in Kauf nehmen. Also plante ich den Einbruch. Was blieb mir übrig?

      Meine Schwester und ich waren abends – gefühlt oft – alleine im kleinen Häuschen. Wenn meine Eltern ausgingen, machten sie einfach eine Kette von außen vor die Kinderzimmertür. Ich erinnere mich noch genau an die quälende Angst, die ich jedes Mal ausstand. Dieses Gefangensein im Kinderzimmer! Ich kann mich noch an mein Körpergefühl erinnern, meinen Herzschlag spürte ich jedes Mal in meinen Ohren. Meine Angst legte sich wie eine Hülle um mich herum, schwer und neblig. Es war, als wäre ich in meiner Angst gefangen und irgendwie kam ich mit dem Atemholen nicht mehr nach. Sie war grauenhaft, diese Angst.

      Ich wusste, meine Schwester und ich würden in der Falle sitzen, falls ein böser Mensch, ein Spitzbov, ins Haus käme, zum Beispiel durch die niedrigen Fenster des Wintergartens, um zu klauen. Hatten meine Eltern überhaupt Silber und Gold? Es konnte auch ein Feuer ausbrechen und dann würden wir keine Chance zur Flucht haben. Das wusste ich von den Feuerwehrmännern, die kurz vor Weihnachten immer die riesige Tanne vor dem Haus mit einer Lampenkette schmückten. So etwas tat die Feuerwehr damals noch für einen Kasten Bier. Ich habe zugesehen und weiß noch, wie beeindruckt ich war, als sie die große Leiter ausfuhren, zu mehreren hochkletterten und die Glühbirnen anbrachten. Einer der Feuerwehrmänner erklärte mir lang und breit, dass unser altes Fachwerkhaus sehr schnell brennen würde. Und wir, meine Schwester und ich, würden aus dem Fenster unseres Kinderzimmers im ersten Stock nicht springen können.

      Ich habe meine Eltern zwar angebettelt und gefleht, sie mögen doch bleiben oder uns mitnehmen, aber das haben sie wohl nicht gehört. Kindern hörte man nicht zu, damals in den 60ern. Die Erwachsenen waren mit sich und den wichtigen Dingen beschäftigt. Das hatte ich kapiert. Es war zum Verzweifeln. Wenn man wollte, dass einem jemand zuhörte, musste man wohl erwachsen sein. Ich hatte eine Ahnung, dass das noch lange dauern konnte.

      Wenn meine Eltern abends also wieder einmal weggingen, meistens über die Straße zu Tante Sophie, dann müsste ich die Tür öffnen. Vorher müsste meine kleine Schwester eingeschlafen sein. Die würde sonst mitkommen wollen. Das wäre dann das Aus. Ich allein konnte vielleicht über die Mauer klettern und dann im Schatten der Häuserwand oder der Bäume auf den Wiesen entlang bis zu Gertruds Haus laufen. Aber mit Beatrix – ausgeschlossen. Also musste ich warten. Auf die eine Gelegenheit. Und wenn diese kam, durfte ich es nicht vermasseln. Es gäbe keine zweite Chance! Falls etwas schief laufen würde, müsste ich womöglich ins Gefängnis. Wahrscheinlich bis zu meinem zehnten Lebensjahr – dann würde es zu spät sein. Die Gelegenheit wäre unwiederbringlich vorbei und meine Sehnsucht, alles zu erfahren über mich, die anderen, das was nicht sichtbar war, die andere Welt, von der ich überzeugt war, dass es sie gab, wäre verloren. Für immer.

      An den nächsten Abenden kam die Reklame wieder und mein Plan wurde konkret: Als Erstes musste die Kette weg.

      Ich probte die Entfernung der Kette an der Kinderzimmertür tagelang, wochenlang, bis es klappte. Dazu stellte ich mich auf ein Höckerchen und ertastete mit der Hand durch den Türspalt die Kette. Vorsichtig schob ich den Kettenkopf entlang der Führung. Das war ein kritischer Moment. Der Kettenkopf durfte nicht herausfallen, denn wenn die Kette nicht mehr vorgelegt gewesen wäre, hätten meine Eltern Verdacht geschöpft. Das war gar nicht so einfach, aber ich war höchst motiviert und probierte tagelang, besser gesagt nächtelang, bis es klappte. Manchmal gelang es mir, manchmal nicht. Aber ich wurde immer geschickter.

      Dann endlich, an einem Abend kurze Zeit später, spürte ich die Aufbruchstimmung. Meine Eltern rüsteten sich mal wieder zu gehen und ich war bereit. Sie brachten uns ins Bett, stießen noch ein paar wüste Drohungen aus für den Fall, dass wir nicht lieb wären, und gingen. Die Haustür fiel ins Schloss. Dann war es ruhig. Aber nur kurz. Meine kleine Schwester hatte bereits damals eine alle Materien durchdringende Stimme. Sie knöpfte sich den Schlafsack auf, stellte sich in ihrem Gitterbettchen auf, rüttelte an den Stäben und brüllte mich auffordernd an: „Bomm … bomm …“ Das hieß: Komm' und spiel` mit mir!

      Ungeduldig kam ich dieser Aufforderung so lange nach, bis sie endlich erschöpft einschlief. Ich vergewisserte mich, dass sie