Probleme ein. Denken wir dagegen an die Vergangenheit, sind die Probleme entweder verblasst oder aber gelöst und insofern weniger dramatisch.
Fragt man zum Beispiel nach dem Zustand der Umwelt, fällt den meisten der drohende Klimawandel ein, der seit vielen Jahren die öffentliche Diskussion dominiert. Natürlich wird die Erwärmung der Erdatmosphäre nachhaltige Folgen für Mensch und Natur haben. Welche das jedoch sind, ist ungewiss, hierzulande werden sie aller Voraussicht nach eher gering ausfallen. Real und eigentlich für jedermann erkennbar, hat sich dagegen die Qualität der Luft verbessert. Der deutsche Wald erfreut sich bester Gesundheit, in vielen Flüssen und Seen, die noch vor 40 Jahren eine Dreckbrühe waren, kann man wieder baden.
Doch unser Gehirn gibt negativen Signalen immer den Vorrang. Der amerikanische Ernährungspsychologe Paul Rozin macht das an einem Beispiel plastisch. Eine einzige Küchenschabe ruiniert die Anziehungskraft einer Schüssel Kirschen völlig – während eine Kirsche in einer Schüssel voller Schaben keinen Effekt hat. Wahrscheinlich lässt sich unsere Vorliebe für Widrigkeiten als Produkt der Evolution verstehen. Wer seine Aufmerksamkeit stärker auf das Schlechte und Gefährliche richtete, hatte größere Chancen, sich anzupassen, zu überleben und sich fortzupflanzen.
Ein einzelner Mord überlagert jede sachliche Verbrechensstatistik
Bei der Kriminalität liegen das subjektive Bedrohungsgefühl und die reale Gefahr besonders weit auseinander. Da kann man noch so häufig darauf hinweisen, dass die Kriminalität insgesamt seit Jahrzehnten abnimmt – der Fall eines ermordeten Kindes, über den die Medien wochenlang berichten, überlagert jede Statistik.
Die Medien nutzen diese Wahrnehmungsmuster und verstärken sie. »Das ist der Grund, warum Berichte über Krisen und Katastrophen derart dominant sind: Sie bedienen ein Bedürfnis, und sie werden in Redaktionen bevorzugt ausgewählt«, sagt der Tübinger Medienforscher Bernhard Pörksen. Alltag und Normalität dagegen seien nicht medienfähig.
Bad news is good news – das war schon immer so. Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Welt der Nachrichten über die Jahrzehnte immer düsterer geworden ist. Hans Mathias Kepplinger, Professor für Empirische Kommunikationsforschung in Mainz, spricht von einer »Verdunkelung des publizistischen Ereignishorizontes«. Die Darstellung, sagt Kepplinger, habe sich von der Realität zunehmend abgekoppelt. Und die digitalen Medien dürften die Tendenz zum Alarmismus weiter verschärft haben – Nachrichtenwebsites, Blogs und das Gezwitscher der Massen auf Twitter verstärken einander gegenseitig, aus einer kleinen Nachrichtenwelle wird schnell ein Tsunami.
Der Zwang, das Nachrichtenangebot ständig zu erneuern, treibt an, was Kommunikationswissenschaftler die »Verfügbarkeitskaskaden« nennen. Die Meldung über eine neue »Seuche«, ein Verbrechensopfer, einen Politikerskandal zieht Leser und Zuschauer in ihren Bann; Experten und Interessengruppen melden sich zu Wort oder schalten sich über Diskussionsforen und Blogs in die Debatte ein; die Politik sieht sich genötigt zu reagieren, was Anlass zu weiteren Beiträgen gibt. Es entsteht der Eindruck einer Ereigniskette, die in Wirklichkeit gar nicht existiert. Nach einiger Zeit bricht die Empörungswelle, das Interesse lässt nach, Überdruss setzt ein. Was genau passiert ist, haben die meisten Leser inzwischen vergessen. Es bleiben Unsicherheit, Misstrauen und das Gefühl, dass alles irgendwie immer schlimmer wird.
Der »Dioxinskandal« im Frühjahr 2010, an dessen Details sich kaum noch jemand erinnert, verlief nach diesem Muster. Damals ging es um Futtermittel, in denen das Gift gefunden wurde. Der Dortmunder Mathematiker Walter Krämer hat den Verlauf in seinem Buch Die Angst der Woche nachgezeichnet. Er hält es geradezu für das »Geschäftsmodell« vieler Medien, Nachrichten über Gift in Lebensmitteln oder in der Umwelt künstlich aufzubauschen. »Wenn zum Beispiel Dioxin in Ihrer Buttermilch gefunden wird, dann ist das eigentlich keine Meldung. Jedes Gift der Erde ist in jedem Schluck Wasser, den Sie trinken, enthalten.« Die Dosis macht das Gift, das wusste schon Paracelsus.
Mit modernen Analysemethoden lassen sich mittlerweile einzelne Moleküle einer Substanz nachweisen, und mit den feiner werdenden Messmethoden werden häufig auch die Grenzwerte abgesenkt. Diese Werte sind politische Zahlen und unterscheiden sich von Region zu Region, von Produkt zu Produkt. Eier können in der EU aus dem Verkehr gezogen werden, wenn sie mehr als drei Billionstel Gramm Dioxin pro Gramm enthalten, Fischleber darf fast die zehnfache Menge enthalten, weil sich der Stoff in den Tieren anreichert und sie sonst unverkäuflich wären.
Mitunter lassen Erfolge im Kampf gegen einen Missstand das Problem sogar noch größer erscheinen. So hat sich die Zahl der Krippenplätze seit Mitte der neunziger Jahre in Westdeutschland verzehnfacht. Dennoch gibt es aktuell mehr Berichte über fehlende Krippenplätze als jemals zuvor. Der Grund ist das Versprechen der Politik, für jedes Elternpaar, das dies für sein Kind wünscht, einen Platz bereitzustellen. Und so fokussiert sich der Blick der Öffentlichkeit nicht auf den erzielten Erfolg, sondern auf die Plätze, die noch bis zur Vollversorgung fehlen.
Wer nichts hat, der hat auch nichts zu verlieren. Bevor es Handys gab, hat keiner sie vermisst – unsere Kinder, die mit Smartphones aufwachsen, können sich die Welt ohne sie nicht mehr vorstellen. Auch dahinter steckt ein psychologischer Mechanismus, der sogenannte Besitztumseffekt (endowment effect), für dessen Beschreibung Daniel Kahneman 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften bekam. Danach wiegt der Schmerz über einen Verlust immer stärker als die Freude über einen vergleichbaren Gewinn. Je mehr jemand besitzt, desto größer ist die Verlustangst. Je besser die Lebensverhältnisse in einem Land, desto größer die Angst der Bürger vor Einbußen, desto geringer die Bereitschaft zum Risiko. Wer dagegen wenig zu verlieren hat, geht höhere Risiken ein.
Ökonomen am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung haben dies jüngst in einer Studie eindrücklich bestätigt. Sie stellten Teilnehmer aus verschiedenen Ländern vor die Wahl: auf der einen Seite ein sicherer, niedriger Geldbetrag – auf der anderen eine Lotterie mit möglichen hohen Gewinnen. Das Maß für die Risikobereitschaft: Wie viel muss man mindestens garantieren, um die Teilnehmer von der Lotterie wegzulocken? Die risikofreudigsten Menschen leben danach in Äthiopien, Nicaragua und Vietnam. Das Land, in dem die meisten Menschen lieber den sicheren Gewinn einstreichen wollten, war: Deutschland.
Lebenserwartung
Verdammt alt
Unsere Lebenserwartung steigt – dank des medizinischen Fortschritts. Dafür nehmen altersbedingte Krankheiten wie Alzheimer und Krebs zu
VON CHRISTIAN HEINRICH
DIE ZEIT, 21.03.2013 Nr. 13
Neun Jahre. Auf so viel mehr Leben darf sich heute jedes Neugeborene durchschnittlich freuen. Lag die Lebenserwartung für jemanden, der 1970 geboren wurde, noch bei knapp 71 Jahren, so sind es heute fast 80. Das ist vor allem dem Fortschritt der von vielen geschmähten Schulmedizin zu verdanken.
Chronische Erkrankungen wie Leberentzündungen durch Viren oder Aids können besser behandelt werden. Die Sterblichkeit beim Herzinfarkt ist unter anderem durch Methoden wie die sogenannten Herzkatheter und Stents in den letzten Jahrzehnten auf die Hälfte gesunken. Doch die verbesserte Therapie ist nur eine von drei Säulen, auf denen der medizinische Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte fußt.
Vor der Behandlung kommt die möglichst richtige Diagnose. Die Sterblichkeit beim Herzinfarkt etwa ist auch deshalb zurückgegangen, weil er durch hochsensible Bluttests – besonders durch den sogenannten Troponin-Test – früher und öfter diagnostiziert werden kann. »Wir entdecken heute doppelt so viele Menschen mit kleineren Herzinfarkten wie noch vor 30 Jahren und können damit früher und gezielter behandeln«, sagt Hugo Katus, Ärztlicher Direktor der Kardiologie, Angiologie und Pneumologie am Universitätsklinikum Heidelberg. Erkenntnisse über Ursachen und Wirkungen bei der Entstehung von Krankheiten machen frühe Diagnosen möglich, bevor tödliche Folgeleiden entstehen