fragen können, bevor er meinen Namen für die große Schwester verwendet. Ich finde auch sonst viel wieder, in der Figur der großen Schwester, viel von mir, was mich eigentlich überrascht. Mich überrascht, dass er diese Eigenschaften überhaupt so wahrgenommen hatte, dass er sie jetzt hat zu Papier bringen können. Ich dachte immer, er habe mich doch gar nicht gesehen. Nicht mich jedenfalls, nicht im Innern. Nicht Nora und wer Nora eigentlich ist…
Fiete
Also mich. Mich gibt’s gar nicht. Ich bin von allen Figuren diejenige, die vom Autor komplett erfunden ist und ich frage mich, ob das nötig war. Natürlich war es nötig. Mich braucht es, um den Obdachlosen in der Kindergeschichte sympathisch zu machen, um ihm eine erzählbare Geschichte zu geben natürlich auch, und um nicht stehen lassen zu müssen, dass die Dinge halt sind wie sie sind, ohne große Geschichte dahinter. Den Gedanken, dass es womöglich keine Geschichte hinter den Dingen gibt, den ertragen Menschen nicht. Sie müssen immer versuchen, dahinter zu sehen. Hinter die Zeilen, auf der Suche nach dem verborgenen Sinn. Hinter die Geschichte, auf der Suche nach dem Autor. Hinter den Autor, auf der Suche nach den realen Menschen hinter den Figuren, die der Autor zeichnet…
Der Literaturprofessor
Er hat mich also auf Platte geschickt. Ich werte das mal als kleine Rache an mir, weil es mit mir nicht so gelaufen ist für ihn, wie er es gerne gehabt hätte. Er kann am Ende froh sein, dass er seinen Abschluss überhaupt hat und nicht selbst auf der Bank sitzt. Wobei, vielleicht tut er es sogar…
Die Puppe
Puppen haben nichts zu sagen. Sie haben keine Bedeutung. Es steckt nichts in ihnen. Keine Botschaft, kein Sinn. Sie sind nicht absurd und nicht sinnvoll. Puppen sind einfach nur.
Puppen liegen, sitzen, hängen, werden getragen. Nichts können sie selbst tun, nichts aus sich selbst heraus sein. Sie sind Materialansammlungen von Stoff, Plastik, vielleicht auch Porzellan. Aber fast nie wird eine Puppe auf den Müll geworfen. Damit bekommen sie schließlich doch ihre Bedeutung. Ich auch.
Ich bin ganz aus Stoff, runder Kopf, aufgemalte Augen, Wollhaare und die Tatsache, dass ich an dem Handkarren des obdachlosen Mannes hänge, der sich dem Autor dieses Kinderbuchs als Jeremias ausgegeben hat, statt auf dem Müll gelandet zu sein, hat schon eine Menge Neugier entfesselt…
Jeremias
Der Junge war nicht so klein, wie er sich jetzt in seiner Geschichte ausgibt, wo er nicht älter als elf oder zwölf sein will, in dem Alter aber schon mit einigem Ehrgeiz zu schreiben anfängt. Der Junge war auch gar kein Junge, sondern ein Mensch von dreißig, einunddreißig Jahren, vielleicht sogar mehr. Man sieht den Menschen ja heutzutage kaum noch an, wie alt sie wirklich sind. Und mich interessiert es auch eigentlich nicht. Ich weiß nicht mal, wie alt ich bin.
Er war irgendwann aus dem Nichts aufgetaucht, wie man so sagt, hatte plötzlich vor mir gestanden, vor meiner Bank, zwischen mir und dem Supermarkteingang, und hatte mir das bisschen Sonne geraubt, das morgens auf meine Bank gefallen war. Er hatte behauptet, er fahre oft hier vorbei. Ich hatte mich gleich gefragt, was mir diese Information jetzt bringen sollte. Ich saß auch oft hier auf dieser Bank. Und? Er war einer von tausenden Radfahrern, die täglich an mir vorbeifuhren und ich war nur ein einziger Obdachloser, an dem sein Weg in die Innenstadt ihn vorbei führte. Auf dem Weg zurück sah er mich vermutlich nicht mehr. Nachmittags vertrat ich mir gerne die Beine und schlenderte im Viertel herum. Kunststück also, wenn ich ihm, er mir aber keineswegs aufgefallen war.
Er sei Schriftsteller, hatte er mir erklärt, nachdem er gerade von seinem gepflegten und schön verkehrssicheren Rad gestiegen war. Ob es teuer gewesen sein mochte, konnte ich nicht erkennen. Ich kenne mich mit Rädern nicht aus. Sauber war es irgendwie. Später dachte ich: Es kann nicht teuer gewesen sein. Er sei Schriftsteller, aber er habe keinen Verlag oder so, sagte er. Wieso er dann Schriftsteller sei?, wollte ich von ihm wissen.
„Wenn man keinen Verlag hat, verdient man doch auch kein Geld, mit dem, was man schreibt“, sagte ich. „Warum sollte man sich dann die Arbeit machen und etwas schreiben?“
Es ginge ihm nicht darum, sagte er, um Geld oder Ruhm, falls ich das denken würde. Ich sagte, ich würde gar nichts denken, das sei nicht meine Sache. Das Denken, betonte ich noch, vielleicht, um einen Witz zu machen, ich weiß es selbst nicht. So wenig, wie ich weiß, wie alt ich bin, weiß ich, wann ich Witze mache. Der junge Mann lächelte unsicher. Er konnte auch nicht einschätzen, ob es ein Witz sein sollte, weil ich keine Miene verzog, während ich sprach. Seit ich nicht mehr in Spiegel blicke, ziehe ich auch keine Mienen mehr.
Er würde jedenfalls gerne meine Geschichte aufschreiben, beharrte der junge Mann, vor mir stehend, noch immer die Sonne abschirmend, in der ich mir gerne die Kälte der Nacht aus den Gliedern vertrieben hätte. Dass er mir die ohnehin in diesem Juli seltenen Sonnenstrahlen raubte, machte ihn mir nicht gerade sympathisch.
Sein Blick glitt über meinen ganz in der Nähe stehenden Handkarren, auf dem ich meine Habseligkeiten vertäut und verknotet hatte. Darüber würde er gerne eine Geschichte schreiben, sagte er und wandte den faszinierten Blick nur mühsam von meinem Wagen ab.
„Da gibt’s keine Geschichte“, sagte ich.
Für sein es gibt immer eine Geschichte fand ich ihn dann auch noch lächerlich, affig, albern. Schnösel, dachte ich, Freunde werden wir hier aber nicht, du.
„Was ist mit der Puppe?“, wollte der Schnösel wissen.
„Nichts ist mit der Puppe“, sagte ich, „wie heißt du eigentlich?“
„Jarne“, sagte der Schnösel und ich dachte mir später, dass er sich den Namen ausgedacht haben musste, denn der Junge im Buch würde dann genauso heißen. Als er den Namen nannte, war mir aber gleich klar, dass was mit dem Namen war, ich war ja nicht blöde. Also dachte ich na gut, du Schnösel und ich dachte mir auch einen Namen aus, das tat ich ohnehin immer, aber jetzt tat ich’s umso lieber.
„Mein Name ist Jeremias“, sagte ich.
„Interessanter Name“, sagte der Schnösel grinsend. „Bedeutungsvoll“, sagte er. Bevor er noch ironisch hätte sagen können und weil ich jetzt schon genug von dem Spiel hatte, fragte ich:
„Wovon lebst du, wenn du als Schriftsteller kein Geld verdienst?“
„Sozialhilfe“, sagte der Schnösel. Ich reagierte nicht darauf, zündete mir eine Zigarette an, mehr nicht. Entweder, er ist ein noch größerer Loser als ich, dachte ich, oder ein Genie. Aber mit Genies kannte ich mich nicht aus, so wenig wie mit Fahrrädern und Witzen.
„Hier gibt’s keine Geschichte und mit der Puppe ist nichts“, nahm ich den Faden wieder auf und beabsichtigte, ihn gleichzeitig abzuschneiden, indem ich dann noch sagte:
„Und jetzt geh mir aus der Sonne.“
„Oh, Entschuldigung“, sagte der Schnösel und trat einen Schritt zur Seite.
Er kam wieder. Am nächsten Tag kam er und brachte mir eine Thermoskanne voll Tee. Kräuter. Ich hätte gerne widerstanden, ich war ja nicht käuflich, aber ich konnte nicht, jeder ist schließlich käuflich. An heißen Kräutertee war auf der Straße kein leichtes Rankommen und schon gar nicht zum Einteilen in Thermoskannen. Ich durfte die Kanne behalten und bekam am nächsten Tag eine neue geliefert. Wieder voll. Wieder heiß. Wieder Kräuter.
Aus der Puppe, in die er sich wie ein kleines Mädchen verliebt zu haben schien, machte er dann eine ganz abstruse Story. Ich soll verheiratet gewesen sein, soll meine Frau bei der Geburt unseres Kindes verloren haben, soll mit dem Leben nicht mehr klar gekommen sein, soll daraufhin meine Arbeit, mein Kind, meine Wohnung verloren haben und auf der Straße gelandet sein. Meinetwegen. Wenn ich Einspruch eingelegt hätte, hätte er mich nur weiter genervt.
Im Laufe der Zeit brachte dieser Jarne mir hier und da etwas zu Essen oder Hundefutter für Sunny, dem er im Buch einen ganz abenteuerlichen Namen gab, was Französisches. Am meisten irritierte mich später die Geschichte meiner tausendfach