Friedrich Peer Seitz

Jenseits von Geborgenheit


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Schwester dennoch nicht gehen wollte, begannen die beiden zu streiten. Am Ende war die Schachtel leer und nachher hat die Schwester zu Lisa nur gesagt, das sei der schönste Tag in ihrem Leben gewesen. Hätte sie die Pralinen lieber Lisa gegeben.

      Noch weiter oben wohnt Uwe, der immer an den Fingernägeln nagt und sich alle drei Minuten am Kopf kratzt. Fortwährend rutscht ihm die Brille auf die Nase. Er ist ein Einzelkind und hat ein freches Mundwerk. Das Hallenbad ist sein Lieblingsort und Pommes sein Lieblingsessen. Oft spielt er mit einem Messer. Er hat schon einen großen und zwei kleine Hunde bekommen, die stundenlang bellen, aber sonst nichts Böses tun. Seine Eltern sind geschieden und er lebt hier bei seiner Mutter. Sogar tagsüber läuft sie mit Lockenwicklern und manchmal auch im Nachthemd herum. Lisas Mutter sagt, die treibt es mit jedem, und es kommen auch immer wieder fremde Männer zu ihr. Erst vor zwei Wochen hat einer an Lisas Wohnung geklingelt, und als sie zur Tür rannte, weil ihre Mutter, die aufgemacht hatte, um Hilfe rief, war deren Bluse zerrissen. Der Mann ist dann schnell die Treppe hoch, und Uwes Mutter musste Lisas Mutter am nächsten Tag sofort eine neue Bluse kaufen. Von Onkels und anderen Verwandten will Uwe nichts wissen, und wenn er Streit oder eine Wut hat, ist er wie ein wildes Tier. Lisa muss dann lachen, sie kann nichts dafür. Einmal hat sie ihm seine Spielsachen kaputt gemacht, auch schon die Luft am Fahrrad rausgelassen. Er hat sie aber nie geschlagen, weil sie ein Mädchen ist. Vielleicht mag er sie.

      Dann ist da noch der alte Mann, der ganz oben unterm Dach wohnt. Er ist zu schwach, um ohne Stock zu gehen. Das Treppensteigen macht ihm große Mühe, aber die kleine Wohnung will sonst niemand, deshalb ist die Miete niedrig. Und er selbst möchte sie auch nicht mehr verlassen. Seine große Nase passt gar nicht in sein Gesicht. Die Augen liegen ganz weit im Kopf drin. Sein Bart und seine Haare sind schneeweiß. Seine Kleidung sieht aus, als ob sie schon lange nicht mehr sauber gemacht wurde. Am Sonntag ist er ohne Schuhe und in einem Mantel weggegangen, in dem noch der Kleiderbügel steckte. Aber er hat es überhaupt nicht bemerkt. Er lebt ganz allein. Immer zum Ende der Woche bekommt er Post. Aber alle wissen, dass er die Briefe selber schreibt. Seine drei Söhne sind allesamt ausgewandert, weit weg nach Australien oder sonst wohin. Außer der Krankenpflegerin kümmert sich niemand um ihn. Er redet kaum mit anderen Leuten, und wenn jemand mit ihm sprechen will, hat er gleich eine Ausrede. Gegen Abend macht er manchmal einen Spaziergang, und wenn er heimkommt, geht er sofort ins Bett. Man sieht nie Licht bei ihm.

      Direkt unter ihr, erzählt Lisa, wohnt im ersten Stock ein stiller Junge, Albert Dornäcker, mit seiner Mutter, die von einem Hof vom Land hierher nach Stuttgart gezogen ist, nachdem ihr Mann bei einem Arbeitsunfall so schwer verletzt wurde, dass er eine Woche danach starb. Man weiß wenig von Mutter und Sohn, so still und zurückgezogen leben sie. Nur hört man sie zu ungewöhnlichen Zeiten kommen und gehen. Ich weiß – damals im Jahr 1975 – hierzu schon manches mehr, aber das weiß wiederum Lisa nicht …

      2

      Die Uhr der nahen Kirche schlug elf Mal, als die letzten Reisenden in den Interregio nach Nürnberg einstiegen, dessen Abfahrt mit 23.04 Uhr angeschrieben stand. Den ganzen Tag hatte es ununterbrochen geregnet, und auch jetzt noch klatschte es monoton auf das gläserne Dach der Bahnsteighallen. Schon begannen die Räder der Waggons zu rollen, der Zug gewann an Fahrt und fuhr schließlich in den Tunnel der schwarzen Nacht hinein. Die Lichter wanden sich durch den Schleier, bis nur noch zwei rote Schlusslaternen zu sehen waren, die sich allmählich in der Dunkelheit verloren. Selbst das immer lächelnde Mädchen auf dem Werbeplakat, das sich genüsslich ein Stück Schokolade in den rotgerahmten Mund schob, sah an diesem Tag alt und griesgrämig aus.

      Auch die Rufe des Zeitungsjungen, der müde über den Bahnsteig ging, nachdem er die letzten und neuesten Nachrichten preisgegeben hatte, sich dabei lediglich der Schlagzeilen bedienend, verstummten nun und unbestimmbare Geräusche schwangen noch einige Sekunden im weiten Rechteck der riesigen Halle nach. Jeden Tag fuhren einige hundert Züge verschiedener Kategorie in diesen Bahnknotenpunkt ein und aus. Frühmorgens spuckten die Blechwagen in Reih und Glied ein Meer von Menschen aus, die alle zu den Aus- und Abgängen des Gebäudes drängten, ein unüberschaubares fleischgewordenes Pflichtbewusstsein, das sich abends willig wieder aufschlucken und abtransportieren ließ. Erst in der Nacht bot sich das Bild scheinbarer Stille. Dann gönnte der Fahrplan dem Jungen mit der heiseren Stimme eine Stunde lang Erholung. Auf einer Bank streckte er die Beine aus und wollte seine Ruhe haben.

      Manchmal, in der übrigen Zeit, wenn gerade kein Passant oder Reisender nach Neuigkeiten verlangte, fand er Zeit zum Nachdenken. Jetzt war er zu müde. Eine Stunde gönnte ihm der Fahrplan, eine Stunde Entspannung für die gequälte Stimme. Er hasste diese Tätigkeit, an den gerade eingefahrenen Zügen entlang zu gehen, bei mehreren Minuten Aufenthalt sich auch in die Abteile zu begeben. Die Durchreisenden schätzten es, bedient zu werden, und manches zusätzliche Trinkgeld für seine Dienste sprang auf diese Weise heraus. Aber er hasste auch die Hände, aus denen er das Geld entgegen nehmen musste, harte, knochige, zarte, gepflegte Hände, er hasste das Aufklappen von Handtaschen, das Kramen in Hosentaschen und Geldbörsen. Das müde Lächeln auf den grauen Gesichtern, der neblig feuchte Schimmer in ihren Augen begleiteten seinen Tagesablauf ab der Mittagszeit und vom Morgen an während der Schulferien.

      Seit zwei Jahren besuchte der Fünfzehnjährige eines der städtischen Gymnasien, und um etwas eigenes Geld zu verdienen war es sein Entschluss gewesen, dass seine Stimme das Aktuellste durch die offenen Fenster der Züge rief. Viele, eigentlich konnte er zufrieden sein, verlangten seine Zeitungen, überflogen Klatschnachrichten und die blutigsten Schlagzeilen mit gierigen Augen und fanden sich danach restlos aufgeklärt über die Begebenheiten der letzten vierundzwanzig Stunden und zugleich mit Genugtuung versichert, dass sie selbst wieder einmal davongekommen waren.

      Der Junge wusste die Momente der Einsamkeit zu schätzen, diese merkwürdig tote Ruhe, die weich wie ein Luftballon einfach da war, aber - wie dieser von einer kleinen Nadel - durch irgendeine dumme Störung umso lauter zerplatzen konnte. Er dachte an seine Mutter, mit der er zusammen in den engen Räumen dieses Altbaus in der Stadt wohnte. Dennoch bekam er seine Mutter kaum zu Gesicht. Tagsüber bediente sie in einem Café, abends stand sie als Bardame hinter der Theke eines anderen, nicht besonders vornehmen Lokals. Genau genommen kannte er das Gesicht seiner Mutter überhaupt nicht mehr bei Tageslicht. Fünf Jahre seiner Kindheit hatte er auf dem Land bei den Großeltern verbracht, nachdem deren Sohn, sein Vater, umgekommen war. Als ihn dann seine Mutter in ihre neue Wohnung holen kam, durfte er sie nicht küssen, weil sie dies verwehrte. Er hatte sich damit getröstet: Sie weint noch und möchte nicht fröhlich sein. Aber seine Mutter wurde auch nie froh und lachte nie an den Tagen, an denen sie mit dem Bus zu den Großeltern fuhren.

      In ihrem Arbeitsvertrag hatte die Mutter vereinbaren können, dass sie pünktlich um 22 Uhr abgelöst wurde, und so wusste der Junge, dass sie zu Hause war, wenn auch er heim kam. Auf seiner Bank dachte er daran, dass er nachher leise ihre Schlafzimmertüre öffnen würde wie jeden Abend, oder vielmehr jede Nacht, um ihrem gleichmäßigen Atem zu lauschen. Das war nicht die gespannte Ruhe des nächtlichen Bahnhofs, das war eine wohltuende, schlaffe Ruhe, in die man sich bedenkenlos fallen lassen konnte.

      In der großen Halle wurde ihm das Warten lang. Aber er hatte gelernt, das quälende Schlafbedürfnis zu besiegen, und sei es, indem er sich körperlichen Schmerz zufügte. Das Rauschen auf dem Bahnhofsdach erschien ihm wie der Kassiber eines anderen unbekannten Wartenden irgendwo in der Ferne. Zwei Stunden vor Mitternacht fuhr dröhnend der für ihn letzte Zug, ein ICE, ein. Der Regen rann von den Wagendächern, wenige Türen öffneten sich. Aber das Auf- und Eintauchen in die Lichtkegel der Bahnsteigleuchten und wieder ins Dunkel dahinter regte eine ungestillte Phantasie an: In der Ferne funkelnde Punkte leuchteten im Vorüberfahren auf einer Straße kurz auf und verschwanden als geheimnisvolle Rätsel, die nur zu dieser Stunde einen Wachträumenden fesseln und neugierig machen konnten.

      Der Junge hängte sich die gefüllte Tasche über und ging auf das erste Abteil zu. Der Zug hatte ungefähr eine Viertelstunde Aufenthalt, und trotz der vorgerückten Zeit waren genügend Fahrgäste noch nicht in ihren Schlafkojen und daher vielleicht bereit, eine letzte Tageslektüre zu sich zu nehmen. Als der Junge nach seinem Weg durch sämtliche Waggons wieder draußen auf dem Bahnsteig stand und sodann am Zug entlang zurück ging, dachte er einen Augenblick daran, durch das Ausrufen der Schlagzeilen ein paar Schläfer zu