Leo Tolstoi

Krieg und Frieden


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ich glaube, Michail Ilarionowitsch ist vom Grafen Tolstoi wieder herausgekommen«, sagte Fürst Andrei. »Ich wünsche Ihnen Glück und Erfolg, meine Herren«, fügte er hinzu, drückte dem Fürsten Dolgorukow und Bilibin die Hand und ging hinaus.

      Bei der Heimfahrt konnte sich Fürst Andrei nicht enthalten, den schweigsam neben ihm sitzenden Kutusow zu fragen, was er über die morgige Schlacht denke.

      Kutusow blickte seinen Adjutanten finster an und antwortete nach kurzem Schweigen:

      »Ich glaube, daß wir die Schlacht verlieren werden, und das habe ich auch dem Grafen Tolstoi gesagt und ihn gebeten, es dem Kaiser mitzuteilen. Nun, und was meinst du, hat er mir geantwortet? ›Mein lieber General, ich habe mich um den Reis und die Koteletts zu kümmern; die Kriegsangelegenheiten, das ist Ihre Sache.‹ Ja, so hat man mir geantwortet.«

      XII

      Zwischen neun und zehn Uhr abends kam Weyrother mit seinen schriftlichen Plänen in Kutusows Quartier, wo ein Kriegsrat angesetzt war. Alle höheren Offiziere waren aufgefordert worden, zum Oberkommandierenden zu kommen, und außer dem Fürsten Bagration, der ausrichten ließ, daß er nicht kommen könne, waren alle zur bestimmten Stunde erschienen.

      Weyrother, der die gesamte Disposition für die bevorstehende Schlacht entworfen hatte, bildete mit seiner Lebhaftigkeit und Raschheit einen scharfen Gegensatz zu dem verstimmten, schläfrigen Kutusow, der nur ungern die Rolle des Vorsitzenden und Leiters im Kriegsrat übernommen hatte. Weyrother fühlte sich offenbar als das Haupt der Bewegung, die bereits eine unaufhaltsame geworden war. Er hatte Ähnlichkeit mit einem eingespannten Pferd, das mit einer Fuhre bergab läuft. Ob er zog oder vorwärts gedrängt wurde, wußte er selbst nicht; aber er jagte mit größtmöglicher Schnelligkeit dahin, ohne daß er jetzt noch Zeit gehabt hätte, zu überlegen, wohin diese Bewegung führen werde. Weyrother war an diesem Abend zweimal zum Zweck persönlicher Rekognoszierung bei der feindlichen Vorpostenkette gewesen, zweimal bei den Kaisern von Rußland und von Österreich, um ihnen Bericht zu erstatten und die nötigen Mitteilungen zu machen, und dann noch in seiner Kanzlei, wo er die Disposition in deutscher Sprache diktiert hatte. Sehr erschöpft kam er jetzt zu Kutusow.

      Er war offenbar so sehr mit seinem Plan beschäftigt, daß er sogar den schuldigen Respekt gegen den Oberkommandierenden vergaß: er unterbrach ihn mehrmals und sprach hastig und undeutlich, ohne ihm ins Gesicht zu sehen und ohne auf die Fragen, die jener an ihn richtete, zu antworten. Auch war er mit Schmutz bespritzt und sah leidend, angegriffen und zerstreut, dabei aber doch selbstbewußt und stolz aus.

      Kutusow bewohnte ein kleines, einem Edelmann gehöriges Schloß bei Ostralitz. In dem großen Salon, der zum Arbeitszimmer des Oberkommandierenden umgestaltet war, waren Kutusow selbst, Weyrother und die übrigen Mitglieder des Kriegsrates versammelt. Sie tranken Tee und warteten nur noch auf den Fürsten Bagration, um die Beratung zu beginnen. Aber statt Bagration kam einer seiner Ordonnanzoffiziere mit der Nachricht, der Fürst könne nicht kommen. Fürst Andrei ging in das Sitzungszimmer, um dies dem Oberkommandierenden zu melden, und Gebrauch machend von der Erlaubnis, die ihm Kutusow vorher erteilt hatte, bei dem Kriegsrat anwesend zu sein, blieb er im Zimmer.

      »Da Fürst Bagration nicht kommt, können wir an fangen«, sagte Weyrother, erhob sich rasch von seinem Platz und trat an den Tisch, auf dem eine gewaltige Karte der Umgegend von Brünn ausgebreitet war.

      Kutusow saß in aufgeknöpfter Uniform, aus welcher, wie nach Freiheit trachtend, sein fetter Hals über den Kragen hervorquoll, auf einem Lehnstuhl, hatte seine dicken, alten Hände symmetrisch auf die Armlehnen gelegt und schlief beinah. Beim Ton von Weyrothers Stimme öffnete er mit Anstrengung sein einziges Auge.

      »Ja, ja, bitte; es wird sonst gar zu spät«, sagte er, nickte mit dem Kopf, ließ ihn von neuem hinabsinken und schloß wieder die Augen.

      Wenn die Mitglieder des Kriegsrates zunächst gedacht hatten, daß Kutusow sich nur schlafend stelle, so bewiesen die Töne, die er während der nun folgenden Vorlesung mit der Nase hervorbrachte, daß es sich in diesem Augenblick für den Oberkommandierenden um etwas weit Wichtigeres handelte, als um den Wunsch, seine Geringschätzung für die Schlachtdisposition oder für sonst irgend etwas zum Ausdruck zu bringen; es handelte sich für ihn um die unabweisbare Befriedigung eines menschlichen Bedürfnisses: des Schlafes. Er schlief wirklich. Weyrother warf, wie wenn er viel zu sehr beschäftigt wäre, als daß er auch nur einen Augenblick Zeit verlieren dürfte, einen schnellen Blick auf Kutusow, und als er sich überzeugt hatte, daß dieser schlief, begann er mit lauter, eintöniger Stimme die Disposition für die bevorstehende Schlacht vorzulesen, unter der Überschrift, die er gleichfalls vorlas:

      »Disposition zum Angriff auf die feindliche Position hinter Kobelnitz und Sokolnitz, den 30. November 1805.«

      Die Disposition war sehr kompliziert und sehr schwer zu verstehen. Eine Stelle darin lautete wörtlich folgendermaßen:

      »Da der Feind mit seinem linken Flügel an die mit Wald bedeckten Berge lehnt und sich mit seinem rechten Flügel längs Kobelnitz und Sokolnitz hinter die dort befindlichen Teiche zieht, wir im Gegenteil mit unserem linken Flügel seinen rechten sehr debordieren, so ist es vorteilhaft, letzteren Flügel des Feindes zu attackieren, besonders wenn wir die Dörfer Sokolnitz und Kobelnitz im Besitz haben, wodurch wir dem Feind zugleich in die Flanke fallen und ihn auf der Fläche zwischen Schlapanitz und dem Turaser Wald verfolgen können, indem wir den Defileen von Schlapanitz und Bellowitz ausweichen, welche die feindliche Front decken. Zu diesem Endzweck ist es nötig ... Die erste Kolonne marschiert ... die zweite Kolonne marschiert ... die dritte Kolonne marschiert ...« usw. So las Weyrother vor.

      Die Generale hörten, wie es schien, die schwierige Disposition nur widerwillig mit an. Der blonde, hochgewachsene General Buxhöwden stand, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, da, richtete die Augen starr auf eine brennende Kerze und schien nicht zuzuhören, ja nicht einmal zu wollen, daß die anderen dächten, er höre zu. Dem lesenden Weyrother gerade gegenüber, die glänzenden, weitgeöffneten Augen unverwandt auf ihn geheftet, saß in kriegerischer Haltung, die Hände mit auswärts gekehrten Ellbogen auf die Knie gestützt, der rotwangige Miloradowitsch mit hinaufgestrichenem Schnurrbart und emporgezogenen Schultern. Er schwieg hartnäckig, sah Weyrother ins Gesicht und wandte die Augen nur dann von ihm weg, wenn der österreichische Generalstabschef einmal schwieg. In solchen Augenblicken ließ Miloradowitsch seine Augen mit ernstem Ausdruck bei den anderen Generalen umherwandern; aber ob er mit der Disposition einverstanden war oder nicht, sie billigte oder nicht, das war aus diesen ernsten Blicken nicht zu entnehmen. Am nächsten von allen bei Weyrother saß Graf Langeron; ein feines Lächeln wich während der ganzen Dauer der Vorlesung nicht von seinem südfranzösischen Gesicht; er blickte auf seine schlanken Finger, die eine goldene, mit einem Porträt verzierte Tabaksdose an den Ecken rasch herumdrehten. In der Mitte einer der längsten Perioden hemmte er die rotierende Bewegung der Dose und hob den Kopf in die Höhe; in den äußersten Winkeln seiner schmalen Lippen erschien der Ausdruck einer unangenehm wirkenden Höflichkeit; er unterbrach Weyrother und wollte etwas sagen; aber der österreichische General runzelte, ohne im Vorlesen innezuhalten, ärgerlich die Stirn und machte eine Bewegung mit den Ellbogen, wie wenn er sagen wollte: »Nachher! Nachher können Sie mir Ihre Gedanken sagen; jetzt, bitte, sehen Sie auf die Karte, und hören Sie zu.« Langeron hob mit dem Ausdruck höchster Verwunderung die Augen nach der Zimmerdecke empor und blickte dann Miloradowitsch an, wie wenn er eine Erklärung für dieses Verhalten suchte; als er jedoch dessen ernstem, aber nichtssagendem Blick begegnete, schlug er mit trüber Miene die Augen nieder und begann wieder, seine Tabaksdose herumzudrehen.

      »Eine Geographiestunde«, sagte er wie für sich, aber laut genug, um gehört zu werden.

      Przebyszewski bog, indem er eine respektvolle, aber würdige Höflichkeit an den Tag legte, sein Ohr mit der Hand zu Weyrother hin und gab sich das Aussehen, als höre er mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Der kleine Dochturow saß mit bescheidener, eifriger Miene Weyrother gerade gegenüber und prägte sich, über die ausgebreitete Karte gebeugt, gewissenhaft die Disposition und das ihm unbekannte Terrain ein. Ein paarmal, wenn er nicht genau verstanden hatte, bat er Weyrother, die betreffenden Worte, besonders auch schwierige Namen von Dörfern, zu wiederholen. Weyrother erfüllte seinen