weich, und auf seinen Wangen erschienen Tränen. Mit der linken Hand zog er Bagration an sich heran, und mit der rechten, an der er einen Ring trug, bekreuzte er ihn mit einer ihm offenbar sehr geläufigen Bewegung. Hierauf hielt er ihm seine fleischige Wange hin; indessen küßte Bagration ihn nicht auf die Wange, sondern auf den Hals.
»Christus sei mit dir!« sagte Kutusow noch einmal und ging zu seinem Wagen. »Fahr mit mir«, forderte er den Fürsten Andrei auf.
»Euer hohe Exzellenz, ich würde wünschen, mich hier nützlich zu machen. Gestatten Sie mir, bei der Abteilung des Fürsten Bagration zu bleiben.«
»Fahr nur mit«, wiederholte Kutusow, und als er bemerkte, daß Bolkonski zauderte, fügte er hinzu: »Gute Offiziere habe ich selbst nötig, sehr nötig.«
Sie stiegen in den Wagen und fuhren einige Minuten lang schweigend.
»Wir haben noch viel Schweres vor uns, recht Schweres«, sagte Kutusow mit dem Scharfblick des erfahrenen Alters, wie wenn er alles durchschaut hätte, was in Bolkonskis Seele vorging. »Wenn von Bagrations Abteilung morgen der zehnte Teil davonkommt, dann will ich Gott danken«, fügte er wie im Selbstgespräch hinzu.
Fürst Andrei sah zu Kutusow hin, und unwillkürlich haftete sein Blick in einer Entfernung von nicht viel mehr als einem Fuß auf den sauber gewaschenen Falten der Narbe an Kutusows Schläfe, wo ihm beim Sturm auf Ismaïl eine Kugel in den Kopf gedrungen war, und auf dem ausgelaufenen Auge des Oberkommandierenden. »Ja, er hat ein Recht, so ruhig von dem bevorstehenden Untergang dieser Menschen zu sprechen«, dachte Bolkonski.
»Eben deswegen bat ich, mich dieser Abteilung zuzuweisen«, sagte er.
Kutusow antwortete nicht. Er schien schon wieder vergessen zu haben, was er soeben gesagt hatte, und saß in tiefen Gedanken da. Aber fünf Minuten darauf schaukelte Kutusow sich gemächlich auf den weichen Sprungfedern des Polstersitzes und wandte sich zu dem Fürsten Andrei. Auf seinem Gesicht war keine Spur von Erregung mehr zu bemerken. Mit feinem Spott erkundigte er sich bei dem Fürsten Andrei nach den Einzelheiten seiner Begegnung mit dem Kaiser, nach der Aufnahme, die die Nachricht von dem Treffen in der Nähe von Krems bei Hof gefunden habe, und nach einigen Damen aus ihrem gemeinsamen Bekanntenkreis.
XIV
Kutusow hatte durch einen seiner Kundschafter am 1. November eine Nachricht erhalten, die ihm die Lage der von ihm kommandierten Armee als beinah hoffnungslos erscheinen ließ. Der Kundschafter berichtete, daß die Franzosen nach Überschreitung der Brücke bei Wien mit gewaltigen Streitkräften auf die Verbindungslinie zwischen Kutusow und den aus Rußland kommenden Truppen anrückten. Entschloß sich Kutusow nun, in Krems zu bleiben, so schnitt die hundertfünfzigtausend Mann starke Armee Napoleons ihn von allen Verbindungen ab, umringte sein nur vierzigtausend Mann starkes, erschöpftes Heer, und er befand sich dann in derselben Lage wie Mack bei Ulm. Entschloß sich Kutusow aber, die Straße zu verlassen, die zur Vereinigung mit den aus Rußland kommenden Truppen führte, so mußte er ohne ordentliche Wege in das unbekannte Gebiet der böhmischen Gebirge ziehen, sich dabei gegen einen an Streitkräften überlegenen Feind verteidigen und jede Hoffnung auf Vereinigung mit Buxhöwden aufgeben. Und drittens, wenn sich Kutusow dafür entschied, sich auf dem Weg von Krems nach Olmütz zurückzuziehen, um sich mit den Truppen aus Rußland zu vereinigen, so lief er Gefahr, daß die Franzosen, nach Passierung der Brücke bei Wien, ihm auf diesem Weg zuvorkamen und er auf diese Weise gezwungen wurde, einen Kampf auf dem Marsch anzunehmen, mit dem gesamten Train und Troß und gegenüber einem Gegner, der ihm dreifach überlegen war und ihn von zwei Seiten einschloß.
Kutusow entschied sich für diesen letzten Plan.
Die Franzosen zogen, wie der Kundschafter meldete, nach Passierung der Brücke bei Wien in Eilmärschen nach Znaim, welches an der Straße lag, auf welcher Kutusow sich zurückzog, und zwar mehr als hundert Werst vor ihm. Erreichte er Znaim vor den Franzosen, so konnte er gute Hoffnung hegen, daß ihm die Rettung seines Heeres gelingen werde; ließ er zu, daß ihm die Franzosen in Znaim zuvorkamen, so war eines von zwei traurigen Dingen sicher: entweder mußte er über seine ganze Armee dieselbe Schmach ergehen lassen, die das Macksche Heer bei Ulm betroffen hatte, oder er mußte seine ganze Armee dem Untergang weihen. Aber den Franzosen mit der gesamten Armee einfach durch Schnelligkeit zuvorzukommen, war unmöglich. Der Weg der Franzosen von Wien nach Znaim war kürzer und besser als der Weg der Russen von Krems nach Znaim.
Nach Empfang jener Nachricht schickte Kutusow noch in der Nacht die viertausend Mann starke Vorhut unter Bagration nach rechts über die Berge, von der Krems-Znaimer Straße nach der Wien-Znaimer hinüber. Bagration sollte diesen Übergang, ohne unterwegs zu rasten, ausführen, dann, wenn es ihm gelungen wäre, den Franzosen zuvorzukommen, mit der Front nach Wien und dem Rücken nach Znaim haltmachen und sie aufhalten, solange er irgend könnte. Kutusow selbst zog, auch mit der gesamten Bagage, nach Znaim.
Nachdem Bagration mit seinen hungrigen, barfüßigen Soldaten, ohne Weg, über die Berge, in Nacht und Sturm fünfundvierzig Werst zurückgelegt und dabei ein Drittel seiner Leute als Marode eingebüßt hatte, gelangte er nach Hollabrunn an der Wien-Znaimer Straße einige Stunden früher als die Franzosen, die von Wien nach Hollabrunn marschiert waren. Kutusow brauchte mit seinem Troß noch volle vierundzwanzig Stunden, um Znaim zu erreichen, und daher sollte, um die Armee zu retten, Bagration mit seinen viertausend hungrigen, entkräfteten Soldaten ganze vierundzwanzig Stunden lang die gesamte feindliche Armee, die in Hollabrunn mit ihm zusammenstieß, aufhalten – was offenbar ein Ding der Unmöglichkeit war. Aber eine eigentümliche Fügung des Schicksals machte das Unmögliche möglich. Das Gelingen jenes Betruges, der ohne allen Kampf die Wiener Brücke den Franzosen in die Hände geliefert hatte, gab dem Prinzen Murat den Gedanken ein, in gleicher Weise auch Kutusow zu täuschen. Als Murat auf der Znaimer Straße auf die schwache Abteilung Bagrations stieß, glaubte er, daß dies die ganze Armee Kutusows sei. Um diese Armee mit Sicherheit niederwerfen zu können, wollte er erst die Truppen erwarten, die noch auf dem Weg von Wien zurückgeblieben waren, und bot zu diesem Zweck einen Waffenstillstand auf drei Tage an, mit der Bedingung, daß die beiderseitigen Truppen ihre Stellungen nicht verändern und ihre Standorte nicht verlassen dürften. Murat versicherte, die Friedensunterhandlungen seien bereits im Gang, und deshalb schlage er zur Vermeidung unnützen Blutvergießens den Waffenstillstand vor. Der österreichische General Graf Nostitz, der auf Vorposten stand, traute den Worten des Muratschen Parlamentärs und zog sich zurück, wodurch er Bagrations Abteilung bloßgab. Ein anderer Parlamentär Murats ritt nach der russischen Vorpostenkette, um dieselbe Nachricht über die Friedensverhandlungen mitzuteilen und den russischen Truppen einen dreitägigen Waffenstillstand vorzuschlagen. Bagration antwortete, er sei weder befugt, einen Waffenstillstand anzunehmen noch zurückzuweisen, und schickte einen seiner Adjutanten mit einem Bericht über den ihm gemachten Vorschlag zu Kutusow.
Der Waffenstillstand war für Kutusow das einzige Mittel, um Zeit zu gewinnen, damit die erschöpfte Abteilung Bagrations sich erholen könnte und der Train und Troß (dessen Bewegungen den Franzosen verborgen blieben) wenigstens um einen weiteren Tagesmarsch näher an Znaim herankäme. Der Vorschlag eines Waffenstillstandes gewährte die einzige und ganz unerwartete Möglichkeit, das Heer zu retten. Sobald Kutusow diese Nachricht erhalten hatte, schickte er unverzüglich den bei ihm bediensteten Generaladjutanten Wintzingerode in das feindliche Lager. Wintzingerode sollte nicht nur den Waffenstillstand annehmen, sondern auch Vorschläge über die Bedingungen einer Kapitulation machen; gleichzeitig aber schickte Kutusow mehrere Adjutanten nach rückwärts, um die Bewegung des Trains der ganzen Armee auf der Krems-Znaimer Straße soviel als irgend möglich zu beschleunigen. Nur die entkräftete, hungrige Abteilung Bagrations sollte, um gleichsam als Wand diese Bewegung des Trains und des ganzen Heeres zu verdecken, regungslos vor dem achtmal stärkeren Feind stehenbleiben.
Kutusows Erwartungen gingen in Erfüllung, sowohl in bezug darauf, daß die zu nichts verpflichtenden Kapitulationsvorschläge einem ziemlichen Teil des Trains Zeit gaben, vorbeizukommen, als auch in bezug darauf, daß Murats Irrtum sehr bald als solcher erkannt werden mußte. Sobald Bonaparte, der sich in Schönbrunn, fünfundzwanzig Werst von Hollabrunn, befand, Murats Bericht empfangen und von dem Projekt eines Waffenstillstandes und einer Kapitulation Kenntnis erhalten hatte, durchschaute er sofort die Täuschung und schrieb an