gibt dir der Luftgeist die Hand, und du fliegst mit ihm zur silbernen Brücke.«
»Kommst du nicht mit?« fragte Veronika, »ich würde mich sehr freuen, wenn du mitkämst. Wir haben uns so schön unterhalten.«
»Nein, ich kann nicht mit dir gehen«, sagte die Elfe, »ich bin an den Baum gebunden und muß in ihm bleiben, bis er abstirbt oder gefällt wird. Das kommt auch einmal.«
»Oh«, meinte Veronika bedauernd, »tut das sehr weh?«
»Es tut schon weh«, sagte die Elfe, »aber nicht so, wie du es dir denkst. Es ist so, als ob man auszieht aus einem Haus, das man gern hatte, in ein anderes, nicht so, wie wenn du dich in den Finger schneidest. Solchen Schmerz fühlen wir nicht, und wir sterben auch nicht so wie Menschen und Tiere, denn die sind ja anders mit ihrem Erdenleib verwachsen, und es ist ein größerer Abschnitt für sie, wenn sie ihn verlassen und über die silberne Brücke gehen. Wir aber sind halb hier und halb dort zu Hause, bis wir alle einmal die gleiche Heimat finden. Doch das wird erst sein, wenn Schneewittchen erwacht ist.«
»Ich kann das nicht ganz verstehen«, meinte Veronika, »ich bin noch nie gestorben und noch niemals von einem Haus in ein anderes gezogen.«
»Du hast beides schon viele Male getan«, sagte der Luftgeist von oben, »du hast es nur wieder vergessen. Die Dämmerung ist dazwischengekommen, und nun kommt sie bald wieder, kleine Veronika. Aber zuerst wollen wir noch zur silbernen Brücke fliegen.«
Da hob die Elfe Veronika auf und trug sie hoch in die Krone des Baumes, wo der Luftgeist auf sie wartete.
»Lebe wohl, kleine Veronika«, sagte sie, »vergiß mich nicht. Aber ich weiß ja, daß du mich vergessen wirst, wenn die Dämmerung kommt. So will ich dir lieber sagen: erinnere dich wieder einmal meiner, und dann denke daran, daß Schneewittchen im gläsernen Sarge schläft wie wir alle und daß wir alle erlöst sein wollen.«
»Ja, daran will ich denken«, versprach Veronika, »lebe wohl und auf Wiedersehen. Ich komme bald!«
»Du wirst nicht so bald kommen, und wenn du wieder durch den Garten der Geister wanderst, wird viel geschehen sein, Veronika«, rief die Elfe ihr nach und winkte ihr mit der Hand zum Abschied.
Oben in den grünen Zweigen saß die Amsel und machte einen erheblichen Lärm.
»Du brauchst nicht so zu schreien«, sagte Veronika, »über dich habe ich mich geärgert, denn du hast geschimpft, weil ich mit Mutzeputz befreundet bin. Dabei ist Mutzeputz viel klüger als du, und ich tue nichts, ohne Mutzeputz zu fragen. Überhaupt will ich dir sagen, daß du keine Ursache hast, auf andere zu schimpfen, denn der Käfer hat noch viel schlimmer über dich gesprochen als du über Mutzeputz. Der Käfer sagte, du seiest ein scheußliches Geschöpf, und die Regenwürmer sind auch derselben Meinung. Der Käfer sagte, er hätte mir nicht sein Landhaus gezeigt, wenn er gewußt hätte, daß ich dich kenne. Siehst du, so steht es mit dir, und du hast kein Recht, über Mutzeputz zu schimpfen. Mutzeputz hat auch stets seine pünktlichen Mahlzeiten und hat es nicht nötig, dich aufzuessen. Dich schon gar nicht!«
Veronika war es ordentlich eine Erleichterung, daß sie sich das vom Herzen reden konnte. Denn sie konnte es durchaus nicht vertragen, wenn jemand Mutzeputz nicht die schuldige Achtung erwies. Die Amsel aber saß da und sperrte den Schnabel auf über eine solche unerhörte Frechheit. So etwas hatte ihr wahrhaftig noch niemand gesagt, und das Schlimmste dabei war – es ließ sich auch nichts dagegen einwenden.
»Du hast schon recht, Veronika«, sagte der Luftgeist, »aber, sieh einmal, Mutzeputz hat recht, und die Amsel, die Käfer und die Regenwürmer auch. Das sind die Kräfte, die sie vernichten, weil sie in die Dämmerung hinabsteigen mußten, und das wird erst anders werden, wenn Schneewittchen wieder erwacht ist, und dazu kannst du einiges tun, und alle anderen Menschen können es wie du. Das sind große Geheimnisse des Werdens und Vergehens, Veronika, nur sind sie heute noch ein bißchen zu schwer für dich. Aber, nicht wahr, du kannst es verstehen, daß es dir auch nicht recht wäre, wenn man dich aufessen wollte – natürlich nicht dich, sondern deinen Erdenleib?«
»Ja«, meinte Veronika, »ich selbst bin nicht gegessen worden und kann darüber nichts sagen, ich denke es mir aber sehr eklig.«
»Siehst du«, sagte der Luftgeist, »und nun stelle dir einmal vor, es würde jemand kommen und die aufessen, die du lieb hast – und solche hast du doch auch, nicht wahr?«
»Natürlich«, sagte Veronika eifrig, »Mutzeputz und Mama, Onkel Johannes, Tante Mariechen, den kleinen Peter und meine Puppen, nein, die darf niemand essen, das wäre ja schrecklich. Auch Karoline soll nicht gegessen werden. Karoline ist die Köchin, weißt du. Sie spricht sehr laut, aber Mutzeputz schätzt sie sehr. Es ist eigentlich sonderbar, daß Mutzeputz sie schätzt, denn er mag es sonst nicht leiden, wenn man laut mit ihm spricht. Wir sprechen meist nur mit Gedanken zusammen. Papa kann man nicht mehr aufessen. Papa ist im Himmel. Mama sagt, der liebe Gott habe ihn irgendwie sehr nötig gehabt, und wir müssen uns so behelfen.«
»Liebst du Mutzeputz am meisten, Veronika«, fragte der Luftgeist, »weil du ihn ganz zuerst genannt hast?«
»Ich liebe alle«, sagte Veronika, »aber ich dachte zuerst an Mutzeputz, weil ich ihn immer nach allem frage. Die anderen kann man gar nicht so fragen, weil sie nicht alles verstehen, was man meint. Am ehesten noch Onkel Johannes. Es kann auch sein, daß Onkel Johannes ebenso klug ist wie Mutzeputz, aber ich glaube das eigentlich nicht. Jedenfalls sind sie beide sehr befreundet, und Onkel Johannes hat große Achtung vor Mutzeputz.«
»Das ist recht von Onkel Johannes«, meinte der Luftgeist, »aber nun wollen wir zusammen zur silbernen Brücke fliegen.«
»Wie kann ich das?« fragte Veronika zaghaft, »da müßte ich auch so schöne Flügel haben wie du.«
»Du hast ja schon welche, merkst du es nicht, daß sie dir an den Schultern gewachsen sind? Bei uns geht das schnell im Garten der Geister.«
Wahrhaftig – Veronika fühlte, wie sich leise federnde Falterschwingen an ihren Schultern bewegten, und schwerelos glitt sie mit dem Luftgeist von der Krone des Baumes in die weite, durchsonnte Sommerluft.
Um sie herum flogen Schmetterlinge.
»Nun bist du wie wir, Veronika«, sagten sie.
Tief unter ihnen lag der Garten mit Kohl und Radieschen, mit Blumen, Käfern und Regenwürmern, und die Quellnixe warf ihre blanken Bälle in die blaue Luft, daß sie im Sonnenlicht zersprangen wie tausend blitzende Diamanten.
»Warum fliegst du so hoch über den Garten hinweg, Veronika?« rief die Igelmutter, »du mußt erst einmal sehen, wie hübsch sich meine Kinder zusammenrollen können.«
»Oh, die niedlichen kleinen Kugeln, mit lauter Stacheln daran!« rief sie entzückt.
»Was fällt dir ein, von Kugeln zu reden?« ärgerte sich die Igelmutter, »das sind keine Kugeln, das sind meine Kinder. Was würdest du sagen, wenn ich deine Kinder Kugeln nennen wollte? Was sind das überhaupt für Ausdrücke!«
»Hier wird einem aber leicht etwas übelgenommen«, sagte Veronika, »erst schimpft die Amsel, dann der Käfer und nun der Igel. Dabei habe ich doch gesagt, daß die Kinder reizend sind.«
»Je tiefer im Garten der Erde, um so mehr wird alles mißverstanden, das kommt von der Dämmerung, Veronika, und am meisten mißverstehen und schimpfen die Menschen«, meinte der Luftgeist. »Veronika hat das gar nicht so gemeint«, rief er nach unten, »und außerdem ist eine Kugel die vollendetste aller Formen.«
»So? Ist das auch wahr?« fragte die Igelmutter geschmeichelt, »und wohin fliegt ihr so eilig?«
»Über die Quelle hinüber zur silbernen Brücke«, rief der Luftgeist.
»Da will ich auch hin«, meinte die Igelmutter, »aber wie soll ich mit den Kleinen über das Wasser? Ich suche schon lange nach einem passenden Übergang.«
»Am andern Ende des Gartens ist eine kleine Brücke«, sagte der Luftgeist, »die führt über die Quelle hinüber.«
»Immer diese Umwege!«