Fjodor Dostojewski

Schuld und Sühne


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der andere es merken könnte. Er fühlte wieder Kopfschwindel. »Ich falle gleich hin!« ging es ihm durch den Kopf, aber in diesem Augenblick begann der Unbekannte zu sprechen, und Raskolnikow beherrschte sich wieder.

      »Schlafen dort alle, oder hat sie jemand erwürgt? Die Verfluchten!« Seine Stimme klang wie aus einem hohlen Faß. »He, Aljona Iwanowna, alte Hexe! Lisaweta Iwanowna, unbeschreibliche Schönheit! Macht auf! Ha, diese Verfluchten, schlafen sie beide?«

      Er geriet in Wut und riß noch an die zehnmal am Glockenzug. Offenbar war er im Hause gut bekannt und genoß Respekt.

      In diesem Augenblick ertönten neue rasche Schritte auf der Stiege. Es kam noch jemand herauf. Raskolnikow hatte es anfangs überhört.

      »Ist denn niemand da?« fragte der Neuankömmling mit heller, klingender Stimme den ersten Gast, der noch immer am Glockenzug riß. »Guten Abend, Koch!«

      »Seiner Stimme nach scheint er jung zu sein«, dachte Raskolnikow.

      »Das weiß der Teufel! Ich habe schon beinahe das Schloß abgerissen«, erwiderte Koch. »Wieso kennen Sie mich?«

      »Haben Sie es schon vergessen? Ich habe Ihnen ja vorgestern im ›Gambrinus‹ drei Partien Billard abgewonnen!«

      »Ach so ...«

      »Es ist also niemand da? Sonderbar. Es ist übrigens dumm. Wo kann die Alte nur hingegangen sein? Ich muß sie sprechen.«

      »Ja, Väterchen, ich muß sie auch sprechen!«

      »Was soll man da machen? Umkehren? Und ich habe gehofft, daß ich hier Geld bekomme!« rief der junge Mann.

      »Natürlich müssen wir umkehren. Warum bestellt sie aber einen zu einer bestimmten Stunde? Ich mußte ja einen weiten Weg machen. Wo treibt sie sich nur herum? Das ganze Jahr hockt die alte Hexe zu Hause, so daß sie schwarz wird und ihr die Füße schmerzen, und gerade heute muß sie einen Ausflug machen!«

      »Soll man nicht den Hausknecht fragen?«

      »Was denn?«

      »Wo sie hingegangen ist, und wann sie heimkommt?«

      »Hm ... den Teufel auch! ... fragen ... Sie geht aber nie aus ...« Er riß noch einmal an der Türklinke.

      »Zum Teufel, nichts zu machen! Wir müssen umkehren!«

      »Warten Sie!« rief plötzlich der Jüngere. »Schauen Sie her; sehen Sie, wie die Tür wackelt, wenn man an der Klinke zieht?«

      »Nun?«

      »Folglich ist sie nicht versperrt, sondern nur verriegelt. Hören Sie, wie der Riegel klirrt?«

      »Nun?«

      »Verstehen Sie noch immer nicht? Folglich ist eine von den beiden zu Hause. Wären sie ausgegangen, so hätten sie die Tür von außen mit einem Schlüssel abgesperrt und nicht von innen zugeriegelt! Sie hören doch, wie der Riegel klirrt! Um aber die Tür von innen zu verriegeln, muß man zu Hause sein, nicht wahr? Folglich sind sie zu Hause und sperren nicht auf!«

      »Wirklich!« rief Koch erstaunt aus. »Was treiben die aber da?« Und er zerrte wieder mit aller Kraft an der Klinke.

      »Warten Sie!« sagte der junge Mann. »Ziehen Sie nicht! Wir haben ja geläutet und geklopft, sie sperren aber nicht auf. Folglich liegen beide in Ohnmacht, oder ...«

      »Was denn?«

      »Wir wollen den Hausknecht holen, damit er sie weckt.«

      »Gut!« Beide begannen die Treppe hinabzusteigen.

      »Warten Sie! Bleiben Sie hier, und ich gehe allein zum Hausknecht.«

      »Warum soll ich dableiben?«

      »Man kann nie wissen ...«

      »Sie haben vielleicht recht ...«

      »Ich will ja Untersuchungsrichter werden. Hier ist aber offenbar, offenbar etwas nicht in Ordnung!« Mit diesen Worten rannte er hinunter.

      Koch, der allein zurückblieb, rührte noch am Glockenzug. Die Klingel ertönte einmal. Dann faßte er langsam und nachdenklich die Klinke, drückte sie nieder und ließ sie los, um sich zu überzeugen, daß die Tür nur verriegelt sei. Dann beugte er sich keuchend zum Schlüsselloch, um hineinzusehen. Im Schloß steckte aber von innen der Schlüssel, folglich konnte er nichts sehen.

      Raskolnikow stand mit dem Beil in der Hand. Er fieberte und war bereit, wenn sie hereinkämen, Widerstand zu leisten. Während sie vor der Tür sprachen und klopften, kam ihm einige Male der Wunsch, schneller ein Ende zu machen und sie von seinem Posten aus anzurufen. Er wollte sogar schimpfen und sie necken, solange die Tür nicht aufgerissen war. »Daß nur alles schneller ein Ende nimmt!« ging es ihm durch den Kopf.

      »Daß ihn der Teufel ...«

      Es vergingen mehrere Minuten, niemand kam herauf. Koch wurde ungeduldig:

      »Daß ihn der Teufel!« schrie er plötzlich aus, gab seinen Posten auf und stieg ungeduldig, mit großem Lärm eilig die Treppe hinunter. Seine Schritte waren bald verhallt.

      »Mein Gott, was soll ich tun?«

      Raskolnikow riegelte auf, öffnete etwas die Tür und ging plötzlich, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, hinaus. Er schloß hinter sich die Tür und begann die Treppe hinunterzugehen.

      Als er drei Treppen hinter sich hatte, hörte er unten lärmen. Was tun? Er konnte sich nirgend verstecken. Er wollte zuerst wieder hinaufgehen.

      »Teufel! Haltet ihn!«

      Aus einer Wohnung ganz unten stürzte jemand wie verrückt heraus und lief – es war mehr ein Fallen – hinunter. Dabei schrie er wie besessen:

      »Mitjka! Mitjka! Mitjka! Mitjka! Mitjka! Daß dich der Teufel!«

      Das Schreien ging in Winseln über. Die letzten Töne klangen schon im Hof. Dann wurde alles still. In diesem Augenblick kamen aber mehrere Männer, die laut und eifrig sprachen, die Treppe hinauf. Es waren ihrer drei oder vier, Raskolnikow erkannte die Stimme des Jüngeren. »Das sind sie!«

      Verzweifelt und auf alles gefaßt ging er ihnen entgegen. Wenn sie ihn stellen – ist alles verloren; stellen sie ihn nicht, so ist auch alles verloren, denn sie werden ihn sich merken. Sie kamen immer näher, nun war nur noch eine Treppe zwischen ihm und ihnen; plötzlich – Rettung! – einige Stufen unter ihm steht die leere Wohnung offen; es ist jene Wohnung im ersten Stock, in der früher die Anstreicher arbeiteten, die jetzt – wie auf Bestellung – weggegangen sind. Den Lärm von vorhin machten wohl die Anstreicher, als sie die Wohnung verließen. Der Fußboden ist frisch gestrichen, mitten im Zimmer steht ein Kübel, liegt ein Topfscherben mit Farbe und ein Pinsel. Er schlich rasch in die offene Wohnung und verbarg sich hinter der Wand; es war auch die höchste Zeit, denn sie waren bereits an der Tür. Dann gingen sie, immer noch laut sprechend, zum vierten Stock hinauf. Er wartete ab, verließ auf den Fußspitzen die Wohnung und lief die Treppe hinunter.

      Auf der Treppe war kein Mensch! Auch im Torweg niemand! Er ging rasch durch das Tor und schwenkte nach links ab.

      Er wußte ganz genau, daß sie sich in diesem Augenblick schon in der Wohnung befanden, daß sie erstaunt waren, die Wohnung offen zu finden, während sie früher versperrt war, daß sie nun die Leichen entdeckt hatten und daß sie in höchstens einer Minute einsahen, daß der Mörder eben noch da war und sich nun irgendwo versteckt hatte; sie würden vielleicht darauf kommen, daß er sich in der leeren Wohnung versteckt gehalten hatte, während sie hinaufgingen. Er wagte aber nicht, schneller zu gehen, obwohl die nächste Straßenecke höchstens hundert Schritte entfernt war. – Soll ich nicht in irgendeinen Torweg abschwenken oder auf einer unbekannten Straße abwarten? Nein, es ist gefährlich! Oder das Beil wegschmeißen? Oder eine Droschke nehmen? Es ist gefährlich ...

      Da war auch schon die Quergasse, er erreichte sie mehr tot als lebendig. Hier war er beinahe außer Gefahr; er sah es ein, denn hier konnte