Valerio Curcio

Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen


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erschienen, aber Aufnahmen vom berühmten Biavati-Übersteiger konnte ich nirgendwo finden.

      Biavati hat den Übersteiger auch nicht erfunden. Diese Technik, bei der ein Spieler einen Fuß über den Ball setzt und damit einen Richtungswechsel antäuscht, sah man offenbar zuerst bei dem argentinischen Flügelstürmer Pedro Calomino, der ab 1911 für die Boca Juniors spielte. Amedeo Biavati aber machte die Technik in Italien bekannt, wo sie in den Dreißigern als doppio passo (Doppelschritt) in die Geschichte einging. Heute ist sie auf der ganzen Welt bekannt, insbesondere durch Cristiano Ronaldo und seine manchmal etwas affig wirkende Technik des Mehrfach-Übersteigers.

      Pasolini muss sich ab dem 11. Lebensjahr in Bologna, auf den Wiesen von Caprara, mit dem Übersteiger Biavatis beschäftigt haben – so wie ich mich auf den Wiesen des Worpsweder Teufelsmoors mit dem Fallrückzieher von Klaus Fischer beschäftigte, den ich dann das erste Mal Mitte der Achtziger in einem Spiel für den FC Worpswede gegen den TSV Ritterhude einsetzte. Ich weiß es noch, als sei’s erst gestern gewesen.

      Es sind diese besonderen Spieler und ihre Bewegungen, die einen für ein ganzes Leben prägen können. So muss es auch mit Pasolini und Biavatis Übersteiger gewesen sein. Er übte ihn als Gymnasiast auf den Caprara-Wiesen, später auf den Plätzen der römischen Vorstadt, und er wendete ihn dann sein ganzes Leben an, wann immer er ein Spiel hatte. Und Pasolini hatte viele Spiele.

      Es gibt noch eine andere besondere Begebenheit, die von Pasolinis Liebe zum Fußball erzählt und die mich wirklich tief berührt.

      1963, in der Saison, als der FC Bologna zum siebten Mal italienischer Meister werden sollte, interviewte Pasolini die Spieler des FC Bologna. Das Thema war leider nicht der Übersteiger von Biavati, sondern das Verhältnis der Italiener zur Sexualität; das Ganze war für einen Dokumentarfilm mit dem Titel Gastmahl der Liebe gedacht. Pasolini hatte sich lange auf das Interview vorbereitet, war bereits Tage vorher an den Drehort gekommen, das Sportzentrum des FC Bologna.

      Die Videoaufnahme des Interviews ist heute bei YouTube anzusehen. Pasolini im schwarzen Anzug, offenbar auch gerade beim Friseur gewesen, steht geradezu feierlich vor den Spielern in ihren Trainingsanzügen. Er wirkt wie ein hilfloser Liebender vor den Anbetungswürdigen, die dumpf, auch etwas stumpf wirken und ihm keinen brauchbaren Satz schenken können.

      Mir ist das, was Pasolini mit den Spielern vom FC Bologna widerfuhr, auch schon passiert. In meine Nibelungen kam einmal bei den Wormser Nibelungenfestspielen die gesamte Mannschaft von Bayer 04 Leverkusen, kein Herzensverein wie der FC Bologna, aber immerhin spielten da gerade eine Reihe illustrer Profis. »Hat euch die Darstellung des Siegfrieds gefallen?«, fragte ich das Team danach. Michael Ballack kaute Kaugummi, als ob er mich gar nicht gehört hatte; Bernd Schneider starrte in die Kulissen, Lúcio lächelte an mir vorbei.

      Die Liebe der Kulturschaffenden zum Fußball ist manchmal so glühend und blind, dass wir in die Protagonisten des Fußballs – unsere Sterne! – alles hineinprojizieren, was ohnehin schon in uns an Überhöhung vorhanden ist.

      Der italienische Regisseur Sergio Citti, berichtete nach einem Treffen von Pasolini mit Bulgarelli, dem jungen Kapitän vom FC Bologna, dass Pasolini gewirkt hätte, als habe er Jesus gesehen.

      So etwas kann ich mir bei Pasolini absolut vorstellen, weil ich es von mir selber kenne. Man vergisst in dem Moment auch den eigenen kulturellen Stellenwert und steht plötzlich ganz blank und zart vor seinen Kindheitsträumen und jenen, die sie verkörpern. »Meiner Ansicht nach lebte Pier Paolo mit rückwärtsgewandtem Blick. Er blickte seinem Kinder-Ich hinterher, das sich davongemacht hatte. Wenn er spielte, dann nahm dieses Kind zusammen mit dem Fußball wieder Gestalt an; wenn er mit dem Spielen aufhörte, verwandelte er sich aufs Neue in den unruhigen, geplagten Erwachsenen, zu dem er geworden war« – genauer und schöner als die Schriftstellerin Dacia Maraini kann man diese Liebe aus Kinderzeiten nicht beschreiben. (Wie Pasolini im Friaul an den Lippen von Fabio Capello, dem früheren italienischen Nationalspieler, hing, das lese man nach in diesem Buch!)

      Ich erinnere mich noch an ein Gespräch vor einigen Jahren mit Günter Netzer bei einem Länderspiel in Mönchengladbach. Wir saßen danach an der Hotelbar, und ich hörte zu, wie Netzer von den alten Zeiten erzählte. Auch ich hing an Netzers Lippen. Ich erinnerte mich, dass meine Tante Anfang der Siebziger in ihn verliebt war und wie sie, ohne eigenes Fernsehgerät, immer zu uns kam, wenn es Länderspiele gab, bei denen Netzer mitspielte oder sich sogar selbst bei Spielen einwechselte. Ich erinnerte mich auch an die Begeisterung von Joseph Beuys für Netzer: Er hatte ihm sogar eine Professur für angewandte, ausübende und praktizierende Kunst an der Kunsthochschule in Düsseldorf angeboten!

      Ich fragte Netzer an diesem Abend an der Hotelbar, ob er sich noch an das Angebot von Beuys in Sachen Kunsthochschule Düsseldorf erinnern könne. Netzer sah mich an, sagte nichts und sprach dann mit den anderen über Fortuna Düsseldorf, nicht über die Kunsthochschule. Ich dachte sofort, dass Beuys oder irgendjemand anderes sich das damals mit Netzer und der Professur nur ausgedacht hatte, um die Liebe der Kultur zu den auratischen Spielern noch weiter zu erhöhen.

      Pasolini ließ für den Fußball sogar seine berühmte Kapitalismuskritik ruhen, als er von einem Bekannten auf der Frankfurter Buchmesse hörte, dass es in der Nähe ein neues Fachgeschäft gebe mit neuartiger Adidas-Fußballbekleidung. Pasolini verließ sofort die Buchmesse und kaufte für seine Mannschaft ein, offenbar ohne seine berühmte Verachtung für bourgeoise Kaufgier.

      Natürlich hatte auch Pasolini eine eigene Mannschaft gegründet, genau wie ich. Seine hieß die Nazionale dello spettacolo, meine die Autorennationalmannschaft, abgekürzt: Autonama, ein Name, der Pasolini bestimmt gefallen hätte.

      Mein Leben als Schriftsteller hatte sich mit der Gründung einer eigenen Mannschaft seltsam verwandelt, wie das von Pasolini, als er seine Mannschaft hatte und quer durch Italien und Europa reiste, um Fußball zu spielen.

      Begonnen hatten wir 2005 in Mecklenburg-Vorpommern. Auf einer Wiese ohne Tore trafen sich 11 Schriftsteller, um in einer feierlichen Zusammenkunft die deutsche Autorennationalmannschaft zu gründen. Einer stand am Rande und versuchte ein ums andere Mal den Ball hochzuhalten, wie Sisyphos; ein anderer fiel in eines der Löcher in der Wiese und brach sich den Arm. Immerhin stand, kopfschüttelnd zwar, auch ein ausgewiesener Trainer auf der Wiese: der damalige Coach von Hertha BSC, Hans Meyer. Mit ihm reisten wir dann zur ersten Autoren-Weltmeisterschaft nach Italien, in die Toskana, nach San Casciano, es gab vorerst nur vier Teams. Wir spielten zuerst gegen Italien. Hätte dieses Spiel 30 Jahre früher stattgefunden, ich könnte wetten, bei der Gelegenheit hätte ich Pasolini kennen gelernt. Er hätte auf der einen Seite gestürmt, ich auf der anderen. Und er hätte dann mein 1:0 gesehen, kein Fallrückzieher, aber ein Flugkopfball aus acht Metern, bei dem ich in eine halbhohe Flanke von rechts hechtete.

      Es gibt einige Berichte über dieses Tor, auf Italienisch, auf Deutsch. Manchmal habe ich dieses Tor gegen Italien auch selbst kommentiert, wie Pasolini seine Tore manchmal ebenfalls selbst kommentiert bzw. Spielberichte nachkorrigiert hat: »Ich füge euch diese Notiz aus dem Popolo del Friuli an, die – unter anderem – fehlerhaft ist und wie folgt angepasst werden muss: ›Als Erster traf Cecchet mit einem Elfmeter in der 20. Minute. Darufhin kam es auf dem Platz zu Krawallen zwischen Spielern, Schiedsrichter und Zuschauern; doch als wenige Minuten später wieder Ruhe eingekehrt war, schoss Pasolini mit einer Einzelaktion das zweite Tor.‹«

      So etwas will man später über sich in den Biographien und Geschichtsbüchern lesen, und darum korrigieren Autorenspieler wie Pasolini oder ich die Spielberichte. »Jedes Tor ist eine eigene Erfindung«, schreibt Pasolini. »Jedes Tor ist Unausweichlichkeit, Geistesblitz, Staunen, Irreversibilität. Genau wie das dichterische Wort. Der Torschützenkönig einer Meisterschaft ist jedes Mal der Jahresbeste unter den Dichtern.«

      Längst ist der DFB auf meine Mannschaft aufmerksam geworden und kleidet uns wie eine richtige Nationalmannschaft. Wir haben bereits mit Hymnen gegen England, Frankreich, natürlich immer wieder gegen Italien, gegen Ungarn, Israel, Norwegen, gegen die Ukraine und die Türkei, gegen Polen, Brasilien, Argentinien usw. gespielt. Manchmal rief mein Verlag an und fragte, wo denn das neue Theaterstück bliebe, und ich antwortete: Bald, nach dem nächsten Spiel! Pasolini machte es ja genauso, er richtete sogar