jetzt wurde es ernst.
Nachdem ich mich in mein Zimmer begeben hatte, machte ich es mir auf dem Bett gemütlich, um nochmal alles durchzugehen. Dabei war ich eingeschlafen und als ich aufwachte, war es kurz nach elf. Leider wusste ich nicht, was ich mit der restlichen Zeit noch anfangen sollte.
Plötzlich klopfte es an meiner Tür: „Jess?“ Als ich sie öffnete, blickte ich in zwei vertraute Augen. „Störe ich?“ Es war Jake. Noch hatte ich keine Ahnung, was er von mir wollte.
Ich schüttelte den Kopf: „Komm ruhig rein.“ Er betrat das Zimmer und setzte sich aufs Bett, während ich die Tür hinter ihm schloss. „Was ist denn los? Ist etwas passiert?“
„Nein, eigentlich nicht.“ Jake lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lag nun quer über dem Bett. „Ich wollte nur nicht länger warten. Langsam werde ich ungeduldig.“ Es tat gut zu wissen, dass es nicht nur mir so ging.
Also lächelte ich ihn an: „Da bist du nicht der Einzige. Ich bin gespannt, was uns da draußen erwartet.“
Jake schaute kurz auf: „Bist du nervös?“
„Gute Frage.“ Ich setzte mich neben ihn und starrte an die Decke. „Eigentlich nicht, aber die Schattenwölfe bereiten mir Sorgen. Früher oder später werden wir ihnen über den Weg laufen und das macht mir Angst.“
„Ach was.“ Jake richtete sich mit einem Lächeln auf. „Vor denen brauchst du dich nicht zu fürchten. Die sind doch gar nichts, verglichen mit unserem Rudel. Wir passen aufeinander auf, versprochen.“ Er schien sich dieser Sache sicher zu sein, vielleicht sogar etwas zu sicher. Wir dürfen nicht vergessen, was uns Kyrion über die Schattenwölfe erzählt hat.
Sie sind stärker, schneller und vor allem hinterlistiger als andere Wölfe. Nebenbei kennen sie keine Furcht und verstehen es, ihrem Gegner Angst einzujagen. Außerdem sind sie zu sechst, während wir nur fünf sind. Das alles spricht nicht gerade für einen guten Kampfausgang, aber das ist es eigentlich nicht, was ich gemeint hatte.
„Du wirst wohl recht haben.“ Diese halbherzige Antwort ließ Jake aufhorchen. Er wollte mir in die Augen sehen, aber ich blickte zu Boden.
„Du machst dir keine Sorgen wegen eines Kampfes, nicht wahr? Dir liegt doch etwas anderes auf dem Herzen.“ Jake schien schon zu wissen, worum es mir ging. „Glaubst du, ich habe nicht mitbekommen, wie sehr dich das beschäftigt? In den letzten Monaten warst du stets in Gedanken versunken, sobald es um die Schattenwölfe ging, und ich habe schon eine Ahnung, warum.“
Ich zögerte: „Was ist, wenn die Begegnung mit den Schattenwölfen nicht gut für mich ist? Sie werden bestimmt merken, dass ich zum Teil eine von ihnen bin. Wie werden sie dann wohl reagieren? Und vor allem, wie werde ich reagieren?“ Diese Frage beschäftigt mich schon sehr lange. Welche Wirkung werden die Schattenwölfe auf mich haben? Ich weiß genau, dass ich etwas Dunkles in mir trage und es wird mit der Zeit immer heftiger versuchen, aus mir herauszubrechen. Wenn ich der puren Bösartigkeit von sechs Schattenwölfen ausgesetzt bin, kann ich dann meine eigenen dunklen Gedanken noch in Zaum halten?
Jake sah mir besorgt in die Augen: „Jess? Muss ich mir Sorgen machen?“
Schuldbewusst schüttelte ich den Kopf: „Ich weiß es nicht.“ Die Gefahr besteht, dass ich mich selbst verliere. Seitdem ich erfahren habe, was ich bin, habe ich oft Angst vor mir selbst, vor meinem Inneren. Ich spüre, dass etwas ausbrechen möchte und es erfordert viel mentale Stärke, um das zurückzuhalten. In dieser Hinsicht bin ich umso froher, dass ich Jake bei mir habe. Sei es die Tatsache, dass er mein bester Freund ist, oder die, dass er ein Lichtwolf ist, in seiner Nähe ist die Dunkelheit so gut wie verschwunden. Hoffentlich bleibt das auch so.
Jake stand auf und schaute aus dem Fenster: „Hat dir Kyrion nicht gezeigt, wie du dich in Zaum halten kannst? Ihr hattet doch ein spezielles Training, nicht wahr?“ Das überraschte mich. Immerhin wollte ich nicht, dass er es den anderen erzählt. Es wäre mir unangenehm gewesen, wenn sie wüssten, dass ich eine tickende Zeitbombe bin. Es stellte sich also die Frage: warum wusste Jake davon?
Ich wurde neugierig: „Woher weißt du das? Hat Kyrion dir davon erzählt? Wissen es die anderen auch?“ Mir ist zwar mittlerweile klar, dass sie hinter mir stehen, dennoch würde es dem Zusammenhalt der Gruppe schaden, dachte ich.
Jake schüttelte aber den Kopf: „Keine Sorge, die anderen wissen nichts davon. Ich habe es bereits kurz nach dir von Kyrion erfahren und das aus einem guten Grund. Schließlich bin ich der Anführer dieses Rudels. Ich möchte über alles und jeden Bescheid wissen. Meine Aufgabe ist es, das Rudel zusammenzuhalten.“ Das war wieder mal typisch Jake. Er nimmt seine Rolle als Leitwolf nach wie vor ernst.
Trotzdem vermutete ich, dass noch mehr dahintersteckte: „Gibt es noch etwas? Das ist doch nicht der einzige Grund, nicht wahr?“
Mit einem Lächeln im Gesicht sah er zu mir: „Dir kann man wirklich nichts vormachen, oder Jess?“ Dann wurde er ernst. „Dass ich euer Anführer bin, ist eigentlich nur nebensächlich. Der wahre Grund dafür, warum ich von deinem Training weiß, ist, dass ich selbst auch eines gemacht habe.“ Diese Worte ergaben für mich keinen Sinn. Immerhin war ich die Schattenwölfin im Rudel und nicht Jake.
Also wollte ich mehr wissen: „Worum ging es dabei?“
„Ich bin ein Lichtwolf und kann die Dunkelheit in dir besser in Zaum halten als jeder andere.“ Langsam begriff ich, worauf er hinauswollte. „Kyrion hat mir gezeigt, wie ich im Notfall reagieren sollte.“
Ich nickte nachdenklich: „Großartig.“ Ich muss zugeben, dass ich das mit etwas mehr Enthusiasmus hätte sagen können, aber mir war in diesem Moment ehrlich gesagt nicht danach zumute. Es war merkwürdig, dass sogar Jake schon Sicherheitsvorkehrungen für den Notfall treffen musste. Ich fühlte mich immer mehr wie ein Monster, das eingesperrt werden sollte.
Wieder ließ sich Jake zurück auf das Bett fallen: „Wir schaffen das schon. Und damit meine ich nicht nur das mit dir, sondern alles. Ich bin mir sicher, dass wir die uns auferlegte Aufgabe meistern werden.“
Nun legte auch ich mich neben Jake: „Wäre nur schön, wenn wir langsam erfahren würden, was wir wirklich zu tun haben. Mir ist schon klar, dass wir die sieben Amulette vor den Schattenwölfen finden und sicher verwahren müssen, aber haben wir überhaupt eine Ahnung, wo sie sich befinden?“
Jake zuckte mit den Schultern: „Ich denke, dass uns Kyrion kurz vor unserem Aufbruch den ersten Anhaltspunkt geben wird. Dann werden wir wohl oder übel selbst danach suchen müssen. Wut, Hass, Furcht, Zweifel, Trauer, Einsamkeit und Eifersucht. Diese sieben Amulette gilt es zu finden und das werden wir.“
Es war schon merkwürdig, ein letztes Mal vor dem Haus zu stehen. In den letzten Monaten ist dieses wie ein neues Zuhause für mich geworden und nun ließ ich es hinter mir. Das machte mich traurig. Außerdem stieg die Unsicherheit in mir hoch. Ob ich diesen Ort jemals wiedersehen würde? Es ist nicht einmal sicher, ob jeder von uns die Reise übersteht. Das gilt auch für mich.
„Ich werde diesen Ort vermissen.“ Diese Aussage von Logan bestätigte meine Vermutung. Den anderen ging es ähnlich, jetzt da es ernst wurde.
Chris stimmte ihm zu: „Ich auch. Vom trauten Heim direkt in die Wildnis. Ich vermisse mein warmes Bett jetzt schon.“
Rachel setzte fort: „Und die Dusche und das gute Essen erst!“ Ihre Worte trafen ins Schwarze. Das erste Mal seit Langem verspürte ich Heimweh und das, obwohl wir noch nicht einmal weggegangen waren.
„Ihr werdet doch wohl nicht jetzt schon zu jammern beginnen! Kommt schon, Leute! Wir sind noch nicht einmal richtig aufgebrochen!“ Jake hatte recht. Wir waren tatsächlich etwas bequem geworden.
Somit unterstützte ich ihn: „Irgendwie freue ich mich ja schon auf unsere Reise. Das wird wie früher, bevor wir hierhergekommen sind.“ Verwirrte Blicke schweiften zu mir. Nur Jake und Kyrion lächelten mich stolz an.
Die Reise zu Kyrion war im Nachhinein betrachtet gar nicht so schlimm, im Gegenteil. Natürlich haben wir auch