ihren Arm gefaßt, seine mageren Finger drückten sich wie eiserne Klammern in das Fleisch – er schüttelte sie einige Male heftig.
»Komm zu dir, komm zur Besinnung, abscheuliches Kind!« rief er. »Pfui, ein Mädchen und so zügellos! Bei dem unverzeihlichen Hange zu Leichtsinn und Liederlichkeit auch noch diese maßlose Heftigkeit! ... Ich sehe ein, hier ist viel versehen worden,« wandte er sich an seine Mutter, »aber unter deiner Zucht, Mama, wird das anders werden.«
Er ließ den Arm der Kleinen nicht los und führte sie unsanft aus dem Zimmer hinüber in die Gesindestube.
»Von heute an habe ich über dich zu gebieten – merke dir das!« sagte er rauh; »und wenn ich auch fern bin, ich werde dich doch exemplarisch zu strafen wissen, sobald ich erfahre, daß du meiner Mutter nicht in allen Stücken ohne Widerrede gehorchst ... Für dein heutiges Benehmen hast du auf längere Zeit Hausarrest, um so mehr, als du von der Freiheit einen so schlechten Gebrauch machst. Du betrittst den Garten ohne ganz spezielle Erlaubnis meiner Mutter nicht wieder; ebensowenig gehst du auf die Straße, die Wege nach der Bürgerschule ausgenommen, die du von nun an besuchen wirst; und hier in der Gesindestube magst du essen und dich tagüber aufhalten, bis du bessere Sitten zeigst ... Hast du mich verstanden?«
Die Kleine wandte schweigend das Gesicht ab, und er verließ die Stube.
Kapitel 9
Nachmittags trank die Familie Hellwig den Kaffee draußen im Garten. Friederike hatte ihren kattunenen, flanellgefütterten Sonntagsmantel über die Schultern geworfen, die schwarzseidene, wattierte Staatsmütze aufgesetzt und war zuerst in die Kirche und dann zu einer »Frau Muhme« auf Besuch gegangen. Heinrich und Felicitas waren allein in dem großen, kirchenstillen Hause. Ersterer war längst heimlicherweise draußen auf dem Gottesacker gewesen und hatte das verhängnisvolle Tuch heimgeholt – es lag nun gesäubert und regelrecht zusammengelegt im Kasten.
Der ehrliche Bursche hatte die vormittägige Szene von der Küche aus mit angehört und zum Teil auch gesehen; er war sehr in Versuchung gewesen, hervorzuspringen und mit seinen derben Fäusten den Sohn des Hauses ebenso zu schütteln, wie die zarte Gestalt des aufrührerischen Kindes hin und her geschüttelt wurde. Jetzt saß er da in der Gesindestube und schnitzelte an seinem defekten Ausgehstock herum, wobei er leise und zwar sehr ungeschickt und unmelodisch pfiff. Er war ja aber auch gar nicht bei der Sache; seine Blicke huschten rastlos und verstohlen hinüber nach dem schweigenden Kinde ... Das war gar nicht mehr das Gesicht der kleinen Felicitas! Sie saß dort wie ein gefangener Vogel, aber wie ein Vogel, dem die Wildheit in der Brust brennt und der voll unversöhnlichen Grolles der Hände denkt, die ihn gefesselt haben ... Auf ihren Knieen lag der Robinson, den Heinrich auf eigene Gefahr hin von Nathanaels Bücherbrett geholt hatte, aber sie warf keinen Blick hinein. Der Einsame hatte es gut auf seiner Insel, da gab es doch keine bösen Menschen, die seine Mutter leichtsinnig und liederlich schalten; da lag der funkelnde Sonnenschein auf den Palmenkronen, auf den grünen Wogen des fetten Wiesengrases – und hier brach das Gotteslicht gedämpft, als trübe Dämmerung durch die engvergitterten Fenster, und nirgends, weder draußen in der schmalen Gasse noch hier im ganzen Hause, erquickte ein grünes Blatt das Auge ... Ja, drin im Wohnzimmer, da stand freilich ein Asklepiasstock im Fenster – die einzige Blume, die Frau Hellwig pflegte, aber Felicitas konnte diese regelmäßigen, wie aus kaltem Porzellan geformten Blütenbüschel, die starren, harten Blätter nicht leiden, die stocksteif und ungerührt dahingen, mochte auch der Luftzug durchstreichen, soviel er wollte – was gab es denn Schöneres, als draußen die leichtbeweglichen, grünen Zungen an Büschen und Bäumen mit ihrem unaufhörlichen Rauschen und Flüstern?
Die Kleine sprang plötzlich auf. Droben auf dem Dachboden, da konnte man weit hinaus in die Gegend sehen, da war sonnige Luft – wie ein Schatten glitt sie die gewundene steinerne Haupttreppe hinauf.
Das alte Kaufmannshaus war eigentlich nach gewissen Begriffen degradiert worden. Vor langen Zeiten war es ein Edelsitz gewesen. Es hatte auch noch etwas Ehrgeiziges in seiner Physiognomie – wenn auch nicht in dem Maße, wie die Türme, die alles unter sich lassen und, wenn es ginge, am liebsten auch den Himmel als alleiniges Eigentum auf ihre Spitze spießen möchten – aber es zeigte doch hier und da dies Emporstreben in dem Turmansatze des Erkers und vor allem in den mächtigen Schornsteinen, die sich in jenen Zeiten so nötig machten, wo noch die Wildbraten in ihrer natürlichen Größe und Urwüchsigkeit auf den Bratspießen adeliger Küchen steckten ... Das blaue Blut, das die Herzen der ehemaligen ritterlichen Bewohner klopfen gemacht, war längst versiegt, ja, in den letzten Stadien war es ihm ergangen, wie dem alten Hause auch – es war degradiert worden.
Die vordere, nach dem Marktplatz gewendete Front des Hauses hatte sich allmählich in etwas modernisiert, die Hintergebäude dagegen, drei gewaltige Flügel, standen noch in keuscher Unberührtheit, wie sie aus der Hand ihres Schöpfers hervorgegangen waren. Da gab es noch jene langen, hallenden Gänge mit schiefen Wänden und tief ausgetretenem Estrich, in denen selbst bei strahlendem Mittagssonnenscheine eine traumähnliche Dämmerung webt, und die es einer sagenhaften Ahnfrau so leicht machen, in grauer Schleppe, mit verblichenem Antlitz und schattenhaft gekreuzten Händen umherzuspuken. Da waren noch jene unvorhergesehenen, unter dem leisesten Tritte kreischenden Hintertreppchen, die plötzlich am Ende eines Korridors auftauchen, um drunten vor irgend einer unheimlichen, siebenfach verriegelten Thür zu münden – jene abgelegenen, scheinbar zwecklosen Ecken mit einem einsamen Fenster, durch dessen runde, bleigefaßte Scheiben fahle Lichtsäulen auf den zerbröckelnden Backsteinfußboden fallen. Der Staub, der hier auf die Köpfe der Vorüberwandelnden herabrieselte, war historisch; er hatte als jugendliche Holzfaser irgend eines Balkens oder als neuer Mörtel die hochgehenden Wogen des blauen Blutes mit angesehen.
Wo es irgend möglich gewesen, hatte der Steinmetz das Wappen des Erbauers des Hauses, eines Ritters von Hirschsprung, angebracht. Die steinernen Thür-und Fenstereinfassungen, ja selbst einzelne Quadern des Fußbodens zeigten den majestätischen Hirsch, wie er, die Vorderläufe hochhebend, zum grausigen Sprunge über einen Abgrund ansetzte. Auf den Thürpfosten einer der großen Staatsstuben im Vorderhause befanden sich auch die Bildnisse des Erbauers und seiner Ehegesponsin, langgestreckte Gestalten in Barett und Schneppenhaube. Der ehrenfeste Ritter blickte mit unvergänglich herausforderndem Stolze in die Welt, aus der längst sein Staub und seine »für ewig« besiegelten und verbrieften Ansprüche hinweggeweht waren.
Felicitas stand droben an der Mündung der Treppe und sah mit großen, verwunderten Augen in eine halboffene Thür, die sie nicht anders als verschlossen kannte ... Wie sehr mußte die Ausführung ihres Racheaktes alles Denken der sonst so peinlich pünktlichen Hausfrau in Anspruch genommen haben, daß sie darüber Schloß und Riegel vergessen konnte! ... Hinter der Thür lag ein scheinbar endloser Korridor, der über eines der Hintergebäude hinlief, und in welchen verschiedene Thüren mündeten. Eine derselben stand offen und ließ in eine Rumpelkammer mit einem sehr hochliegenden Mansardenfenster sehen. Sie war vollgepfropft mit altem Gerümpel, und da seitwärts an einem Rokokoarmsessel lehnte auch das Bild der Frau Kommerzienrätin. Es war nicht einmal gegen eine schützende Wand gekehrt; Staub und Spinnen durften sich nun ungestört des Gesichts bemächtigen, das dem Maler in der stolzen Ueberzeugung gesessen hatte, es werde für Kind und Kindeskinder bis in die fernste Zeit ein Gegenstand hoher Verehrung sein.
Die großen, hervortretenden, etwas lüsternen Augen hatten, so nahe gesehen, etwas Furchterregendes für das Kind – es wandte sich ängstlich ab, aber in dem Momente fuhr es wie ein Stich durch das kleine Herz und das Blut brauste nach dem Kopfe – den mit Seehundsfell überzogenen Koffer dort am Boden kannte ja die kleine Felicitas ganz genau! ... Scheu, mit angehaltenem Atem – schlug sie den Deckel zurück – da lag obenauf ein hellblaues Wollkleidchen, dessen Säume und Bündchen zierliche Stickerei zeigten. Ach ja, das hatte ihr Friederike eines Abends ausgezogen, und dann war es verschwunden, und die kleine Felicitas mußte dafür ein abscheuliches, dunkles Kleid anlegen.
Immer tiefer und heftiger wühlten die kleinen Hände, – was kam da alles zum Vorschein, und wie stürmte es in der Kinderseele bei diesem Wiedersehen! ... All diese Gegenstände, so elegant, als sollten sie den vornehmen Körper einer kleinen Prinzessin umhüllen, hatte die tote Mutter in den Händen gehabt. Felicitas erinnerte sich