rief Nikolai freudig.
»Ich persönlich aber, wenn du das wissen willst, lege auf die Freundschaft mit dir größeren Wert, weil ...«
»Warum? Warum?«
Konstantin konnte doch nicht wohl sagen, daß er dies deshalb tue, weil Nikolai unglücklich sei und eines Freundes bedürfe. Aber Nikolai zweifelte nicht, daß er gerade dies hatte sagen wollen, und griff wieder mit finsterer Miene nach dem Branntwein.
»Lassen Sie es genug sein, Nikolai Dmitrijewitsch!« bat Marja Nikolajewna und streckte ihren rundlichen nackten Arm nach der Flasche aus.
»Laß das! Sei nicht so dreist, oder du bekommst Schläge!« schrie er.
Auf Marja Nikolajewnas Gesicht erschien ein sanftes, freundliches Lächeln, dem Nikolai nicht widerstehen konnte. Auch er lächelte, und sie nahm den Branntwein weg.
»Meinst du etwa, daß sie dumm ist?« sagte Nikolai. »Sie versteht all das besser als wir alle. Nicht wahr, sie hat etwas so Gutes, Liebes an sich?«
»Sind Sie früher nie in Moskau gewesen?« fragte Konstantin sie, um doch irgend etwas zu sagen.
»Aber so sage doch nicht Sie zu ihr! Das ist ihr nur peinlich. Nie hat jemand Sie zu ihr gesagt, außer dem Friedensrichter, als sie in Anklagezustand versetzt war, weil sie aus dem Hause der Unzucht hatte davongehen wollen. – Mein Gott, was gibt es doch für Sinnlosigkeit in der Welt!« schrie er plötzlich auf. »Diese neuen Einrichtungen, diese Friedensrichter, der Kreistag, was für ein Unsinn ist das!«
Und er begann von seinen Zusammenstößen mit den neuen Einrichtungen zu erzählen.
Konstantin hörte ihm zu. Er selbst teilte Nikolais Ansicht von der Sinnlosigkeit aller dieser staatlichen Einrichtungen und hatte diese Ansicht oft genug ausgesprochen, aber dennoch war es ihm unangenehm, sie jetzt aus dem Munde des Bruders zu hören.
»Im Jenseits werden wir das alles verstehen«, bemerkte er scherzend.
»Im Jenseits? Ach, weißt du, das Jenseits kann ich nicht leiden! Ich kann es nicht leiden«, sagte er und heftete seine scheuen, verstörten Augen auf das Gesicht des Bruders. »Es wäre ja wohl ganz schön, aus all dieser Gemeinheit und Verworrenheit, fremder sowohl wie eigener, herauszukommen, aber ich fürchte mich vor dem Tode, ganz entsetzlich fürchte ich mich vor dem Tode.« Er schauderte. »Aber trink doch irgend etwas! Willst du Champagner? Oder komm, wir wollen irgendwohin fahren. Wir wollen zu den Zigeunern fahren! Weißt du, an den Zigeunern und an den russischen Volksliedern habe ich großen Geschmack bekommen.«
Die Zunge wollte ihm nicht recht gehorchen, und er ging unvermittelt von einem Gegenstande zum anderen über. Mit Marjas Hilfe redete ihm Konstantin seine Absicht, noch irgendwohin zu fahren, aus und brachte den vollkommen Betrunkenen ins Bett.
Konstantin ließ sich von Marja versprechen, daß sie im Notfalle an ihn schreiben und Nikolai zureden werde, zu ihm aufs Land zu ziehen.
26
Am Morgen war Konstantin Ljewin aus Moskau abgefahren, und gegen Abend langte er zu Hause an. Unterwegs auf der Bahn hatte er sich mit seinen Reisegefährten über Politik und über neue Eisenbahnlinien unterhalten, und ebenso wie in Moskau waren ihm seine Begriffe in Verwirrung geraten, und eine Unzufriedenheit mit sich selbst und ein eigentümliches Schamgefühl hatten ihn befallen. Aber als er nun auf seiner Station ausstieg und seinen krummen Kutscher Ignat mit dem hochgeschlagenen Mantelkragen erblickte und als er in dem schwachen Lichtschimmer, der durch die Fenster des Bahnhofsgebäudes drang, seinen mit Decken wohlversehenen Schlitten und seine Pferde mit den aufgebundenen Schwänzen, in dem mit Ringen und Fransen verzierten Geschirr, sah und als der Kutscher Ignat, noch während das Gepäck aufgeladen wurde, ihm die Gutsneuigkeiten erzählte, daß ein Agent für Arbeitskräfte angekommen sei und daß Pawa gekalbt habe: da fühlte er, daß die Verwirrung in seinem Kopfe sich allmählich löste und das Gefühl der Scham und der Unzufriedenheit mit sich selbst verging. Das hatte er schon beim ersten Blick auf Ignat und die Pferde empfunden; aber als er nun gar den für ihn mitgebrachten Schafpelz anzog, sich wohlvermummt in den Schlitten setzte und dahinfuhr und dabei über die von ihm in Aussicht genommenen Anordnungen auf dem Gute nachdachte und das eine Seitenpferd beobachtete, das früher sein Reitpferd gewesen war, aus einem Donischen Gestüt, ein schon etwas abgerackertes, aber immer noch tüchtiges Tier: da gelangte er zu einer ganz anderen Auffassung seines letzten Erlebnisses. Er fühlte sich wieder als das, was er war, und wollte nichts anderes sein. Nur besser wollte er jetzt werden, als er früher gewesen war. Erstens nahm er sich vor, von nun an nicht mehr auf ein außerordentliches Glück, wie er es sich von der Ehe versprochen hatte, zu hoffen und nicht mehr infolge einer solchen Hoffnung die Gegenwart gering zu schätzen. Zweitens wollte er sich nicht wieder von garstiger Sinnlichkeit hinreißen lassen, weil die Erinnerung an frühere Fälle solcher Schwäche ihn damals, als er seinen Heiratsantrag zu machen beabsichtigte, so furchtbar gemartert hatte. Ferner gedachte er seines Bruders Nikolai und gab sich das Wort, ihn nie wieder zu vergessen, sich stets Kenntnis über sein Ergehen zu verschaffen und ihn nie aus den Augen zu verlieren, um zur Hilfe bereit zu sein, wenn es ihm schlecht ginge. Daß es bald soweit sein werde, daran konnte er nicht zweifeln. Auch was sein Bruder zu ihm über den Kommunismus gesagt hatte, ohne daß er seinerseits dabei ernstlich Stellung zu diesem Gegenstande genommen hätte, brachte ihn jetzt zum Nachdenken. Er hielt eine gänzliche Umgestaltung der sozialen Verhältnisse für ein Ding der Unmöglichkeit, aber er hatte immer seinen eigenen Überfluß gegenüber der Armut der Masse als Ungerechtigkeit empfunden und nahm sich nun, um das Gefühl einer vollen Berechtigung zu haben, fest vor, wenn er auch schon vorher viel gearbeitet und ohne Üppigkeit gelebt hatte, jetzt noch mehr zu arbeiten und sich noch weniger Wohlleben zu gestatten. Und daß er zur Verwirklichung aller dieser Absichten die Kraft in sich finden werde, schien ihm so sicher, daß er den ganzen Weg in den angenehmsten Träumereien verbrachte. Mit einem mutigen Gefühle der Hoffnung auf ein neues, besseres Leben fuhr er bald nach acht Uhr an seinem Hause vor.
Aus den Fenstern seiner alten Kinderfrau und jetzigen Wirtschafterin Agafja Michailowna fiel ein Lichtschein auf den schneebedeckten Platz vor dem Hause. Sie schlief noch nicht. Der Diener Kusma, den sie geweckt hatte, kam verschlafen und barfuß auf die Freitreppe heraus. Die Hühnerhündin Laska kam gleichfalls herausgesprungen, wobei sie den Diener beinahe umstieß, und rieb sich winselnd an Ljewins Knien; sie hob sich in die Höhe und hätte ihm gern die Vorderfüße auf die Brust gesetzt, wagte dies aber doch nicht.
»Sie sind ja schnell wieder zurückgekommen, Väterchen«, sagte Agafja Michailowna.
»Ich bekam Heimweh, Agafja Michailowna. Auf Besuch sein ist schön, aber zu Hause ist es doch am besten«, antwortete er ihr und ging in sein Zimmer.
Die Kerze, die er hineintrug, erhellte die einzelnen Teile des Zimmers einen nach dem anderen. Die ihm so wohlbekannten Stücke der Einrichtung traten aus dem Dunkel hervor: die Hirschgeweihe, die Bücherregale, der Spiegel, der Ofen mit der Ventilation, die schon längst einer Ausbesserung bedurfte, das altväterische Sofa, der große Tisch, auf dem Tische ein aufgeschlagenes Buch, ein zerbrochener Aschenbecher, ein Heft, in dem er geschrieben hatte. Beim Anblick aller dieser Gegenstände überkam ihn für einen Augenblick ein Zweifel, ob es möglich sein werde, jenes neue Leben ins Werk zu setzen, das er sich unterwegs so schön ausgemalt hatte. Alle diese seine bisherigen Lebensbegleiter schienen ihn gleichsam in ihre Arme zu schließen und zu ihm zu sagen: ›Nein, du entrinnst uns nicht und wirst nie ein anderer werden; du bleibst immer derselbe, der du gewesen bist: mit deinen Zweifeln, mit deiner steten Unzufriedenheit mit dir selbst, mit deinen vergeblichen Versuchen, dich zu bessern, und deinen sich immer wiederholenden Rückfällen, und mit deinem lebenslänglichen Warten auf ein Glück, das dir nicht beschieden ist und das du nicht erringen kannst.‹
Aber während die leblosen Gegenstände so zu ihm sprachen, sagte ihm eine andere Stimme in seinem Inneren, man dürfe sich nicht zu einem Knechte der Vergangenheit herabwürdigen, und der Mensch könne aus sich alles machen. Und auf diese Stimme hörend, ging er in die Ecke, wo er zwei schwere Gewichte stehen hatte, und hob sie turnermäßig in die Höhe, um sich dadurch in eine frische, mutige Stimmung zu versetzen. Aber da wurden vor der Tür knarrende Schritte vernehmbar,