Arthur Schnitzler

Der Weg ins Freie


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»Und eine amerikanische Erbin wär auch nicht zu verachten.« Während er sich dieses Gesprächs erinnerte, behagte er sich sehr in der Idee, ein bißchen in der Welt herumzuabenteuern, wünschte sich, fremde Städte und Menschen kennen zu lernen, irgendwo im Weiten allerlei Liebe und Ruhm zu gewinnen, und fand am Ende, daß seine Existenz im ganzen viel zu ruhig und einförmig dahinflösse.

      Längst, ohne innerlich von Anna Abschied genommen zu haben, hatte er die Paulanergasse verlassen und bald war er zu Hause. Als er ins Speisezimmer trat, sah er, daß aus dem Zimmer Felicians Licht schimmerte.

      »Guten Abend, Felician«, rief er laut.

      Die Türe wurde geöffnet, und Felician, noch völlig angekleidet, trat heraus.

      Die Brüder reichten sich die Hände.

      »Du kommst auch erst jetzt nach Hause?« sagte Felician. »Ich habe gedacht, du schläfst schon lang.« Während er sprach, sah er, wie das seine Art war, an ihm vorbei und neigte den Kopf nach der rechten Seite. »Was hast du denn getrieben?«

      »Ich war im Prater«. erwiderte Georg.

      »Allein?«

      »Nein, ich habe Leute getroffen. Den Oskar Ehrenberg mit seiner Dame und den Schriftsteller Bermann. Wir haben geschossen und sind Rutschbahn gefahren. Es war ganz lustig ... Was hast du denn da in der Hand?« unterbrach er sich. »Bist du so spazieren gegangen?« fügte er scherzend hinzu.

      Felician ließ den Degen, den er in der Rechten hielt, im Licht der Lampe schimmern. »Ich habe ihn eben von der Wand herunter genommen. Morgen fang ich wieder ernstlich an. Das Tournier ist schon Mitte November. Und heuer will ichs auch gegen Forestier versuchen.«

      »Donnerwetter«, rief Georg.

      »Eine Unverschämtheit, denkst du dir, was? Aber bis Mitte November ist noch lang. Und das merkwürdige ist, ich habe das Gefühl, als wenn ich heuer im Sommer, gerade in den sechs Wochen, während ich das Ding da gar nicht in der Hand gehabt habe, was zugelernt hätte. Es ist, wie wenn mein Arm indessen auf neue Ideen gekommen wäre. Ich kann dir das nicht recht erklären.«

      »Ich verstehe schon, was du meinst.«

      Felician hielt den Degen ausgestreckt vor sich hin und betrachtete ihn mit Zärtlichkeit. Dann sagte er: »Ralph hat sich nach dir erkundigt, Guido auch ... schad, daß du nicht mit warst.«

      »Hast du den ganzen Nachmittag mit ihnen verbracht?«

      »O nein! Nach dem Essen bin ich zu Haus geblieben. Du mußt grad fortgegangen sein. Ich hab studiert.«

      »Studiert?«

      »Ja. Ich muß mich jetzt ernstlich dranmachen. Im Mai spätestens will ich die Diplomatenprüfung ablegen.«

      »Du bist also vollkommen entschlossen?«

      »Absolut. In der Statthalterei zu bleiben hat wirklich keinen Sinn für mich. Je länger ich drin sitz', umso klarer wird mir das. Die Zeit wird übrigens nicht verloren sein. Sie haben's gar nicht ungern, wenn einer ein paar Jahre internen Dienst gemacht hat.«

      »Da wirst du also wahrscheinlich schon im Herbst von Wien fortgehen?«

      »Es ist anzunehmen.«

      »Und wo werden sie dich hinschicken?«

      »Ja, wenn man das schon wüßte.«

      Georg sah vor sich hin. So nahe also war der Abschied! Doch warum berührte ihn das plötzlich so sehr? ... Er selbst war ja entschlossen fortzugehen, und erst neulich hatte er mit dem Bruder von seinen Absichten fürs nächste Jahr geredet. Glaubte der noch immer nicht an ihren Ernst? Wenn man sich doch wieder einmal mit ihm aussprechen könnte, brüderlich, herzlich wie an jenem Abend nach des Vaters Begräbnis. Wahrhaftig, nur wenn das Leben ihnen düster sich enthüllte, fanden sie ganz zueinander. Sonst blieb immer diese seltsame Befangenheit zwischen ihnen beiden. Das konnte offenbar nicht anders werden. Man mußte sich eben bescheiden, miteinander plaudern, in der Art von guten Bekannten. Und wie resigniert fragte Georg weiter: »Was hast du denn am Abend gemacht?«

      »Ich habe mit Guido soupiert und einer interessanten jungen Dame.«

      »So?«

      »Er ist nämlich wieder in zarten Banden.«

      »Wer ist's denn?«

      »Konservatorium, Jüdin, Geige. Aber sie hat sie nicht mitgehabt. Nicht besonders hübsch, aber g'scheit. Sie bildet ihn, und er achtet sie. Er will, sie soll sich taufen lassen. Ein komisches Verhältnis, sag ich dir. Du hättest dich ganz gut unterhalten.«

      Georg hatte seinen Blick auf den Degen gerichtet, den Felician noch immer in der Hand hielt. »Hättest du Lust, noch ein bißchen zu manschettieren?« fragte er.

      »Warum nicht?« erwiderte Felician und holte ein zweites Florett aus seinem Zimmer. Indes hatte Georg den großen Tisch aus der Mitte an die Wand gerückt.

      »Seit dem Mai hab ich keines in der Hand gehabt«, sagte er, indem er den Degen ergriff. Sie legten die Röcke ab und kreuzten die Klingen. In der nächsten Sekunde war Georg tuschiert.

      »Nur weiter!« rief Georg und empfand es wie ein Glück, daß er in verwegener Stellung, die blitzende, schlanke Waffe in der Hand, dem Bruder gegenüber stehen durfte.

      Felician traf ihn, so oft es ihm beliebte, ohne nur ein einziges Mal selbst berührt zu werden. Dann ließ er den Degen sinken und sagte: »Du bist heut zu müd, es hat keinen Sinn. Aber du solltest wieder fleißiger in den Klub kommen. Ich versichre dich, es ist schad, bei deinen Anlagen.«

      Georg freute sich des brüderlichen Lobs. Er legte den Degen auf den Tisch, atmete tief und ging zu dem offenen, breiten Mittelfenster. »Wundervolle Luft!« sagte er. Aus dem Park schimmerte eine einsame Laterne, es war vollkommene Stille.

      Felician trat zu Georg hin, und während dieser sich mit beiden Händen auf die Brüstung stützte, blieb der ältere Bruder aufgerichtet stehen und ließ einen seiner ruhig-hochmütigen Blicke über Straße, Park und Stadt schweifen. Sie schwiegen beide lang. Und sie wußten, daß jeder an dasselbe dachte: an eine Mainacht heuer im Frühjahr, in der sie zusammen durch den Park nach Hause gegangen waren, und der Vater sie von demselben Fenster aus, an dem sie jetzt standen, mit stummem Kopfnicken begrüßt hatte. Und beide durchschauerte es ein wenig bei dem Gedanken, daß sie heute den ganzen Tag so lebensfroh hingebracht hatten, ohne sich mit Schmerzen des geliebten Mannes zu erinnern, der nun unter der Erde lag.

      »Also gute Nacht«, sagte Felician, weicher als sonst und reichte Georg die Hand. Er drückte sie wortlos, und jeder ging in sein Zimmer.

      Georg schaltete die Schreibtischlampe ein, nahm Notenblätter hervor und begann zu schreiben. Es war nicht das Scherzo, das ihm eingefallen war, als er vor drei Stunden mit den andern unter schwarzen Wipfeln durch die Nacht gesaust war; und auch nicht die melancholische Volksweise aus dem Restaurant; sondern ein ganz neues Motiv, das wie aus geheimen Tiefen langsam und unaufhaltsam emporgetaucht kam. Es war Georg zu Mute, als müßte er nur ein Unbegreifliches gewähren lassen. Er schrieb die Melodie nieder, die er sich von einer Altstimme gesungen oder auch auf der Viola gespielt dachte; und eine seltsame Begleitung tönte ihm mit, von der er wußte, daß sie ihm nie aus dem Gedächtnis schwinden konnte.

      Es war vier Uhr morgens, als er zu Bette ging; beruhigt wie einer, dem niemals im Leben etwas Übles begegnen kann, und für den weder Einsamkeit, noch Armut, noch Tod irgendwelche Schrecken haben.

      Zweites Kapitel

      Im erhöhten Erker auf dem grünsamtenen Sofa saß Frau Ehrenberg mit ihrer Stickerei; Else, ihr gegenüber, las in einem Buch. Aus dem tiefern und dunklern Teil des Zimmers, hinter dem Klavier hervor, leuchtete das weiße Haupt der marmornen Isis, und durch die offene Tür floß aus dem benachbarten Zimmer ein heller Streif über den grauen Teppich. Else sah von ihrem Buche auf, durchs Fenster zu den hohen Wipfeln des Schwarzenbergparkes, die sich im Herbstwind regten, und sagte beiläufig: »Man könnt' vielleicht dem Georg Wergenthin telephonieren, ob er heut Abend