Arthur Schnitzler

Der Weg ins Freie


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und unwillkürlich lösten sie die Arme. Sie blieben vor verschiedenen Auslagen stehen, entdeckten unter einem Haustor den Glaskasten eines Photographen und waren sehr belustigt von der mühselig-ungezwungenen Haltung, in der hier Jubelpaare, Kadettoffiziersstellvertreter, Köchinnen im Sonntagsstaat und für den Maskenball kostümierte Damen aufgenommen waren.

      Georg, in leichterm Tone, fragte wieder: »Also war es Stanzides?«

      »Aber was fällt dir denn ein. Ich hab in meinem Leben keine hundert Worte mit ihm gesprochen.«

      Sie spazierten weiter.

      »Also doch Leo Golowski?« fragte Georg.

      Sie schüttelte den Kopf und lächelte. »Das war die Jugendliebe«, erwiderte sie, »das gilt überhaupt nicht. Übrigens möcht ich das 16jährige Mädel kennen, das sich auf dem Land nicht in einen schönen Jüngling verliebt hätte, der sich mit einem veritabeln Grafen schlägt und dann acht Tage mit dem Arm in der Schlinge herumspaziert.«

      »Aber er hat es doch nicht deinetwegen getan, sondern sozusagen für die Ehre seiner Schwester.«

      »Für Theresens Ehre? Wie kommst du auf die Idee?«

      »Du hast mir doch erzählt, daß der junge Mensch Therese im Walde angesprochen hatte, während sie die ›Emilia Galotti‹ studierte.«

      »Ja das ist schon wahr. Übrigens hat sie sich ganz gern ansprechen lassen. Dem Leo war es aber nur deswegen zuwider, weil der junge Graf zu einer Gesellschaft von jungen Leuten gehört hat, die sich wirklich ziemlich frech und halt ein bissel antisemitisch benommen haben. Und wie Therese einmal mit ihrem Bruder am See spazieren geht und der Graf kommt daher und redet Therese an wie eine gute Bekannte und murmelt nur so beiläufig für Leo seinen Namen, da hat Leo ein Buckerl gemacht und sich ihm mit den Worten vorgestellt: ›Leo Golowski, Jüd aus Krakau.‹ Was es weiter gegeben hat, weiß ich nicht genau. Es ist zu einem Wortwechsel gekommen, und am nächsten Tag war dann das Duell in Klagenfurt in der Kavalleriekaserne.«

      »Da hab ich doch recht«, beharrte Georg spöttisch, »für die Ehre seiner Schwester hat er sich geschlagen.«

      »Nein, sag ich dir. Ich bin ja dabei gewesen, wie er später einmal mit Therese über die Geschichte gesprochen und ihr gesagt hat: ›Von mir aus kannst du tun, was dir Spaß macht, kannst dir den Hof machen lassen, von wem du willst‹ ...«

      »Nur ein Jud muß es halt sein ...«, ergänzte Georg.

      Anna schüttelte den Kopf. »So ist er wirklich nicht.«

      »Ich weiß«, erwiderte Georg mild. »Wir sind ja sehr gute Freunde geworden in der letzten Zeit, dein Leo und ich. Gestern Abend erst sind wir wieder im Kaffeehaus zusammen gewesen, und er war wirklich sehr herablassend zu mir. Ich glaube, mir verzeiht er sogar meine Abstammung. Im übrigen hab ich dir noch gar nicht erzählt, daß auch Therese heute bei Ehrenbergs oben war.« Und er berichtete von dem Erscheinen des jungen Mädchens im Salon Ehrenberg und von dem Eindruck, den sie auf Demeter gemacht hatte.

      Anna lächelte vergnügt dazu.

      Später, während sie wieder in einer stilleren Straße Arm in Arm spazierten, begann Georg von neuem: »Jetzt weiß ich aber noch immer nicht, wer die große Liebe gewesen ist.«

      Anna schwieg und sah vor sich hin.

      »Nun, Anna! Du hast mir ja versprochen, nicht wahr?«

      Ohne ihn anzusehen, erwiderte sie: »Wenn du nur ahntest, wie sonderbar mir heute die Geschichte vorkommt.«

      »Warum sonderbar?«

      »Weil der, nach dem du fragst, eigentlich ein alter Mann gewesen ist.«

      »Fünfunddreißig«, scherzte Georg, »nicht wahr?«

      Sie schüttelte ernsthaft den Kopf. »Er war achtundfünfzig oder sechzig.«

      »Und du?« fragte Georg langsam.

      »Im Sommer waren es zwei Jahre. Einundzwanzig war ich damals.«

      Georg blieb plötzlich stehen. »Nun weiß ich es, dein Gesangslehrer war es. Nicht wahr?«

      Anna antwortete nicht.

      »Also wirklich«, sagte Georg, ohne sich eigentlich zu wundern, denn es war ihm nicht unbekannt, daß sich in den berühmten Meister, trotz seiner grauen Haare, alle Schülerinnen verliebten.

      »Und den«, fragte Georg, »hast du am meisten geliebt von allen Menschen, die dir begegnet sind?«

      »Seltsam, nicht wahr? Aber es ist doch so ...«

      »Hat er es gewußt?«

      »Ich glaub schon.«

      Sie waren auf einen ausgeweiteten Platz gekommen mit einer kleinen Gartenanlage, die nur spärlich beleuchtet war. Hinten erhob sich rötlich schimmernd eine Kirche. Dorthin, als zög es sie an einen stillern Ort, wandelten sie unter dunkeln, leise schwankenden Ästen.

      »Und was ist denn eigentlich zwischen euch vorgefallen, wenn man fragen darf?«

      Anna schwieg, und Georg hielt in diesem Augenblick alles für möglich. Selbst, daß Anna die Geliebte jenes Menschen gewesen wäre. Aber innerhalb des Unbehagens, das er bei diesem Gedanken empfand, regte sich leise und kaum bewußt der Wunsch in ihm, seine Befürchtung bestätigt zu hören. Denn wie leicht und verantwortungslos ließ dies Abenteuer sich an, wenn Anna schon einem andern gehört hatte, eh sie die Seine wurde.

      »Ich will dir die ganze Geschichte erzählen«, sagte Anna endlich. »Sie ist wirklich nicht so schrecklich.«

      »Also?« fragte Georg, seltsam gespannt.

      »Einmal nach der Stunde«, begann Anna zögernd, »hat er mir galant in die Jacke hineingeholfen. Und plötzlich hat er mich an sich gezogen und mich umarmt und geküßt.«

      »Und du ...?«

      »Ich ... ich war ganz berauscht.«

      »Berauscht ...«

      »Ja, es war etwas Unbeschreibliches. Er hat mich auf die Stirn geküßt und auf den Mund und aufs Haar ... und dann hat er meine Hand genommen und hat allerlei Worte gemurmelt, die ich gar nicht recht gehört hab ...«

      »Und ...«

      »Und dann ... dann waren Stimmen daneben ... er hat meine Hand losgelassen ... und es war aus.«

      »Aus?«

      »Ja, aus. Selbstverständlich war es aus.«

      »Gar so selbstverständlich find ich das eigentlich nicht. Du hast ihn doch wiedergesehen.«

      »Freilich, ich hab ja weiter bei ihm gelernt.«

      »Und ...?«

      »Ich sag dir doch, es war aus ... vollkommen, als wär überhaupt nie was gewesen.«

      Georg wunderte sich, daß er sich beruhigt fühlte. »Und er hat nie wieder den Versuch gemacht?« fragte er.

      »Nie wieder. Es wäre auch lächerlich gewesen. Und da er sehr klug war, hat er das selbst ganz gut gewußt. Vorher, es ist ja wahr, hatt ich ihn sehr geliebt. Aber nach diesem Vorfall war er nichts andres mehr für mich, als mein alter Lehrer. Gewissermaßen sogar älter, als er in Wirklichkeit war. Ich weiß nicht, ob du das so ganz verstehen kannst. Es war, als ob er den ganzen Rest seiner Jugend verschwendet hätte in jenem Augenblick.«

      »Ich verstehe es ganz gut«, sagte Georg. Er glaubte ihr und liebte sie mehr als früher. Sie traten in die Kirche. Es war fast dunkel in dem weiten Raum. Nur vor einem Seitenaltar brannten trübe Kerzen, und drüben, hinter einer kleinen Heiligenstatue, schimmerte ein armes Licht. Ein breiter Strom von Weihrauchduft floß zwischen Wölbung und Steinfliesen hin. Der Meßner ging umher und klapperte leise mit den Schlüsseln. In den Bänken rückwärts, regungslos, dämmerten Gestalten. Langsam schritt Georg mit Anna vorwärts und fühlte sich wie ein junger Gatte auf Reisen, der mit seiner jungen Frau eine Kirche besichtigt. Er sagte es Anna. Sie nickte nur. »Es wär aber noch viel schöner«, flüsterte