hatte oder einfach nur kein Interesse mehr an ihr hatte? Sie selbst konnte mit Sicherheit sagen, dass sie noch immer dasselbe für ihn empfand wie vier Monate zuvor. Für sie hatte sich nichts geändert, aber Frauen tickten oftmals leider etwas anders als Männer und was die italienische Mentalität betraf, kannte sie sich auch nicht sonderlich gut aus…
Unbehagen machte sich breit und vermischte sich mit einer kleinen Portion Angst. Unruhig rutschte sie auf ihrem Sitz hin und her, während sie nach einem geeigneten Parkplatz Ausschau hielt, der das Einparken für sie als Frau möglich machte, ohne große Kunststücke vollführen zu müssen.
Nachdem sie etwa fünf Mal im Kreis gefahren war und ihr Fahrzeug endlich abgestellt hatte, nachdem sie bemerkte, dass die Parklücke ja gar nicht so schmal war, wie sie anfangs gedacht hatte, schnappte sie sich die Kopie des Tickets mit der Ankunftszeit und eilte in die große Halle. Im Hauptgebäude von Terminal 5 schaute sie sich in alle Richtungen um, und noch während sie ihren Blick über die unzähligen Menschen schweifen ließ, sank ihre Zuversicht zusehends. Wie sollte sie ihn in diesem Gewimmel finden? Seine Maschine musste jeden Moment landen, aber selbst nahe der Gepäckausgabe hatte sie die Befürchtung, ihn zu verpassen.
Das Beste, das ihr einfiel, war, sich in der Nähe des Haupteingangs zu platzieren, ihre Gedanken an die vielen heißen Nächte in Kalabrien zu vergessen und stattdessen nach Marcos angezogenem Körper Ausschau zu halten. Sie hoffte, dass er angemessen gekleidet war, hier in England war es mitten im Oktober schon so kalt geworden, dass zumindest ein dicker Pullover ein absolutes Muss war.
Sie stand an der Tür, sah hunderte von Menschen, aber nur nicht den, den sie sehen wollte. Sie drehte sich nach links, drehte sich nach rechts, aber sie konnte ihn nirgends entdecken. War er womöglich gar nicht gekommen? Hatte er es sich anders überlegt, nachdem er das Interesse an ihr verloren hatte?
Plötzlich tippte ihr jemand sachte auf die linke Schulter. Erschrocken blickte sie auf den soeben berührten Körperteil und sah im Augenwinkel eine dunkelblaue, dünne Jacke, links und rechts je ein starker Arm mit Händen, die sie unter tausenden wiedererkannt hätte. Schnell ließ sie ihren Blick nach oben wandern und sah das Leuchten, das ihr in so vielen Nächten den Weg gewiesen hatte.
Er hatte sie gefunden. Unter all den Menschen.
Stumm sahen sie einander an, brachten scheinbar kein Wort über die Lippen. Stattdessen war dort ein beiderseitiges aufrichtiges Lächeln zu finden, das Freude und Erleichterung zugleich spiegelte und ebenso viele Fragen stellte, wie es Antworten gab.
Nachdem Olivia sich versichert hatte, dass es kein Traum gewesen war, löste sich ihre angespannte Körperhaltung auf und verwandelte sich in eine herzliche und lange Umarmung.
Marco erwiderte diese Geste und drückte sie fest an sich.
Oh, wie gut er duftete… Es war nichts Bestimmtes, nichts, das sie hätte benennen können, und doch benebelte es ihre Sinne. Augenblicklich fand sie sich am Strand nahe der Wellen wieder, dort, wo alles angefangen hatte, sah, wie er sich über sie beugte und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, nachdem ihr Kreislauf ihr beim Schwimmen einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte.
Auch Marco dachte an den gemeinsamen Sommer zurück. Der Moment, in dem er ihr zum ersten Mal begegnet war, die gemeinsamen Abende an der Strandpromenade, der erste Kuss, die erste Berührung, die erste Nacht im Schutz der Felsenwand… Noch immer konnte er den Sand unter seiner Haut spüren, der ihrer beiden Spuren mithilfe der salzigen Wellen sicher längst in den Ozean gespült hatte.
Desweiteren konnte er noch etwas anderes spüren, viel zu deutlich, wenn er bedachte, dass sich zahlreiche Menschen mit ihm in der gleichen Halle befanden. Zudem hoffte er, dass seine Jeans und Olivias Mantel dick genug waren um zu verhindern, dass sie spürte, wie sehr er sich über ihr Wiedersehen freute.
Endlich fand Olivia ihre Sprache wieder. "Schön, dass du da bist. Ich freue mich so, dich zu sehen." Der Druck um ihren Körper verstärkte sich, was sie als gutesd Zeichen deutete. "Ich freue mich, hier zu sein."
Er atmete tief ein und wieder aus, ehe er das aussprach, was ohnehin irgendwann ausgesprochen werden musste.
"Ich hatte schon befürchtet, du würdest mich nicht sehen wollen, nach allem, was war…" Etwas nervös wartete er ihre Antwort ab und wurde dabei tatsächlich ein wenig auf die Folter gespannt.
"Ach, was. Ich freue mich wirklich sehr über deinen Besuch." Olivia löste sich langsam aus seiner Umarmung, um ihm endlich ganz bewusst in die Augen sehen zu können. "Ich dachte schon, du würdest nicht kommen. Dass du es dir anders überlegt oder du eine neue Frau kennengelernt hättest."
Marco schmunzelte und gab ihr einen festen Kuss auf die Stirn, als würde er ihr verdeutlichen wollen, was für ein törichtes Mädchen sie doch war.
"Ich hatte gar keine Möglichkeit, an andere Frauen zu denken. Die einzige Frau in meinen Gedanken und meinem Herzen warst du, auch über all die Monate hinweg. Außerdem war ich viel zu sehr mit meinen Ängsten und Sorgen beschäftigt."
Olivia wurde hellhörig. "Ängste?" Marco nickte und zog die Mundwinkel wieder ein Stück gen Himmel. "Ich hatte tatsächlich Angst, den Urlaub hier in England alleine verbringen zu müssen. Du weißt gar nicht, wie leid mir das alles tut. Ich wünschte, Fabrizio wäre dir nie über den Weg gelaufen."
Olivia, die nun die Rolle mit Marco getauscht hatte und dieses Mal die Einheimische war, nickte verständnisvoll. "Aber es ist nun mal passiert. Und ich hätte ja auch etwas besser aufpassen können. Dann hätte ich die Unterschiede sicher deutlicher wahrgenommen. Aber ich war so besessen von dir, von deinem Körper und deiner liebevollen Art, dass ich scheinbar blind war…"
Olivia stockte als sie erkannte, wovon sie gerade sprach. Er war gerade erst angekommen, und schon hatte sie nur das Eine im Kopf.
Marco beruhigte ihr schlechtes Gewissen mit einem sanften und innigen Kuss, von dem sie sich wünsche, er würde niemals enden. Nach zahlreichen, weiteren Küssen, die immer fordernder und leidenschaftlicher wurden, löste sie sich endlich von ihm. Lange hielt sie es nicht mehr aus, sie konnte es deutlich spüren. Und wenn ihre Wahrnehmung sie nicht täuschte, musste es Marco ähnlich gehen.
"Komm, wir bringen erst mal dein Gepäck zur Pension." Marco schnappte sich seinen Koffer und zog ihn hinter sich her, während er Olivia bis zu ihrem Auto folgte.
Er betrachtete ihre Rückseite, schmunzelte bei dem Gedanken, was ihm möglicherweise bevorstand und fragte: "Nur das Gepäck?"
Frech grinsend blickte sie hinter sich, sah ihm direkt in die Augen und zuckte lediglich mit den Schultern.
Wiedersehensfreude
Obwohl sie während der knapp fünfundvierzigminütigen Autofahrt ganz andere Sachen im Kopf hatten versuchten sie, ihre Gespräche auf allgemeine Themen zu lenken. Olivia schaute konzentriert auf die Straße, während sie mit ehrlichem Interesse seinen Erzählungen lauschte. Im Grunde genommen war es nichts Besonderes, was Marco zu berichten hatte. Sein Leben in Italien war weiter gegangen, er hatte getan, was er schon immer getan hatte. Lediglich eine einzige Nebenbeschäftigung war nach Olivias Abreise neu dazu gekommen: Nämlich das Kreisen seiner Gedanken um Olivia und ihren Körper.
Tagtäglich hatte er sie vermisst, hatte sich gewünscht, dass ihr Abschied anders verlaufen wäre, hatte ihren Duft und ihre Berührungen herbei gesehnt, sich nach ihren Küssen verzehrt und inständig gehofft, dass sie sein Päckchen erhalten und es nicht sofort in den Müll geworfen hatte.
Sein größter Wunsch jedoch war der, dass sie ihm sein kindisches Verhalten und seine verletzten Worte verzeihen möge.
Wenn man sie so nebeneinander sitzen sah kam es einem so vor, als hätte es niemals Unstimmigkeiten oder gar Tränen zwischen ihnen gegeben. Sie saßen ruhig in ihre Autositze gelehnt, den Blick auf die vorbeiziehende Landschaft gerichtet, die Augen mit einem Hauch von Liebe und Geborgenheit gefüllt, auf den Lippen ein zartes Lächeln, das nur sie beide deuten konnten.
Auch Olivia erzählte von ihrem