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Tilman Janus
Winter-Milch
Zwölf schwule Erotikgeschichten
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Inhaltsverzeichnis
Putzstunde
Fluchend knallte ich das Schubfach meines Schreibtisches zu. Wieder einmal hatte es mich erwischt – ich musste zu Weihnachten Notdienst schieben! Die lausigen Familienväter hatten frei bekommen. Aber der gutmütige Sebastian Frei – das bin ich – kann ja Weihnachten arbeiten, der hat ja keine Familie, dem macht es nichts aus. Dass meine betagten Eltern auf einen Besuch warteten, dass ich meiner alten Tante versprochen hatte, für ihr Damenkränzchen den Weihnachtsmann mit Sack und Rute zu spielen, und dass ich schließlich selbst mit einem meiner Lover am Heiligabend zu einer privaten Underwear-Party gehen wollte, interessierte meinen Chef natürlich nicht. Und dabei hatte ich mir extra dafür einen hautengen, schwarzen Slip gekauft, der so fein und dünn war, dass er mehr zeigte als verbarg und mein respektables Schmuckstück so richtig zur Geltung gebracht hätte.
Ich zog ein anderes Schubfach auf und fand auch da nicht die Liste mit den Kennzahlen, die ich suchte. Bestimmt hatte mein Chef, das alte A…loch, die Liste benutzt und vergessen, sie zurückzulegen. Knurrend stand ich auf und lief durch das Großraumbüro zum Chefzimmer. Hoffentlich hatte dieser Vollpfosten nicht abgeschlossen!
Zum Glück war seine Tür offen. Unsere Versicherungsagentur liegt im achtzehnten Stockwerk eines total gläsernen Hochhauses, todschick. Das Großraumbüro, in dem an normalen Werktagen außer mir noch etwa zwanzig Lohnsklaven sitzen, sieht schon ziemlich gut aus. Aber das Chefbüro ist einsame Spitze.
Durch die riesige Fensterfront hat man eine tolle Aussicht über die halbe Stadt. Man sieht in einiger Entfernung winzig klein den eigentlich recht majestätischen Dom, daneben den Marktplatz und ringsherum die Altstadt.
Es war Heiligabend, gegen Mittag. Eine hellgraue Decke von Schneewolken verdeckte die Sonne. Die Wetterfrösche hatten eine weiße Weihnacht vorausgesagt, und die Schneeflocken schienen nur darauf zu warten, aus den Wolken zu platzen und die Stadt zu verschönern.
Ich blieb an dem großen Panoramafenster stehen und starrte hinunter auf die Stadt. Ich liebe meine Heimatstadt, und eigentlich mag ich auch meine Arbeit – nur nicht an Feiertagen! Mein Chef, der alte Sack, würde jetzt mit seiner ehemaligen Sekretärin, die er vor Jahrzehnten aus Versehen geheiratet hatte, den Baum schmücken und den saftigen Weihnachtsbraten aus der Bratröhre holen.
Ich seufzte. Aber es schien auch noch andere Leute zu geben, die arbeiten mussten. Jedenfalls sah ich weiter links an der gläsernen Fassade einen Fensterputzer in seiner Schwebegondel. Es war mir immer unverständlich, wie diese Leute das aushalten, in schwindelnder Höhe in einer wackeligen Gondel zu arbeiten. Aber wofür gibt es schließlich Versicherungen …
Das Telefon läutete. Ich stürzte aus dem Chefzimmer zu meinem Schreibtisch, rannte fast den künstlichen Weihnachtsbaum um, den der Boss spendiert hatte, und riss den Hörer ans Ohr.
»Ohnesorg-Versicherungen, Sie sprechen mit Sebastian Frei, was darf ich für Sie tun?«, säuselte ich.
»Totalschaden!«, schrie mich eine fistelnde Männerstimme an.»Ich hab einen Totalschaden! Helfen Sie mir! Schicken Sie mir einen Abschleppwagen! Mein Audi steckt fest! Außerdem bin ich am Knie verletzt! Und organisieren Sie einen Weihnachtsmann, der die Bescherung meiner Kinder übernimmt!«
Ja, das war der Wahlspruch unserer Versicherung: »Im Falle eines Falles – sorgen wir für alles!« Die Idee des Chefs war, nicht nur Schadensregulierung zu betreiben, sondern Service total am Kunden.
Ich beruhigte den aufgebrachten Typen also erst einmal, fragte nach Name, Adresse, Unfallort und so weiter. Dann organisierte ich einen Abschleppwagen für sein Auto, einen Krankenwagen für ihn und einen Weihnachtsmann für seine Kinder. Damit hatte ich eine Weile zu tun. Danach fiel mir wieder die Liste mit den Kennzahlen ein, und ich ging erneut ins Chefbüro.
Der Fensterputzer war inzwischen näher herangekommen. Neugierig sah ich zu ihm hin. Er schien ziemlich groß und kräftig zu sein. Er trug eine blaue Arbeitshose und darüber eine warme Holzfällerjacke, außerdem eine dunkle Pudelmütze. Mit regelmäßigen Bewegungen wischte er die Scheiben vor und zog sie dann mit seiner Gummilippe ab. Er machte das so geschickt, dass man keine Streifen sah.
Eigentlich könnte ich im Chefbüro sitzen bleiben, dachte ich. Der Volltrottel würde ja nicht mehr herkommen bis nach Weihnachten. Ich stellte die Telefonanlage so ein, dass die Gespräche ins Chefzimmer geleitet werden würden. Dann warf ich den teuren Espressoautomaten vom Boss an und ließ ihn Kaffee zubereiten. Ich lockerte meine Krawatte und legte die Füße mit meinen sandigen Schuhen auf den Schreibtisch des alten Gauners. Eine kleine, aber feine Rache für seine Ausbeutung!
Als ich mit meiner Kaffeetasse bequem im Chefsessel lümmelte, erschien der Fensterputzer genau vor dem Panoramafenster. Die Gondel bewegte sich langsam seitwärts. Interessiert sah ich nun ganz von Nahem, wie der Typ arbeitete. Er schien sogar ziemlich gut auszusehen. Die sparsamen Bewegungen seines durchtrainierten Körpers gefielen mir.
Als er den ersten Fensterteil vom Chefbüro fertig geputzt hatte, entdeckte er mich. Ich grinste freundlich und winkte ihm zu. Er winkte durch die Scheibe zurück. Ich hob die Kaffeetasse und prostete ihm zu. Er lachte, strich sich mit der Hand über die Magengegend und verdrehte schwärmerisch die Augen.
Da fiel mir ein, dass ich ihm doch wirklich eine Tasse Kaffee rausreichen könnte. Ich stand auf, gestikulierte zu ihm hin, holte eine zweite Tasse aus dem Espressoautomaten und ging zum Fenster. Ich öffnete einen Flügel. Eiskalter Wind wehte mir entgegen.
»Hallo!«, rief ich dem fleißigen Putzmann zu. »Wie wäre es mit einem heißen Kaffee?«
»Prima!«, rief er zurück. »Warte mal, ich komm noch ein Stück näher!«
Die Gondel schob sich bis zum offenen Fenster. Der Typ schwebte mir jetzt von Angesicht zu Angesicht genau gegenüber. Wie hielt er das nur aus, in dieser Höhe, bei diesem eisigen Wind?