Peter Splitt

Pussycat


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Ängstliche Menschen lernten nie etwas, hatte ich mal irgendwo gelesen. Die neue Identität musste so nah wie möglich an der Wirklichkeit sein. Ansonsten verstrickte man sich viel zu schnell in Widersprüche. Agenten waren eben keine Schauspieler!

      Vier Wochen lang wurde ich alias Larissa Orloff in die Organisation und in die einzelnen Abteilungen des KGB eingewiesen. Fünf Monate lang brachte man mir bei, wie man konspirativ fotografierte, tote Briefkästen und Verstecke für geheime Nachrichten anlegte, wie man Kontaktberichte verfasste und bei den Chefs Geld für verdeckte Operationen beantragte. Außerdem bekam ich Unterricht in Staatsrecht, internationaler Politik und Psychologie.

      Wie erkannte man, wenn jemand lügt? Das war eine der Fragen, um die es ging. Und eine, auf die es offenbar trotz aller Forschung keine eindeutige Antwort gab. Nebenbei lernte ich Sprachen. Russisch war Pflicht, Englisch fand ich spannend. Die Schule, auf die man mich zeitweise schickte, hatte etwas von einem alten Schullandheim der Sechzigerjahre. Es gab eine Kegelbahn, einen Aufenthaltsraum, Schlafräume und einen Hörsaal. Alles lag dicht beieinander. Morgens, wenn ich ins Bad ging, schlurfte mein Professor oder einer der Dozenten im Bademantel über den Gang. Man musste sich mit den anderen unterhalten, ob man wollte oder nicht. Ich war von Menschen umgeben, die sehr akribisch waren, und das entsprach genau dem, was mir gefiel und was ich mir aneignete.

      „Larissas Präzision ist eine Waffe“, hatte einmal ein Kollege gesagt, und ein anderer hatte bestätigt: „Ja, sie ist beeindruckend. Aber mit der darfst du nicht verheiratet sein, da hast du nichts mehr zu melden.“

      Dem KGB war das egal. Den hohen Genossen interessierte es nicht, ob jemand mit ihren Agenten verheiratet sein wollte. Sie wollten nur die besten Leute in ihren Diensten sehen. Ansonsten entsprach der erste Teil der Ausbildung genau meinen Vorstellungen. Er ähnelte den Handlungen aus den Agentenfilmen im Fernsehen, die sich die Leute immer ansahen. Nervtötend war allerdings die bürokratische Trägheit des Verwaltungsapparates. Es dauerte ewig, bis ein Bericht freigegeben wurde. Hierarchie hoch, Hierarchie runter, erneut Überarbeiten. Dann alles wieder von vorn tippen. Ich war erst zufrieden, wenn ich nach einer Recherche ein gutes Lagebild anbieten konnte. Ich schrieb Berichte, die durch viele Hände gingen. Jeden Tag arbeiteten Dutzende Agenten an solchen Berichten. Sie schrieben Tagesberichte, Wochenberichte, Monatsberichte, Meldungen, Warnungen, verbrauchten eine Unmenge an Papier, je nachdem, wie vertraulich das Material war. Von dem, was sie schrieben, kam ein Bruchteil dort an, wo es tatsächlich hingehörte – in die Politik. Das war manchmal frustrierend, aber man musste mit dem Abenteuer und mit der Bürokratie klar kommen. Es war nicht immer einfach, zu verstehen, wie beides zusammengehörte, aber mit der Zeit würde ich es lernen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keinen festen Freund. Hätte ich einen gehabt, ich hätte ihm niemals erzählen dürfen, wer mein Arbeitgeber war. Eine Legende, ein erfundenes Leben war für mich ein Schutz, aber halt auch eine Lüge, und den Menschen zu belügen, den man liebte, das ging nicht. Sobald jemand in mein Leben trat, würde ich es melden müssen. Der KGB würde entsprechende Untersuchungen anstellen. Das bedeutete, ich durfte nichts mehr zu Hause auf dem Schreibtisch liegen lassen. Nichts Persönliches, nichts Berufliches, keine Kontaktliste, keinen Kalender, in dem stand, wo ich wann war und wen ich getroffen hatte. Ich versuchte, vorsichtig zu sein, aber nicht übervorsichtig. Ich wurde schnell misstrauisch, wenn Typen zu viel fragten. Ein Mann, der zu viel redete, war nichts für mich. Kollegen, die zu viel redeten, waren auch nicht mein Ding. Das Zauberwort hieß Verschwiegenheit. Darum allein drehte sich beim Geheimdienst alles. Am Ende meines Einführungslehrgangs war ich bereit, die Welt zu retten, und wenn ich sie von einem Ende zum anderen hätte ausspionieren müssen. Überall drohte die imperialistische Gefahr, und ich war bereit, es mit ihr aufzunehmen.

      Der zweite Teil meiner Ausbildung umfasste einen Punkt, der in meinem Vertrag als Kleingedrucktes aufgeführt war und den ich bereitwillig unterschrieben hatte: Alle Hemmungen und Scham sind über Bord zu werfen, und auch der eigene Körper soll in den Dienst der Sache gestellt werden. Das betraf die ganze Skala weiblicher Persönlichkeit, von der geistig-kulturell hochstehenden wissenschaftlich gebildeten Frau über die elegante-charmante Gesellschafterin, die geachtete Kollegin bis zur vermeintlichen Partnerin, die mit ihrem bezaubernden Liebreiz lockte und intime Abenteuer versprach. Entsprechend lasen sich die Protokolle über Anwerbungsgespräche und Leistungsbeurteilungen von KGB-Schwalben, die für die gezielte Vorbereitung ausgewertet wurden. Dabei ergaben sich folgende Frauentypen:

      Typ 1 – Die Chefsekretärin: steht auf finanzkräftige Männer, sehr gute äußere Erscheinung, macht auf unnahbar, luxuriös und exquisit. Sie ist dezent-berechnend, hochwertig gekleidet, feiert Partys, gibt sich tolerant und weltoffen.

      Typ 2 – Die unabhängige Frau: 50 Jahre, alleinstehend; intime Verhältnisse zu diversen Kollegen, raucht, trinkt, lesbische Veranlagung.

      Typ 3 – Die Blondine, gesellig, offenherzig, selbstbewusst, 35 Jahre, häufig wechselnder Geschlechtsverkehr, charmant, witzig, leicht ironisch, sie weiß, dass sie mit ihrer Art bei den Männern ankommt.

      Typ 4 – Die Studentin: 20 Jahre, ledig; macht auf Männer einen starken sexuellen Eindruck. Sie ist gut aussehend, charmant, flirtet gern.

      Typ 5 – Die Schülerin: jugendlich, 17 Jahre, festes Verhältnis zu einem geschiedenen Mann. Sie nimmt an Sexpartys teil, lässt sich von mehreren Jungen am Abend vernaschen, raucht, trinkt, liebt es, öffentlich unsittlich berührt zu werden.

      Damit konnte ich noch einigermaßen umgehen, doch dann zeigte mir Anika, was weibliche Intuition und sexuelle Erfahrung zu bewerkstelligen vermochten. Anika war eine alternde Blondine mit einem unförmigen Po, schweren Brüsten und langem Haarzopf. Sie hatte den Zenit ihrer Jugend schon lange überschritten, dafür war sie sexuell erfahren und mit allen Wassern gewaschen. Sie führte mir eine ausgewählte Serie an Pornofilmen vor, die zeigten, wie professionelle Frauen jeglichen Wunsch ihrer männlichen Kunden erfüllten. Ich war gewiss nicht prüde, aber die Filme schockten mich. Zum ersten Mal begann ich zu begreifen, auf was ich mich eingelassen hatte. Ich erfuhr von sexuellen Praktiken, deren Existenz ich mir vorher nicht einmal in meinen kühnsten Träumen hatte vorstellen können. Anika gab mir eine Tonbandaufnahme, in der sie mir Instruktionen gab, wie ich mit den Männern umzugehen hatte. Diese Instruktionen klangen wie Grundregeln für die weibliche Kunst des Verführens oder wie Pflichten, die eine devote Frau zu erfüllen hatte.

      Berühre ihn mit den Händen, gleite unter sein Hemd, unter seinen Gürtel, fahre mit den Fingernägeln über seinen Brustkorb, seinen Bauch, seine Schenkel. Öffne seine Hose. Streife leicht über die Gegend seiner Geschlechtsteile. Zieh deinen Slip aus und hebe den Rock. Lass den Rocksaum über verschiedene Gegenstände gleiten, seine Arme, seine Beine. Zeig es ihm, wie du es dir machst. Fahre mit deinen Händen über deinen Körper, knie nieder, spreize die Beine. Stöhne und erkläre ihm, dass du es ganz allein für ihn machst. Beschreibe deinen Orgasmus. Frage ihn, was er gern mag. Ruf ihn an und sag ihm, dass du nackt auf der Couch liegst, ein Kissen zwischen die Beine geklemmt hast und mit dir selbst spielst. Bitte ihn, dich nicht so lange allein zu lassen.

      Das KGB beauftragte seine Sex-Agentinnen, private Beziehungen mit ausgewählten Männern einzugehen. Zum Aufgabenbereich dieser Damen gehörten Sex, gemeinsame Aufenthalte im kapitalistischen Ausland oder in Städten der Nato-Staaten. Auf diese Weise gewann der sowjetische Geheimdienst Erkenntnisse über westliche Diplomaten, Journalisten und Wirtschaftsvertreter, die er als ‚operativ-interessante Ausländer‘ bezeichnete.

      Aber noch war die Theorie eben nur Theorie, und ich hoffte inständig, gewisse sexuelle Praktiken niemals in der Praxis anwenden zu müssen.

      Oktober 2002

      Oktober 2002

      Auf der anderen Seite des Fuchsbaus lagen die Waschräume und die Toiletten. Ich verließ den Ort, der mir die schlimmsten Qualen meines Lebens beschert hatte. Die Räume mit den sanitären Anlagen sahen genauso trostlos aus wie alles andere in dem ehemaligen Erziehungsheim. Die Metallteile waren stark verschmutzt, oxidiert oder lagen herausgerissen auf dem staubbedeckten Boden. Ich blickte auf die alten blassblauen Fliesen. Wie hässlich sie waren. Genauso hässlich wie das, was hier mit mir