Beatrice Bellmann

Mit Leichtigkeit ins neue Leben


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ich mich kurz nach Neujahr zum Mittagessen traf und dem ich von der Begegnung und meiner Aktion berichtete, meinte dazu, ich hätte sie noch gebraucht, um endgültig abzuschließen. Und wirklich – dachte ich bisher, ich hätte es schon getan, weil ich selten an meinen Ex-Mann denke und ihm auch schon lange nicht mehr nachtrauere, so war es doch jetzt irgendwie noch befreiender. Warum Dinge aufheben, die keine Bedeutung mehr haben? Richard sagte, dass dieser endgültige Abschluss dazu führen würde, dass, sollte ich meinem Ex noch einmal begegnen, ich noch nicht einmal aufgeregt wäre, sondern ihn wie einen alten Bekannten betrachten würde, den ich zufällig wiedergetroffen hätte und mit dem ich dann spräche oder nicht. Falls nicht, würde mich das nicht mehr belasten.

      Ein Jahr zuvor, im Jahr 2010, hatte ich ihn schon einmal gesehen. Nach drei Jahren und sieben Tagen nach unserem Scheidungstermin. Ich fuhr mit dem Auto an ihm vorbei, in der Nähe meiner Wohnung. Ich hatte schon öfter gehofft, ihm zu begegnen, aber dass es heute passierte und in einer Gegend, in der ich es nicht erwartet hätte, haute mich um. Gestern hatte ich an ihn gedacht, als ich einen alten Koffer entsorgte, auf dessen Kofferschild sein Name stand. Ich hatte mir vorgestellt, dass er nun eine Frau und ein Kind hatte und dass er mich hoffentlich nicht vermisste, denn dann wäre unsere Trennung umsonst gewesen. Er stand an der Fahrertür eines Autos. Mein Körper reagierte sofort mit schwerer Atmung und zittrigen Händen. Bei der nächsten Gelegenheit wendete ich auf dem Mittelstreifen, in der Hoffnung, einige Sätze mit ihm sprechen zu können. Beim Vorbeifahren an ihm auf der Gegenspur bemerkte ich eine zweite Person. Es war dieselbe Frau wie damals. Ich war nicht mehr sicher, ob ich anhalten sollte. Als ich wieder wendete und auf die beiden zufuhr, gingen sie auf dem Bürgersteig, und dann sah ich das kleine Kind vor ihnen herlaufen. Es war zirka eineinhalb bis zwei Jahre alt. Ich hielt nicht an, sondern fuhr weiter – aber nur einige hundert Meter, dann fuhr ich rechts heran, denn ich konnte kaum noch atmen und das Lenkrad halten. Ich rief meine Freundin Katharina an.

      Nach dieser ersten Begegnung ging es mir sehr schlecht. Nicht deswegen, weil ich seine Frau oder sein Kind, sondern weil ich ihn gesehen hatte. Ich musste unaufhörlich an ihn denken und viel weinen, ansonsten war ich apathisch. Diese Heftigkeit überraschte mich selbst, und sie hielt tagelang an. Ich vergoss zu dieser Zeit seinetwegen nur noch selten und wenige Tränen. Unsere Beziehung war für mich mittlerweile gefühlte zehn Jahre her, obwohl es erst dreieinhalb Jahre waren, weil in meinem Leben zwischenzeitlich so viel passiert war. Wenn ich damals noch manchmal weinte, dann deshalb, weil ich nostalgische Minuten hatte oder mich manchmal einsam fühlte. Es war ungefähr so, als ob ich um meine tote Großmutter weinte, um etwas, an das man sich in sentimentalen Minuten wieder erinnert. Oder so, als wenn man einen gefühlvollen Film sieht und man mit den Schauspielern zusammen weint. Wenn eine Liebe lange zurückliegt, dann weint man nicht aus Schmerz, sondern aus Erinnerung.

      Das, was ich gesehen hatte, hatte ich geahnt, denn er wollte ein Kind. Aber etwas zu ahnen und zu sehen sind zwei verschiedene Dinge für die Psyche. Ich war erstaunt darüber, dass es sich um dieselbe Frau handelte. Ich musste an seine damaligen Worte denken, an dem Tag, an dem ich ihn zuletzt sah: „In meinem ganzen Leben habe ich nur eine Frau geliebt.“ Damit meinte er mich. Meine Logik und das Analysieren menschlichen Verhaltens sagten mir immer, es könne nicht die Frau von damals sein, mit der er mittlerweile eine Familie gegründet hatte. Aber ich war mir sicher, dass sie es war, die ich gesehen hatte.

      Ich hatte noch keine neue Liebe gefunden. Ich hatte in den letzten Jahren drei Liebschaften gehabt, aber leider hielten sie nicht. Für mich ist es unvorstellbar, dass auf eine große Liebe gleich wieder eine neue Liebe folgt. Und Metin war meine große Liebe gewesen. Wenn man sich nach einer Trennung, die man nicht wollte, schnell wieder bindet, ist die neue Beziehung in den meisten Fällen nicht von Dauer.

      Ich hatte damals gehofft, ihn einmal zu treffen, allein zu treffen. Ich würde ihn vielleicht kein zweites Mal sehen und niemals die Gelegenheit haben, mit ihm zu sprechen, und das machte mich noch trauriger. Mittlerweile war auch die zweite Gelegenheit verstrichen, die aber dazu führte, ihn wie einen Fremden zu sehen, mit dem man vor langer Zeit einmal bekannt gewesen war.

      Eine Trennung wird wissenschaftlich in vier Phasen geteilt: Zuerst kommt die Schockphase, in der man das Gehörte bzw. Gesehene nicht wahrhaben kann. Das Gehirn gaukelt einem noch vor, alles wäre in Ordnung und nur ein böser Traum. Man kann die neue Situation nicht mit dem Verstand erfassen, so wie man es zum Beispiel auch nicht kann, wenn ein Mensch stirbt. Man denkt noch wochenlang: Morgen, wenn ich aufwache, ist alles wieder so, wie es einmal war. Dies gilt besonders, wenn man noch unter einem Dach wohnt, was bei uns nach der Trennungsaussprache noch sechs Wochen der Fall war.

      Die zweite Phase ist die der aufbrechenden Gefühle. Der Schock, in dem man unfähig ist, auf die Extremsituation zu reagieren, weicht der Phase, in der man nur noch weinen kann und unsäglichen Schmerz hat, der den ganzen Körper einbezieht und mitreißt. Man kann nicht mehr klar denken, wie es noch in der Schockphase möglich ist, sondern man ist in dieser Extremsituation gefangen und denkt in jeder Sekunde an den Schmerz. Jede neue Situation zerreißt einen, man regiert und agiert, und doch hilft es nicht weiter, weil man weiß, dass die Trennung – und wie in meinem Fall auch die Scheidung – nicht rückgängig gemacht werden kann.

      Ab der dritten Phase wird man wieder ein Mensch. Der Verstand schaltet sich ein, man sieht klarer und rationaler, ist wieder fähig, anderen Menschen zuzuhören und die Zukunft zu planen. Der Schmerz weicht Wehmut und Trauer.

      In der vierten Phase atmet man auf. Man vergibt sich (und dem anderen) seine Fehler, schaut voller Tatendrang nach vorn, plant und ordnet sein Leben neu. Das alte Leben ist abgeschlossen, und man spürt Lebensfreude und Energie.

      Die Länge der Phasen hängt ab von der Persönlichkeit, dem Alter, der Schwere der Trennung und den Lebensumständen. Es gibt hier verschiedene Theorien. Einmal las ich, dass sie die Hälfte der Dauer der Beziehung ausmachen kann, ein anderes Mal erfuhr ich, dass Frauen im Durchschnitt zweieinhalb Jahre und Männer eineinhalb Jahre leiden. Diese Behauptung machte mich sehr wütend, da ich nicht so lange leiden wollte. Selbst eineinhalb Jahre erschienen mir zu lang. Eine andere Theorie besagt, dass man pro Jahr des Zusammenseins einen Monat leidet.

      Ich hatte mir von Anfang an vorgenommen, mich nicht gehen zu lassen, ging morgens geschminkt und gut gekleidet zur Arbeit, und ich saß nicht zu Hause herum, sondern ging viel aus. Ich nahm mir auch von Anfang an vor, diese vier Phasen abzukürzen und auf maximal ein Jahr zu reduzieren. Ich wollte nicht jahrelang leiden, ich wollte nicht, dass es mir lange schlecht geht, und ich bin stolz, dass ich nach zehn Monaten sagen konnte: Ich habe es geschafft, eine neuneinhalb Jahre lange Beziehung zu überwinden und voller Freude nach vorn zu blicken. Und nach einem Jahr war ich soweit, dass ich wirklich sagen konnte: Ich schaue nur noch nach vorn, es geht mir wieder sehr gut, ich habe alles hinter mich gelassen und denke nur noch selten, ganz nüchtern und vor allem dankbar, an meinen Ex und die gemeinsame Zeit. Ich schaffte es nicht zuletzt deshalb, weil ich ein Mensch bin, der gut analysieren, das Wesentliche vom Unwesentlichen trennen kann und einen starken Willen hat. Ich habe hart daran gearbeitet, diese Beziehung zu überwinden, ich nenne es „Extrembewältigung“. Ich bin durch den Schmerz hindurchgegangen und habe nie etwas verdrängt. Als es mir wieder gut ging, habe ich sogar mehrmals gedacht, dass es ein Glück und ein Geschenk war, diese schmerzhafte Zeit zu erleben, denn dadurch konzentrierte ich mich ganz auf mich selbst, wuchs über mich hinaus, lernte neue Menschen kennen, und letztendlich befreite ich mich auch von der Vergangenheit, vor allem von den unglaublich erdrückenden Selbstzweifeln und -vorwürfen.

      Ich habe alle Gedanken, Gefühle und Worte, die ich in dieser unsagbar schweren Zeit gehabt, durchgemacht und gehört habe, aufgeschrieben. Ich musste schreiben und schreiben, das half mir bei der Trauerbewältigung. Die Dialoge haben sich so zugetragen wie beschrieben. Ich las meine Zeilen immer und immer wieder, weil es für mich so unfassbar war, was mir passierte. Ich möchte mit diesem Trauertagebuch allen Frauen helfen, die in derselben Situation sind, Mut zu haben, nach vorn zu blicken und immer daran zu denken, dass das Leben weitergeht, auch ohne den geliebten Partner, von dem man verlassen wurde oder den man verließ, aus welchem Grund auch immer. Der so oft angewendete Satz „Die Zeit heilt alle Wunden“ klingt in der Anfangs-Trauerzeit, in der man glaubt, niemals darüber hinwegzukommen, wie Hohn und ist ein schneller, aber schlechter Trostspender von Freunden und Verwandten, die am Anfang genauso unter Schock stehen,