József Wieszt

Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen


Скачать книгу

in den ein vorgekauter Brotbrei eingebunden war. Dieser Nuckel war wohl so groß, dass ein Kleinkind ihn nicht verschlucken konnte. Auf den Dörfern war es üblich, dass der Nuckel in Wein eingetaucht wurde, wenn Kinder sich gar nicht beruhigen oder nicht schlafen wollten. Besonders während der Feldarbeit im Sommer, war das eine verbreitete Methode, damit man nicht ständig nach den Babys sehen musste. Ob es bei mir auch so war, weiß ich nicht. Später habe ich erfahren, dass es in Westungarn eine Gegend gibt, in der besonders viele verblödete Kinder waren. Eine Kommission wurde eingesetzt und stellte fest, dass die Trauben, die dort angebaut wurden, „Othello“, „Isabella“ und andere amerikanische Wildreben, bei der Gärung Methylalkohol produzieren, der die Nerven und das Gehirn angreift. Der Anbau dieser Trauben wurde daraufhin verboten. In Österreich werden heute noch solche Trauben wieder geerntet, aus denen in wenigen ausgewählten Dörfern der „Uhutler“ hergestellt wird. Dem Uhutler dürfen nur zehn Prozent Wein aus diesen Trauben beigemengt werden. In Ungarn findet man in den Kellern kleinerer Winzer wieder häufig Wein nur aus amerikanischen Wildreben mit seinem unverkennbaren Geschmack.

      Wie alle Babys im Dorf verbrachte ich die ersten Monate meines Lebens sehr beengt. Ich war stramm eingewickelt in eine zusammengebundene dünne Decke. Alte Fotos zeigen Säuglinge in solche Decken eingebunden, die durch Bänder über dem Bauch und über den Armen verschnürt sind. Bis auf das kleine Köpfchen ist von dem Säugling nichts zu sehen. Arme und Beine sind bei dieser Art des strammen Wickelns so gut wie unbeweglich. Es ist dem Säugling nicht möglich, die Hände zum Mund zu führen, sich umzudrehen oder auf dem Bauch zu liegen. Selbst wenn die Säuglinge gestillt wurden, blieben sie in der Regel in dieser Umklammerung, aus der sie nur zum Trockenlegen befreit wurden.

      Unsere Kleidung als Kleinkinder bestand im Sommer aus einem kurzen Kleidchen. Sonst hatten wir nichts an. Das Kleidchen trugen Jungen und Mädchen. Da wir keine Unterhosen anhatten, gab es mit den kleinen und großen Geschäften keine Probleme, und die Mütter sparten bei der Wäsche. Schuhe trugen wir im Sommer nicht. Ich habe Fotos von kleinen Jungen in Röckchen gesehen, von uns selbst gibt es wohl keine. Im Winter trugen wir als Untergewand eine sogenannte Leib-und-Seel-Hose, das war eine Kombination aus Hemd und Hose, heute würde man vielleicht „Body“ sagen, die unten einen Schlitz hatte. So war es nicht nötig, uns jedes Mal auszuziehen, wenn wir auf den Topf mussten, der in unserem Dialekt „Scherm“, Scherben, hieß. Vermutlich im Alter von zwei oder drei Jahren erhielten die Jungen ihre ersten Hosen, im Sommer kurze und im Winter lange. Die Mädchen behielten ihre Kleidchen.

      Dieses Foto aus dem Kindergarten in Perbál illustriert das Alltagsgewand der Kinder im Jahre 1930. Als ich im Frühjahr 1945 ins Kindergartenalter kam, gab es vielleicht schon keinen mehr. Jedenfalls habe ich keine Erinnerung daran. Zu festlichen Angelegenheiten wie Hochzeiten, Beerdigungen, „Kiridog“ (Kirmes) und kirchlichen Festen wie Erstkommunion, Firmung, Prozessionen etc. wurden die Kinder je nach Vermögen der Eltern festlich herausgeputzt. Niemand wollte hinter anderen zurückstehen. Besonders die Mädchen in weißen Kleidchen und Strümpfen mit schwarzen Lackschuhen und Kränzchen im Haar waren eine Zierde solcher Veranstaltungen.

      17 „Heute vermutet man als häufigste Ursache für die früher als Fraisen bezeichnete Erkrankung knapp hintereinander liegende Schwangerschaften, die einen Kalk- und Vitamin-D-Mangel bei den Schwangeren auslösten, der dann bei den Kindern meist im Alter von drei Wochen zu Krampfanfällen und im schlimmsten Fall – zum frühen Tod des Säuglings führte. Damals vermutete man auch, dass die Krankheit durch Angst und Schrecken der Mutter in der Schwangerschaft oder in der Stillzeit verursacht worden ist.“ Stangl, W. (2020). Stichwort: ‚Fraisen‘. Online-Lexikon für Psychologie und Pädagogik.

      Frühe Erinnerungen und Erzähltes

      Der blasse Jüngling

      Vor dem Haus der Kopp-Großeltern steht ein Marillenbaum, darunter ein großes Weinfass. Es ist Sommer, die Früchte sind reif. Ein Mann hebt mich hoch über seinen Kopf. Ich sehe von oben auf ein schmales, blasses Jungmännergesicht. Er blickt mich sanft an, lächelt aber nicht. Dann stellt er mich auf das Fass, mitten zwischen die reifen Früchte. Der Duft dieser reifen Aprikosen betäubt mich fast. Ich greife mit den Händen nach den Früchten und esse sie vom Baum. Bis heute erinnere ich mich genau an dieses Gesicht und an den Duft der Marillen. Diese Szene fand wohl im Sommer 1944 statt. Der junge Mann war der jüngste Bruder meiner Mutter gewesen. Er ist im Krieg umgekommen.

      Ich sehe zwei riesige steinerne Pfeiler. Dazwischen schwimmt ein kleines Boot mit mir darin auf dem Wasser. Zwei Frauen sind auch in dem Boot. Vielleicht ist es meine Mutter mit einer ihrer Schwestern, die mit mir in Budapest waren und ein Ruderboot, „Tschinagl“ (ungarisch: csónak) zu einer Fahrt auf der Donau gemietet haben. Ich sehe diese riesigen Steinpfeiler genau vor mir mit grauer, poröser Oberfläche und den Fugen. Das Wasser ist dunkel und kaum bewegt, kein Laut.

      Es war in einem Sommer, vermutlich 1945, da war ich 3 1/2 Jahre alt. Leider habe ich später versäumt, mich bei meiner Mutter oder meinen Tanten über dieses Erlebnis zu vergewissern.

      Das muss im Sommer l945 gewesen sein. Es war sehr heiß. Im Gemeindehaus von Perbál stand ein Tor offen. In einem großen, sonst leeren Raum lagen Waffen und Munition der verschiedensten Art. Offenbar hatten die Russen Befehl gegeben, dass diese Waffen gesammelt und dort aufbewahrt werden mussten. Der Raum war dunkel und kühl. Möglicherweise gab es keine Fenster. Wir standen mit mehreren Kindern vor dem offenen Tor und traten aus der hellen Hitze des Platzes über die Schattengrenze in die dunkle Kühle. Waffen und Munition lagen auf dem gestampften Lehmboden, es war still. Irgendjemand hantierte im dunklen Hintergrund. Als er uns Kinder bemerkte, verscheuchte er uns.

      Die größeren Jungen hatten Patronen, einen ganzen Berg, so groß wie ich, der ich davor hockte. Sie entfernten die Geschosse und kippten das Pulver auf einen Haufen. Es war wieder ein sehr heißer Tag, etwa acht bis zehn Kinder waren beisammen. Wir waren alle barfuß und trugen kurze Hosen, bzw. wir Kleinen – Röcke. Als ein ansehnliches Häufchen Pulver beisammen war, versuchten die Großen, das Pulver mit einem Brennglas zu entzünden. Das war natürlich verboten, und so spielte sich das Ganze im Geheimen ab. Wir hatten uns hinter den hölzernen Schweineställen versteckt. Die Ställe standen auf Beinen, etwa einen halben Meter über dem Boden. Es war sehr still, nur ab und zu grunzte ein Tier. Mir scheint, dass es eine Reihe von solchen Ställen gewesen ist, sie standen nebeneinander am hinteren Rand eines Hofes. Es war nicht unserer, aber vermutlich einer aus der Nachbarschaft.

      Einer der Jungen hielt das Brennglas so, dass das Lichtbündel auf das Pulverhäufchen traf. In der Mitte des Glases – vermutlich aus einer Armeetaschenlampe – war ein greller, bläulich-heller Lichtpunkt. Auch dort, wo der gebündelte Lichtstrahl auf das Pulver traf, war ein heller Fleck auf den schwarzen Kristallen des Pulvers. Zunächst passierte nichts. Die Großen mutmaßten, dass es mit dem Brennglas nicht gehen werde. Um die Wirkung zu testen, hielte sie den Strahl auf das Stroh neben dem Pulver. Nach einer Weile bildete sich ein winziges Rauchwölkchen, das Stroh fing an zu glimmen und brannte schließlich in kleinen Flämmchen. Sie kamen an das Pulver heran, das plötzlich in einer großen Stichflamme verpuffte. Wir waren geblendet und erstarrten vor Schreck. Plötzlich schrie einer: „Es brennt!“, und wir Kinder rannten schreiend davon, die Großen vorneweg und wir Kleinen hinterher.

      Durch den Lärm wurden Erwachsene alarmiert. Er entstand ein großes Geschrei, ein Stall brannte lichterloh und die Schweine schrien vor Todesangst. Ein Mann war plötzlich da und riss die Tür des brennenden Stalles und die der Nachbarställe auf, und viele Schweine stürzten ins Freie. Aus einiger Entfernung sahen wir Kinder mit klopfenden Herzen, wie die herbeieilenden Menschen eine Eimerkette bildeten, die Wasser vom Brunnen heranschaffte, mit dem das Feuer schließlich gelöscht wurde. Eimer um Eimer gossen die Leute auf den brennenden Stall, dessen Flammen nach jedem Eimer Wasser kleiner und kleiner wurden und am Ende verloschen. Eine Wolke aus weißem Dampf entstieg den Trümmern des verbrannten Stalles.