József Wieszt

Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen


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erzählte uns unsere Mutter. Da wir aber eine Unterkunft brauchten, eine Familie mit drei kleinen Kindern konnte ja nicht auf der Straße leben, wurden wir bei der Familie Arnold, Hausname Giebels (Giwwels), zwangseingewiesen.

      Bei Familie Arnold

      Geleitschutz

      Ein Polizist aus der benachbarten Kleinstadt Battenberg soll uns (mit gezogener Pistole?) in die angewiesenen beiden Räume gebracht haben. Um Probleme zu vermeiden, war er mit dabei. Unser Vater ist in meiner Erinnerung bei diesem Umzug nicht vorhanden. Schrank, Bett und Tisch hat er vermutlich schon vorher dorthin geschafft. Möglicherweise musste er an dem Tag arbeiten, denn 1951 im Sommer hatte er schon einen Hilfsarbeiterjob als Handlanger auf dem Bau gefunden.

      Es war die gute Stube der Bauern, in die wir zogen. Eine anschließende Kammer wurde das Kinderschlafzimmer. Eine Küche gab es für uns nicht. Vermutlich hat unsere Mutter auf einem Ofen im Wohnzimmer gekocht.

      Der Umzug erfolgte nach der Erinnerung unserer Schwester so: Der Polizist ging vorneweg.

      Maria folgte ihm an der Hand unserer Mutter. Sie durfte die Sturmlaterne tragen. Dann folgten mein Bruder und ich. Wir zogen den Handwagen mit unseren wenigen Habseligkeiten, einem Feldbett („Amibett“), das wohl der Vater auch mitgebracht hatte, und einem Kinderbett für die Kleine.

      Unser Empfang bei Giebels war mehr als frostig. Für dreieinhalb Jahre wohnten wir zu fünft in den beiden Räumen: zwei Erwachsene, zwei heranwachsende Jungen und unsere kleine Schwester Maria. Um in unser Zimmer zu gelangen, mussten wir durch den Hausflur, zwei Holzstufen hinauf und dann nach rechts in unsere Wohnung. Das Ehepaar Arnold hatte zwei erwachsene Kinder, die Geschwister Otto und Frieda. In den ersten Wochen trauten wir uns kaum hinaus, aus Angst, jemandem von den „Hausleuten“ zu begegnen. Es kam anfangs aber nicht oft dazu, denn wir horchten an der Tür, ob nicht gerade jemand von ihnen im Hausflur war, und gingen nur hinaus, wenn wir nichts hörten. Trafen wir dennoch einen an, erschraken wir Jungen jedes Mal heftig und gingen ihm schnell aus dem Weg. Zumindest bei mir war es so. Meine Mutter hatte uns verboten, mit den Hausleuten zu reden oder gar etwas von ihnen anzunehmen. Sie war sehr beleidigt darüber, dass man sie und ihre Familie nicht wollte.

      Sie ging neugierig und unbefangen auf unsere Vermieter zu und hatte durch ihre kindlich-freundliche Art bald das Herz der Frauen gewonnen. Sie war ja im Dorf geboren und damit sozusagen schon eine Einheimische. Das Eis zwischen uns begann schon nach einigen Wochen, etwas aufzutauen. Der Anlass war folgender:

      Maria war verschwunden. und meine Mutter machte sich große Sorgen. Sie ging sie suchen. Von Nachbarn erfuhr sie, dass die Kleine mit der „Giwwelstante“, Frau Arnold, mit zum Backhaus gegangen war. Meine Mutter kam dorthin und traf die beiden an. Sie wollte ihr Kind sofort mitnehmen. Das Kind wollte aber nicht. Sie wehrte sich und schrie wie am Spieß.

      Da sprach Frau Arnold meine Mutter an: „Lassen Sie das Kind doch hier, ich bringe sie ja heil wieder nach Hause.“ Das waren wohl die ersten Worte, die sie an meine Mutter gerichtet hatte. Meine Mutter gab nach und die Kleine durfte bleiben. Sie hatte einen besonderen Grund, nicht mit der Mutter zu gehen. Im Backhaus backten die Frauen nicht nur ihre Brote, sondern auch leckere Zucker- und Streuselkuchen, im Herbst auch Apfel- und Pflaumenkuchen. Ein weiterer Vorfall, den meine Schwester ausgelöst hatte, wirkte sich ebenfalls fördernd auf die Kommunikation aus: Im Dorf feierten die Ungarndeutschen „Kiridog“, ihr Kirmesfest. Maria hatte ihr neues Kleid mit Rotkäppchenmuster an, das ihr unsere Wiest-Großmutter aus diesem Anlass geschenkt hatte. Die Kleine war als Erste fertig angezogen für dieses Ereignis und wartete schon auf dem Hof auf uns andere. Dort stand auch der vollgetankte Jauchewagen der Hausleute. Maria sah ihn sich genauer an, entdeckte hinten an dem Tank eine Kette und zog daran. In einem hohen Schwall ergoss sich die stinkende Brühe über sie. Auf ihr lautes Geschrei hin liefen die Frauen auf dem Hof zusammen. Meine Mutter rannte unser „Trögl“ holen, in dem wir Kinder immer badeten. Die Giebelstante und die Frieda zogen das unglückliche Kind aus. Wasser wurde herbeigeschafft und die Kleine vom Kopf bis Fuß eingeseift und abgeschrubbt, abgetrocknet und neu eingekleidet. Ob sie hinterher nicht doch noch ein wenig gestunken hat, ist nicht bekannt. Sie konnte jedenfalls mit zum Kirchweihfest gehen. Selbstverständlich hatten die Frauen bei dieser Rettungsaktion auch mit einander gesprochen. Ich gehe übrigens davon aus, dass unser Vater von Anfang an mit den Hausleuten gesprochen hat.

      Ein Grund für die Verbesserung der Situation war auch, dass die Arnolds bald feststellten, dass wir keineswegs „Zigeuner“ waren, sondern arbeitsame Leute, deren Eltern in Ungarn eine ähnliche kleine Landwirtschaft gehabt hatten, sogar eine größere als sie hier. Meine Eltern waren mit all den hier anfallenden Arbeiten vertraut, und sie halfen den Vermietern bald aus, v. a. während der Ernte, bei der jede Hand gebraucht wurde. Mein Bruder und ich halfen ebenfalls mit. Eine Arbeit, die wir etwa einmal im Monat für unsere Mutter übernehmen mussten, war „Wäsche bleichen“. Wenn Mutter große Wäsche hatte, legten wir bei schönem Wetter Bettlaken, Bettbezüge und die Tischwäsche in Giebels Garten auf den Rasen und begossen sie mit Wasser aus einer Gießkanne. Das wiederholten wir einige Male. Dann wurden die Wäschestücke umgedreht und die Rückseite bleichte nun in der Sonne.

      Wir durften uns auf dem Hof der Bauersleute einen Kaninchenstall bauen, und so verfolgte uns Jungen diese Arbeit auch in der neuen Wohnung. Unser „Peiniger vom Straßenrand“ wohnte nun sogar in unserer unmittelbaren Nähe

      Wenn die Heidelbeeren reiften, mussten wir mit unserer Mutter und weiteren Frauen und Kindern in den Wald, um sie zu pflücken. Es war eine mühsame Arbeit, diese kleinen blauen Kugeln einzeln abzupflücken. Wir legten sie zunächst in ein Milchkännchen oder auch in eine Konservenbüchse, die wir mit einer Kordel um den Bauch gebunden hatten. War ein Gefäß voll, so schütteten wir es in einen Eimer, der bei der Mutter stand. Beim Pflücken konkurrierten mein Bruder und ich miteinander. Wir zeigten uns gegenseitig, was wir schon gepflückt hatten. Bei mir war der Boden schon bedeckt. Er hatte die Büchse fast zu einem Viertel gefüllt oder umgekehrt. So ging das den ganzen Tag über. Es half uns aber, die lange Zeit zu überstehen.

      Schlimm war es, wenn einer stolperte und hinfiel. Der ganze Ertrag seiner Arbeit lag dann auf dem Boden, und er versuchte, die Beeren wieder in sein Gefäß zurückzubringen. Schlimm waren auch die Rinderbremsen und sonstigen Stechfliegen, die uns ständig in unsere nackten Beine stachen. Eine immerwährende Versuchung war es, die Beeren zu essen, statt sie in den Sammelbecher zu tun. Wenn unsere großen Eimer dann endlich voll waren, begann der lange Weg aus dem Wald ins Dorf zur Sammelstelle. Dort wartete schon ein Aufkäufer, der uns pro Kilo eine Mark bezahlte. Das bezahlte er aber nur für „einwandfreie Ware“. Waren zu viele Blätter zwischen den Beeren, gab es weniger Geld.

      Waldhimbeeren sammelten wir zu dem gleichen Zweck. Die bei den Heidelbeeren auftauchenden Probleme wurden dabei noch vergrößert, weil wir uns an den stacheligen Himbeersträuchern die nackten Beine zerkratzten. Diese Beeren mussten noch sorgfältiger gepflückt werden als die Heidelbeeren, weil sie sehr leicht „zermatschten“ und dadurch unansehnlich wurden. Wenn wir Beeren aßen, erlebten wir häufig eine unangenehme Überraschung. War zuvor eine Blattwanze darüber gelaufen, so stanken und schmeckten