familiären und politisch-historischen Traumata leiden.
Menasse erzählt in Zeitromanen negative Entwicklungsgeschichten.2 Die Romane »Sinnliche Gewissheit« (1988), »Selige Zeiten, brüchige Welt« (1991), »Schubumkehr« (1995) – als »Trilogie der Entgeisterung« bezeichnet – üben eine komödienhafte, aber gleichzeitig hartnäckige Kritik an den politisch-historischen Ideologien des ausgehenden 20. Jahrhunderts: Der Geist, der die Welt noch verbessern will, verwandelt seinen Glauben in bittere, mörderische Diskurse. »Die Vertreibung aus der Hölle« (2001) ist eine ironische Antwort auf den verlorenen Status der Geschichte und ein Musterbeispiel in Form einer weitläufigen Erzählung über die Äquivalenz zweier verschiedener »historischer« Epochen. »Don Juan de la Mancha« (2007) berichtet über das Sexualleben eines lese- und schreibsüchtigen Intellektuellen in Form autobiografischer Aufzeichnungen und psychoanalytischer Farcen und zeigt Leben, Liebe und Leiden in den »seligen« postmodernen Zeiten. »Die Hauptstadt« (2017) stellt die Alltagswelt einiger EU-Beamter in Brüssel dar und analysiert ironisch deren institutionelle Ebene und wie die supranationale Vorstellung eines friedlichen und gemeinsamen Europa-Projektes schiefzugehen droht. Die Rückentwicklung dieser Figuren fällt mit der Entwicklung der Menschheit zusammen: »Während nämlich der Held des Entwicklungsromans zur vollständigen Entfaltung seiner Persönlichkeit und sinnvollen Integration in die Gesellschaft voranschreitet, regredieren Menasses Figuren zu ihrem Anfangspunkt. Sie tun das jedoch in völliger Übereinstimmung mit der äußeren Welt.«3 Das Phänomen ›Entgeisterung‹ ist in allen Werken Menasses omnipräsent. Es ist aber nicht nur eine komische Simulation oder Paraphrase des pathetischen und idealistischen philosophischen Fachwortschatzes, sondern eine Art ständige Spiralbewegung zwischen dessen Polen: Menasse hält Hegels »Phänomenologie des Geistes« in Händen, liest thesenhaft das Inhaltsverzeichnis von hinten nach vorn, mit der sich Werk für Werk wiederholenden Konsequenz: Dass die geistige Arbeit der Menschheit nicht verhindern kann, tragischen – politisch-historischen wie privaten – Ereignissen entgehen zu können, ist ein purer Skandal. Zeitlich und örtlich ist es egal, wo sich die literarischen Protagonisten aktuell aufhalten: Das Unwiederholbare ist immer und überall wiederholbar. Das ist die Ironie der Tragik im Romanwerk Menasses.
Menasse mischt bewährte Erzählgattungen: Subkategorial sind seine Romane Bildungs-, Familien-, Geschichts- und Zeitromane. Trotz der schweren und sich oft wiederholenden Themen wirken die Situationskomik und das Anekdotische farcehaft; dialogfreudig und handlungsorientiert ist die Erzählweise; metafiktional und reflektiert sind die einzelnen Erzählebenen; das Essayistische in der Erzähler- beziehungsweise Kommentarstimme macht die Romane ernst und gleichzeitig ambivalent. »Robert Menasse schreibt seine Texte mit dem sicheren Gefühl für das, was Effekt machen könnte; das ist kein negatives Kriterium vor allem dann, wenn man bedenkt, wie wenig überhaupt in der Literatur Effekt macht (…).«4 Zwar können seine Protagonisten noch einmal ein Leben führen wie einst die Figuren Marcel Prousts, Thomas Manns, Robert Musils oder Heimito von Doderers, nur tun sie das bereits vor den Kulissen einer »kopierten« Romanwelt. Diese Welt ist aber eine, die auf den Kopf gestellt ist, in der alles zitierbar ist und alles seine Kopie kennt: Das sind die Erfahrungen einer brüchigen Welt, und dazwischen zeigt sich der totale Zerfall des jeweiligen Subjekts. Mit Menasses Worten: »Das postmoderne Bewußtsein ist die Emphase von der Beliebigkeit der Beziehungen, die die Phänomene heute eingehen können, weil reale gesellschaftliche Vermitteltheiten keine Rolle mehr spielen, bzw. durch das Prinzip Beliebigkeit ersetzt sind: das allgemeine Bewußtsein ist eine Klitterung aus Versatzstücken der Geschichte, gereinigt von Geschichte, aus Zitaten, gereinigt vom Geist des Zitierten, Kopien, ohne Bewußtsein vom Original, also Original-Kopien, Farcen, die die Tragödien vergessen haben, die sie perpetuieren.«5
Diese Prämissen gelten auch für Menasses historische Romankonstruktionen: Menasse sprach in seiner Eröffnungsrede anlässlich der Frankfurter Buchmesse 1995 mit Schwerpunktland Österreich darüber, der größte Irrtum der Menschheit sei die Geschichte: »Erst der Glaube, daß es eine Geschichte gebe, die ein sinnvoller Prozeß sei, der ein Ziel habe, das man erkennen und auf das man schließlich bewußt hinarbeiten könne, hat aus dem Kreislauf simplen biologischen und sozialen Lebens von Menschen auf diesem Planeten jene Abfolge von Greuel in immer neuer Qualität gemacht, die wir als ›Geschichte‹ studieren und gleichzeitig verdrängen.«6
Die Geschichte als Erinnerung an die Lehren und Erfahrungen der Menschheit bezweifelt, Menasse zufolge, ihren eigenen Zustand im Gegensatz zu der europäischen ziel- und entwicklungsorientierten Auffassung, die ihren allgemeinen Aufstieg, ihre Würdigkeit für gutes Schicksal, ihre geistige Vorrangigkeit utopisch voraussetzt. In der »Geschichte« kommen private oder kollektive Pogrome, Genozide und Verbrechen in wahnsinnigen Ideologien verschleiert immer wieder vor. Diese wiederholen sich ständig – trotz des angeblichen aufklärerischen Impetus der ethisch orientierten Menschheitsgeschichte. »So macht Robert Menasse dem euphorischen geschichtlichen Fortschrittdenken den Garaus – durch sein Konzept des ›progressiven Rückschritts‹ bis hin zur entfalteten Totalität der Dummheit«.7 Menasses diesbezügliche Richtungssuche zieht sich durch sein ganzes Werk hindurch.
2
Der Roman »Sinnliche Gewissheit« stellt eine tief europäische Lebenswelt mit deutschsprachigen Nationen dar – in Brasilien. Roman Gilanian, als muttersprachlicher, promovierter Lektor an der Universität São Paulo, berichtet hier über sein alltägliches, langweiliges Leben in erster Person Singular. Wegen der stark begrenzten geistigen Arbeitsmöglichkeiten in seiner Heimat will er seine intellektuelle Tätigkeit andernorts fortsetzen und nimmt die ihm angebotene Lektoratsstelle am germanistischen Lehrstuhl in Brasilien an. Roman monologisiert über die fremden Phänomene in grammatisch-kausalen Übungssätzen und erlebt dabei seine »sinnliche Gewissheit«, was Hegel als das primitivste Stadium des menschlichen Bewusstseins bezeichnet hatte. Er leidet unter dem uninteressierten Nichtstun und dem subjektlosen Dasein, das aber in kultischer Irritation auf ständige Erfüllung wartet. Der Handlungsbogen spannt sich im ständigen Wechsel von Frauennamen und Lokalen, Sex und Onanieren, ›G’schichtl-Erzählen‹ und Philosophieren. Die inneren Monologe enthalten Leidenstiraden über die Hindernisse des absoluten Geistes, systemkritische Aussagen über die Kriterien des Romanschreibens, autopoetische Reflexionen über den Mystifizierungszwang der Zufälle. Brasilien als Welt erscheint im Roman ohne Karneval- und Fußballbezüge, in der Symbiose ehemaliger österreichischer Flüchtlinge jüdischer Abstammung und Ex-Nazis wird ein neues Österreich in Brasilien kreiert: »hier ist den Deutschsprachigen, vor allem den Österreichern möglich, sich wie daheim zu fühlen; man ist unter sich, in einer Enklave (…) man spricht Hochdeutsch mit Austriazismen versetzt, trägt Dirndl, trinkt Heurigen und pflegt ungebrochen die vertrauten Mentalitäten (…). Sie alle sind in dieser Fremde zu Hause«.8 Roman, der Protagonist, findet in der Beschäftigung mit seinem Romanentwurf die Möglichkeit eines Auswegs aus dieser existenziellen Sackgasse. Seine Lieblingsfigur in dieser Lebenssituation ist Leo Singer, der in der Bar Esperança (»Bar jeder Hoffnung«) seine Lehre über die sinnliche Gewissheit propagiert. Dieser dient der Figur Roman als Muster für dessen Roman, in dem die Schicksalsgeschichte eines Geistesmenschen mit tragischem Ausgang erzählt werden soll. Dieser Roman wird zum zweiten Roman Menasses: »Selige Zeiten, brüchige Welt«.
3
»Selige Zeiten, brüchige Welt« nimmt den Topos Leben versus Werk als eine Kopie auf, in der sich der männliche Geist und der weibliche Körper gegenseitig bekämpfen. Der Ort ist wieder São Paulo, Brasilien. Im Hintergrund tut sich aber eine ganz »europäische« Lebensgeschichte auf: Der bereits bekannte Leo Singer will Körper und Geist von der Höhe des absoluten Wissens aus vereinigen, die klassische Opposition auflösen, das Werk