Rebekka Haefeli

C'est la vie


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Angie. Vor ihm kamen 1983 Tochter Cornelia und im Jahr 1980 die älteste Tochter, Nicole, zur Welt. Alle drei haben mittlerweile selbst Kinder; Angie und Roland Kunz sind Grosseltern von sieben Enkeln.

      Angie Kunz ist gelernte Pflegefachfrau, sie hat die Handelsschule absolviert und war in der Leitung einer Spitex tätig. Man könnte nun annehmen, hinter der Ehe verberge sich eine klassische Liebesgeschichte zwischen einem Arzt und einer Krankenschwester. Doch Angie und Roland Kunz lernen sich nicht im Spital kennen, sondern während eines Sprachaufenthalts in Cambridge, England, wo sich die Ostschweizerin und der Zürcher zufällig treffen. Sie begegnen sich zum ersten Mal in einem Pub, und aus dem Zusammentreffen entwickelt sich zunächst nicht mehr als eine nette Bekanntschaft. Ein Paar werden die beiden erst, als sie wieder zurück in der Schweiz sind.

      Roland Kunz ist noch mitten im Studium, als seine Freundin 1980 mit der ersten Tochter schwanger wird, und sie beschliessen, zu heiraten. Seine Mutter nimmt die beiden wegen der unverhofften Schwangerschaft hoch und sagt, «als Arzt müsste man es doch eigentlich besser wissen.» Tochter Nicole kommt in Italien zur Welt, in Ligurien, wo Angie und Roland Kunz ein halbes Jahr wohnen, während er dort in einem Spital arbeitet. Dass sie jung Eltern geworden sind, betrachten sie heute als Vorteil. «Wir waren sehr unkompliziert und machten uns nicht so viele Gedanken. Die Kinder nahmen wir überallhin mit.»

      Nach ihrer Rückkehr aus Italien lebt die Familie zuerst in Winterthur und dann drei Jahre lang in Rehetobel. In der kleinen Gemeinde in Appenzell Ausserrhoden hat Vater Heinrich Kunz einst ein einfaches, altes Häuschen gekauft, das nur mit einem Kachelofen beheizt wird. Roland Kunz nimmt im Spital Rorschach eine Stelle als Assistenzarzt in der Chirurgie und später in der Gynäkologie und Geburtshilfe an – mit Arbeitszeiten von bis zu achtzig Stunden pro Woche. Danach wechselt er ans Spital von Heiden, in die Innere Medizin. Sein Ziel ist, Hausarzt zu werden und später eine eigene Praxis zu eröffnen.

      «Ich eignete mir bewusst ein breites medizinisches Wissen an», erzählt er. «An der Arbeit in den kleinen Spitälern gefiel mir besonders, dass man als diensthabender Arzt mitunter für die ganze Klink zuständig war: Ich musste Patienten mit Herzinfarkten behandeln, Schrammen nähen und helfen, Kinder zur Welt zu bringen.» Er habe damals den «ganzen Bogen des Lebens» gesehen. «Ich nahm wahr, wie sehr sowohl die Geburt als auch der Tod zum Leben gehören.»

      Nach einer Zwischenstation am Spital in Uster arbeitet Kunz einige Zeit am Kantonsspital in Winterthur, wo die Familie damals auch wohnt. Nun wird das Projekt Selbstständigkeit immer konkreter. Er nimmt Gespräche auf über die Miete von Praxisräumlichkeiten in einem Neubau in Effretikon.

      Zu seiner damaligen Tätigkeit auf der Abteilung für Innere Medizin im Spital Winterthur gehört, dass er als Assistenzarzt in ein Rotationsprinzip eingebunden ist: Die Assistenzärzte werden auch in der Altersmedizin eingesetzt und behandeln Bewohnerinnen und Bewohner der städtischen Pflegezentren. Kunz erinnert sich, dass ihm diese Begegnungen mit älteren Leuten die Augen geöffnet haben: «In den Pflegezentren entstanden enge Kontakte zu den Patientinnen und Patienten. Sie erzählten mir ihre Lebensgeschichten, ich lernte ihre Angehörigen kennen, und es entwickelten sich Beziehungen. Die Arbeit im Spital empfand ich zunehmend als Kontrast, der mich zum Nachdenken zwang. Es kam mir vor, als würden die alten Menschen im Akutspital mit den vielen Spezialisten in ihre Organe zerlegt. Niemand fühlte sich für das ‹Gesamtkonzept Mensch› verantwortlich. Bei der Arbeit im Pflegezentrum aber standen die Persönlichkeit und die Individualität der Bewohner im Zentrum.»

      Diese Erfahrung bewegt ihn schliesslich dazu, sich ganz der Geriatrie zuzuwenden. Kunz nimmt eine Stelle als Heimarzt im Pflegezentrum Oberi in Winterthur an. Dabei bleibt es aber nicht: In den Jahren von 1988 bis 1999 führt er in den Räumlichkeiten des Heims zusätzlich seine eigene Hausarztpraxis. «Zu mir kamen viele Familien, um die Kinder impfen oder Kinderkrankheiten behandeln zu lassen. Das war ein schöner Ausgleich zur geriatrischen Tätigkeit, bei der man häufig weiss, dass die Leute nie mehr ganz gesund werden.»

      Was in der Theorie eine ideale Kombination ist, erweist sich in der Praxis als immer grösserer Spagat. Der Plan, halbtageweise jeweils fürs Krankenheim beziehungsweise für die Praxis tätig zu sein, ist allzu ehrgeizig. Die Arbeit droht ihm über den Kopf zu wachsen. Die Fälle im Pflegezentrum sind komplex, und die Patientinnen und Patienten beanspruchen den Arzt zeitlich sehr stark. Es kommen Notfalldienste und Notfallbehandlungen in der Praxis dazu, die er ebenfalls abdecken muss und die auch sein Familienleben tangieren. «Ich merkte, dass ich mich entscheiden muss, was ich langfristig machen will», erinnert er sich. Die Altersmedizin, die Geriatrie, interessiert ihn, und es ist absehbar, dass diese in der Gesellschaft an Bedeutung gewinnen wird. Die Leute werden älter, sie leiden an unterschiedlichen Krankheiten, viele werden dement. Die Forschung hierzu schreitet voran. Was früher noch als «Vergesslichkeit» im Alter abgetan wurde, gewinnt als Krankheitsbild an Bedeutung. In Fachkreisen werden erste Erkenntnisse über Demenz rege diskutiert. In der breiten Öffentlichkeit hingegen fehlt das Bewusstsein noch, dass Demenzerkrankungen zur grossen Herausforderung der Zukunft werden würden.

      Für Kunz geben in erster Linie die erwähnten persönlichen Gründe den Ausschlag, die Praxis und die Anstellung als Heimarzt in Winterthur aufzugeben. Er wechselt ans Spital Limmattal, wo er die ärztliche Leitung des Pflegezentrums übernimmt. Dort baut Roland Kunz schliesslich eine Palliativstation auf – eine der ersten in der Schweiz. Davon wird später noch die Rede sein. Bei seiner Beschäftigung mit Palliative Care profitiert er von seinen Erfahrungen als Arzt in der Geriatrie. Doch auch persönlich hat er in der Zeit davor Einschneidendes erlebt, das ihn dem Thema Sterben näherbringt. In den 1980er-Jahren wird Roland Kunz zum ersten Mal im eigenen, engsten Umfeld mit dem Tod konfrontiert. Er begleitet seinen Vater, der schwer erkrankt ist, bis zum Tod.

      Vater Heinrich Kunz wird 1982 mit der Diagnose Darmkrebs konfrontiert. Er ist damals sechzig Jahre alt. Der zu diesem Zeitpunkt 27-jährige Sohn befindet sich im letzten Studienjahr und – als ihn die schlechte Nachricht erreicht – mitten im Staatsexamen. «Ich hatte schon befürchtet, dass es Darmkrebs ist», sagt Roland Kunz rückblickend. Aufgrund der Symptome, die ihm der Vater geschildert habe, sei er von der Diagnose nicht überrascht worden.

      Heinrich Kunz ist bei einem Hausarzt in Behandlung. Dieser empfiehlt ihm für die bevorstehende Operation einen Chirurgen, den er persönlich kennt. Nach dem langen, komplizierten Eingriff besucht Roland Kunz seinen Vater im Spital, als gerade der behandelnde Arzt im Zimmer des frisch operierten Patienten vorbeikommt. Roland Kunz fragt den Chirurgen, ob er kurz Zeit habe, um mit ihm zu sprechen. Dieser wimmelt ihn jedoch ab und rät ihm, über das Sekretariat einen Termin zu vereinbaren.

      Am gleichen Abend ist auch Roland Kunz’ Mutter Verena zu Besuch im Spital. Kunz erinnert sich: «Der Arzt bat sie hinaus auf den Gang und warf ihr an den Kopf, es sehe nicht gut aus für meinen Vater.» Mit dem Patienten selbst spricht der Chirurg nicht. Es ist die Mutter, die dem Vater und später auch dem Sohn erzählt, was der Arzt zu ihr gesagt hat. Kunz nimmt dieses Verhalten des Chefarztes als ausgesprochen schlechtes Beispiel einer Arzt-Patienten-Kommunikation wahr, was ihn sehr verärgert. Er schreibt dem Chirurgen einen Brief an dessen Privatadresse und teilt ihm mit, er fühle sich nicht ernst genommen. Er teilt ihm mit, es wäre in seinen Augen besser gewesen, die Sache gemeinsam mit allen Betroffenen zu besprechen. Nach einiger Zeit bekommt er eine Antwort: Die Frau des Chirurgen schreibt ihm zurück und nimmt ihren Mann in Schutz.

      «Mein Vater war der Typ ‹stiller Dulder›. Er nahm den Schicksalsschlag der Krankheit hin und versuchte, das Beste daraus zu machen und trotzdem irgendwie ins Leben zurückzufinden», erzählt Kunz. «Er kehrte nach dem Eingriff an seinen Arbeitsplatz an der ETH zurück, sobald es ihm möglich war. Doch seine Kräfte schwanden, und er verlor immer mehr an Gewicht. Man sah ihm an, dass es mit der Operation nicht getan war und die Krankheit fortschritt.»

      Der Krebs dehnt sich aus, es bilden sich Metastasen. Heinrich Kunz hat einen harten, aufgetriebenen Bauch und leidet zunehmend unter Schmerzen. Die ganze Familie realisiert, dass es abwärts geht und die gemeinsame Zeit beschränkt ist. «Wir sprachen alle zusammen offen darüber», erklärt Kunz. «Das baldige Ableben meines Vaters integrierten wir ganz natürlich in unsere Gespräche.»

      Auf der anderen Seite nimmt bei Roland Kunz die Enttäuschung und Empörung zu. Sein Unverständnis über das Verhalten