Melissa Flück

Jüdisches Biel


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zu werden. Meine Mutter war Lehrerin und Schulvorsteherin einer Mädchen-Sekundarschule. Dass eine verheiratete Frau als Lehrerin arbeitete, war damals sowohl in Holland wie auch in der Schweiz noch sehr aussergewöhlich.

      Sie war mir keine besonders zärtliche Mutter. Ich kann mich nur an ein einziges Mal erinnern, als sie mich in den Arm nahm: während des Kriegs, als ich einmal beim Holen von Lebensmittelmarken mit meinem Bruder beinahe erfroren wäre. Trotzdem fühlte ich mich unterstützt von ihr. Wenn es darauf ankam, setzte sie sich für mich ein.

      Für mich als Kind war es schön, dass mein Vater während des Kriegs mit mir zu Hause war. Vorher, seit meine Mutter wieder angefangen hatte, zu arbeiten, hatte ich als Zweieinhalbjährige eine Kindertagesstätte besucht. Damals gab es noch praktisch keine Angebote für Fremdbetreuung. Meine drei Geschwister waren viel älter als ich, der Bruder zehn Jahre und die Schwestern sieben und siebeneinhalb Jahre. Meine Mutter hatte ein Kind, mein Vater zwei Kinder mit in die Ehe gebracht. Ich war als einziges gemeinsames Kind eine Nachzüglerin. Heute würde man sagen, wir waren eine Patchworkfamilie. Als Kind war ich oft alleine, was ich aber nicht schlimm fand. Ich bin heute noch gerne alleine.

      Nach dem Krieg bekam meine Mutter als eines der neuen Bücher für die Schulbibliothek eine Kinderbibel, die sie mir zur Allgemeinbildung zu lesen gab. Während des Kriegs hatte man ja keine Bücher. Ich las sehr gerne. Märchen mochte ich nicht nach all dem, was wir durchgemacht hatten. Die biblischen Geschichten empfand ich damals allerdings als relativ real. Heute nicht mehr, heute sehe ich sie als Geschichten, die sich die Leute erzählten, um ihrem Leben Sinn zu geben. Ich bin ein bisschen eine Ketzerin, auch heute noch.

      Während der schweren Krankheit in meiner Jugend gab es ein Erlebnis, das mein weiteres Leben massgeblich beeinflusste. Eines Tages konnte ich plötzlich meinen schmerzenden Körper verlassen und sah mich unter mir im Bett liegen. Ich hatte keine Schmerzen mehr und konnte fliegen. Es war wunderschön, und ich sah das berühmte goldene Licht, das auch andere Personen, die Ähnliches erlebten, beschrieben haben. Ich wollte dahin, jemand hielt mich aber zurück: «Du darfst noch nicht, du hast noch eine Aufgabe.» So kehrte ich halt wieder zurück. Daraufhin kam dieser Arzt mit seiner Tablette. Ich schlief wunderbar, und am nächsten Morgen hatte ich kein hohes Fieber mehr. Seither bin ich gläubig.

      Dieses Erlebnis hat mich sehr bewegt und geprägt. Ich spreche heute nicht mehr vom Himmel, sondern von der Ewigkeit. Gott ist für mich reine Energie und das, was wir hier leben, ist ein kleiner Teil davon. Das kann ich auch mit den Erkenntnissen der Wissenschaft vereinbaren. Jemand, der stirbt, geht für mich wieder zurück in die Ewigkeit. Was danach geschieht, weiss ich nicht. Ich durfte ja nicht rein.

      Mein Mann war zwar reformiert, aber nicht praktizierend. Ich wollte nicht nur auf dem Standesamt heiraten. So liess ich mich mit 22 Jahren in der Bieler Stadtkirche taufen. Und ich war nachher die, die in die Kirche ging.

      Irgendwann merkte ich, dass ich mit dem Christentum bis zu einem gewissen Punkt mitgehen kann, dass es aber Dinge gibt, die für mich so nicht stimmen. Ich begann mich daher intensiv mit dem Judentum auseinanderzusetzen, ging in die Synagoge und las viel. Hebräisch zu lernen, hatte ich bereits vorher begonnen. Der Bieler Rabbiner befürchtete, eine Familie zu spalten, und war zunächst nicht sehr begeistert von meinem Vorhaben, Jüdin zu werden. Er riet mir jedoch, einen Nachweis der jüdischen Herkunft meiner Mutter und Grossmutter zu erbringen, da ich so nicht offiziell konvertieren müsste.

      Aber das war nicht so einfach. Zuerst erkundigte ich mich bei der jüdischen Gemeinde in Amsterdam nach einem Register. Sie hätten keines, meinten sie. Und der alte jüdische Friedhof war nicht frei zugänglich. Als wir nach langer Suche den Schlüssel ausfindig machen konnten, schrieb ich meiner Schwester fein säuberlich die Namen aller Vorfahren in Holländisch und Hebräisch auf, damit sie die Gräber suchen konnte.

      Aber da wurde es meiner Mutter zu viel. Sie rief den Oberrabbiner Amsterdams an und fragte: «Warum tut ihr so schwierig, wenn jemand zurückwill?», erzählte die ganze Geschichte und erfuhr, dass es doch ein Register gab. Das war allerdings von den Deutschen erstellt worden und wurde von der jüdischen Gemeinde nicht gerne genutzt. Dort waren bis und mit meiner Mutter alle erfasst. So musste ich nur noch einen Geburtsschein mitbringen, um darzulegen, dass ich von meiner Mutter abstamme, und brauchte keine Examen mehr zu machen. Ich konnte ins Tauchbad, die Mikwe, und es war besiegelt. Mit vierzig Jahren war ich nun auch auf dem Papier Jüdin.

      Unsere zwei Söhne wurden konfirmiert. Die Tochter, die Jüngste, wollte das nicht. Mein Mann und ich beschlossen, dass sie zumindest den Konfirmationsunterricht besuchen sollte, damit sie wusste, was sie ablehnte. Das tat sie, nun ist sie Buddhistin. Das geht auch.

      Bis die Kinder sechs, sieben und acht Jahre alt waren, lebten wir in Zürich. Nach Biel kamen wir, um dem kranken Schwiegervater beizustehen. Am Anfang war es für die Kinder etwas schwierig, weil sie Zürichdeutsch sprachen.

      In der jüdischen Gemeinde wurde ich am Anfang nicht so herzlich aufgenommen, es gab böse Zungen. Heute bin ich aber gut integriert. Damals, in den 1970er-Jahren, war die Synagoge noch voll. Heute sind wir nur noch etwa 45 Leute. Die zehn Männer für einen Gottesdienst bringen wir selten zusammen, vielleicht an hohen Feiertagen wie Rosch ha-Schana oder Jom Kippur. Meistens kommen nur sechs, sieben Leute in einen Gottesdienst. Ich gehe eigentlich immer hin.

      Die Gemeinde stirbt langsam aus. Viele der älteren Generation sind bereits gestorben oder sind im Alter nach Israel gegangen, um dort zu sterben und beerdigt zu werden. Junge mit Kindern gibt es nicht mehr viele. Sie bleiben entweder in den Universitätsstädten Bern, Genf oder Zürich hängen oder gehen nach Israel. Wenn jemand religiös leben will, geht das in Biel nicht. Wir haben keine streng Religiösen hier.

      Es findet ähnlich wie in der Kirche eine allgemeine Abwendung vom Religiösen statt. In einem Gottesdienst in der Kirche sind jeweils sechs, sieben Leute. Einmal waren wir zu dritt an einem Orgelkonzert. Ich gehe oft in die Kirche, wenn wir in der Synagoge keinen Gottesdienst haben. Einfach rein meditativ. Und wenn mich dann etwas stört, höre ich einfach ein wenig weg, das merkt ja niemand.

      Die reformierte Kirche initiierte auch einen Diskussionskreis, eine lustige und sehr reflektierte Runde, an der ich einmal wöchentlich teilnehme. Wir organisieren uns selbst und pflegen eine gute Diskussionskultur. Abwechselnd präsentiert jemand ein Thema, das wir anschliessend in der Gruppe diskutieren, auf eine Weise, bei der unterschiedliche Perspektiven respektiert werden.

      Den Jüdischen Frauenverein gibt es nicht mehr, es waren zu wenig Leute. Wir haben uns mit den Männern zusammengeschlossen und nennen uns nun «Begräbnisverein». Das Einsargen, die verstorbene Person zu waschen und ihr das Sterbekleid anzuziehen, ist bei uns aber je nach Geschlecht des Verstorbenen nach wie vor reine Frauen- oder Männersache. Wir Frauen haben untereinander abgemacht, dass wir zu zweit vorbeigehen, wenn jemand stirbt.

      Dass ich zum Judentum kam, hängt wahrscheinlich auch mit meinen Erlebnissen im Krieg zusammen. Noch jahrelang hatte ich Albträume. Meinen religiösen Weg machte ich für mich selbst. Mein Mann war diesbezüglich relativ grosszügig. Nur einmal, als ich für den Schabbat Kerzen anzündete, blies er sie mir aus. Für nach dem Gottesdienst backe ich meistens etwas, weil es sonst niemand mehr macht. Wir essen jeweils noch Challe und Kuchen und trinken etwas Wein. Challot sind spezielle Zöpfe, nicht mit Butter gemacht, sondern mit Öl, weil sie zu Milchigem und Fleischigem passen müssen. Die meisten essen danach zu Hause Znacht, und am Freitagabend gibt es vielleicht ein Gericht mit Fleisch. Ich halte mich nicht an die Speisegesetze, ich esse einfach. Zopf ist bei mir Zopf. Für jüdische Gäste backe ich selbst, aber sonst hole ich einen Zopf in der Migros. Ich bin in dieser Beziehung relativ unkompliziert.

      Nur beim Schweinefleisch halte ich mich mehr oder weniger daran. Ich bin aber überzeugt, dass die Menschen im Altertum merkten, dass Schweinefleisch krank machen kann. Die Schweine hatten ja Trichinen. Heute ist das nicht mehr der Fall, daher darf man sich das ruhig erlauben. Es ist einfach eine Tradition geworden. Wenn ich aber eingeladen bin, esse ich auch Schweinefleisch, keine Frage. Man muss die Relationen sehen. Freundschaft ist mir wichtiger als bestimmte Prinzipien.

      Georges Rosenfeld

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