Greil Marcus

Lipstick Traces


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Route 128; alles war möglich. Er machte das Radio an und hörte 1956; »It was patient in the bushes, next to ’57!»

      Die Band legte James-Brown-mäßig los, dann nahm sich Richman zurück wie Jerry Lee Lewis in der Mitte von »Whole Lotta Shakin’ Goin’ On«; die zuerst geschriene Botschaft wurde nun geflüstert, nachdenklich, unheimlich. Er fuhr auf der Route 128. Es war kalt, dunkel, er roch die Fichten, er hörte sie, als er mit eingeschaltetem Radio vorbeibrauste, erhaschte einen Blick auf sogar noch kälteres Neon – die moderne Welt, nach der er suchte. Die Band machte wieder Dampf, und Richman unterhielt sich mit ihr über das, was er sah. »Now, what do you think about that, you guys?« »RADIO ON«, antworteten sie ihm, und genau das wollte er hören. »Good! We got the AM …« »RADIO ON«, rief die Band. »I think we got the power, got the magic now …« »RADIO ON.« »We got the feelin’ of the modern world …« »RADIO ON.« »We got the feelin’ of the modern sound …« »RADIO ON.«

      Richman atmete noch einmal tief durch … und immer, wenn ich mir die Aufnahme anhöre, lächele ich bei dem, was nun kommt. Jede Formulierung des Songs, die vorher kam, die denkbar konventionellste Wiedergabe einer Erfahrung, die Millionen von Menschen in irgendeiner traumhaften pubertären Nacht gemacht haben, wird zerhackt und neu geschaffen. Jede Formulierung wird auf einzelne Worte reduziert, jedes Wort aus seiner Formulierung gepellt, Strophe und Refrain zu einer schamanistischen Beschwörung zerhackt, der intakt gelassene Refrain kämpft, um mit dem unbegreiflichen Rhythmus des Verseschmieds zurande zu kommen, was ihm irgendwie gelingt, auch wenn die Wörter inzwischen kaum mehr Wörter sind, nur noch Reklametafeln, die so schnell vorbeihuschen, dass man sie nicht lesen kann. Plötzlich wird mehr Dampf gemacht:

      The sound, of the modern radio, feelin’ when it’s late RADIO ON at night we got the sound of the modern lonely when it’s cold outside RADIO ON got the sound of Massachusetts when it’s blue and white RADIO ON cause out on Route 128 on the dark and lonely RADIO ON I feel alone in the cold and lonely RADIO ON I feel uh I feel alone in the cold and lonely RADIO ON I feel uh feel alone in the cold and neon RADIO ON I feel alive I feel a love I feel alive RADIO ON I feel a rockin’ modern love I feel I feel a rockin’ modern life RADIO ON I feel a rockin’ modern neon sound modern Boston town RADIO ON a modern sound modern neon modern miles around RADIO ON I say a roadrunner once a roadrunner twice RADIO ON ah ah very nice roadrunner gonna go home now yea RADIO ON roadrunner go home oh yes roadrunner go home –

      Durch einen reinen Gewaltakt reduziert er das Tempo. Die Rückkehr zu einer konventionellen Rockmelodie markiert das gewaltsame Erwachen aus einem Traum: »Here we go, now / We’re gonna drive him home, you guys / Here we go –« Und die Band haut wieder auf den Putz, zweimal drei Mal, zweimal vier Mal:

      That’s right!

      Again!

      Bye Bye!

       DIE SEX PISTOLS

      kamen nicht so weit. Johnny Rotten hastete durch das Stück, als wäre es ein Schlagloch, das seiner Mutter den Hals brechen wollte: Er gab Gas, und weiter ging’s. Dann rief er der Band zu: »Kennen wir noch irgendwelche Scheißsongs, die wir bringen können?»

       »JOHNNY B. GOODE«

      hatte den besten Anfang im Rock ’n’ Roll, doch den konnten die Sex Pistols nicht spielen. »Roadrunner« hatte den besten Schluss, und den brauchten die Sex Pistols nicht zu spielen – sie mussten ihn bloß verschlucken. Was Jonathan Richman mit Worten machte, machten die Sex Pistols mit dem Sound.

      In dem vorgegebenen Rhythmus entdeckten sie eine zerstörerische Dynamik, die alle Erwartungen sprengte und alles, was vorher war, sei es »Heroin« der Velvet Underground von 1967, »No Fun« von den Stooges (1969), das 1974 veröffentlichte »Human Being« der New York Dolls, sogar Captain Beefhearts Album Trout Mask Replica aus dem Jahr 1969, sogar »Roadrunner«, rational erscheinen ließ: geplant und ausgeführt. Der Sound der Sex Pistols war irrational; als Sound schien er total unsinnig zu sein, schien gar nichts zu tun, außer zu zerstören, deshalb war es ja ein neuer Sound und zog einen Trennungsstrich zwischen sich und allem, was vorher war, genau wie es Elvis Presley 1954 und die Beatles 1963 getan hatten, auch wenn nichts leichter (oder unmöglicher) schien, als diese Striche mit einem Wust von Fußnoten auszuradieren.

      Für eine Menge Leute – Fans von Chuck Berry, den Beatles, James Taylor, den Velvet Underground, Led Zeppelin, den Who, Rod Stewart oder den Rolling Stones – war Punk gar keine Musik, nicht einmal Rock ’n’ Roll; für eine kleinere Zahl von Leuten war es das Aufregendste, was sie je gehört hatten. »Es war die erste Kostprobe von Rock-’n’-Roll-Spannung, die ich erlebte«, sagte Paul Westerberg von den Replacements 1986… auch zehn Jahre später war sie es noch wert, dass man von ihr berichtete. »Die Sex Pistols gaben dir das Gefühl, sie zu kennen, und dass sie nicht über dir standen. Von dem, was sie taten, hatten sie offenbar keine Ahnung, aber das war ihnen egal. Ich war Jahre vor ihnen ein viel besserer Gitarrist. Ich saß da und lernte die Tonleitern, die ganze Chose. Ich eignete mir sämtliche Slide-Soli von der Allman-Brothers-Platte At Fillmore East an. Ich legte die Scheibe auf und stellte den Plattenspieler auf sechzehn Umdrehungen, damit ich die Soli transponieren konnte. Aber dann kamen die Sex Pistols und sagten: ›Du brauchst gar nix. Spiel’s einfach.‹« Und was Westerberg sagte, sagten auch ungezählte andere; sie beschrieben, was sie nun spielen durften und was sie nun hören durften.

      Das Musikbusiness war nicht vernichtet worden. Die Gesellschaft brach nicht zusammen, es entstand keine neue Welt. Wenn, wie Dave Marsh schrieb, der Punk »ein Versuch war, die Hierarchie zu eliminieren, die den Rock beherrschte – und letztlich die Hierarchie zu eliminieren, Punkt«, so gelang ihm keins von beiden. Man konnte immer noch das Radio einschalten und sicher sein, auf den meisten Sendern »Behind Blue Eyes«, »Stairway to Heaven« und »Maggie May« zu hören; da der Rundfunk vom Punk Richtung Vergangenheit gedrängt wurde, hörte man solche Songs häufiger als vorher. Doch im Laufe der nächsten paar Jahre nahmen weit mehr als fünfzehntausend Gruppen Platten auf. Sie ließen es drauf ankommen, ob sich irgendwer dafür interessieren würde, wie sie klangen oder was sie zu sagen hatten, ob sie sich selbst dafür interessierten. Einige waren auf Ruhm und Geld aus; einige wollten vor allem eine Chance, sich zu äußern, oder wenigstens die Welt verändern.

      Winzige unabhängige Plattenfirmen, die meisten nicht mehr als ein Postfach und ein getippter Briefkopf, schossen wie Pilze aus dem Boden. »Auf einmal konnten wir alles machen«, steht in den Liner Notes von Streets, der ersten Sammlung britischer Punk-Singles. Es war eine Welle neuer Stimmen, wie es sie in der Geopolitik der populären Kultur noch nie gegeben hatte – eine Flut von Stimmen, die eine Zeit lang sogar eine merkwürdige Floskel wie »Geopolitik der populären Kultur« ganz natürlich klingen ließ.

       »ONE CHORD WONDERS«

      von der Gruppe The Adverts findet genau am Rande des Punk-Augenblicks statt. Die Sex Pistols haben den Boden bereitet … verbrannte Erde hinterlassen. Nichts ist übrig geblieben, aber die Stadt steht, als wäre nichts geschehen, mitten in der Stadt ein Streifen qualmender Dreck, mitten darin ein Pfahl mit einem Stück beschriebener Pappe, das genauso gut ein »Zu-vermieten«-Schild wie eine Abrissankündigung sein könnte; man weiß nicht, ob »STRASSE FREI« oder »WEGEN BRAND ZU VERKAUFEN« draufsteht.

      Die diese leere Fläche umkreisenden Menschen wissen nicht, was sie als Nächstes tun sollen. Sie wissen nicht, was sie sagen sollen; alles, worüber sie zu reden pflegten, klingt bis zur Dümmlichkeit parodiert, sobald die alten Wörter ihren Mündern entfahren. Ihre Münder sind voller Galle: Die Leute werden in die Leere gezogen, halten sich aber zurück. »Was ist Nihilismus? Rosanow beantwortet die Frage am besten«, schrieb der Situationist Raoul Vaneigem 1967 in Traité de savoir-vivre à l’usage des jeunes générations (auf deutsch zehn Jahre später als Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen erschienen): »›Die Vorstellung ist beendet. Das Publikum erhebt sich. Es ist Zeit, den Mantel überzuziehen und nach Hause zu gehen. Der Besucher dreht sich um: kein Mantel mehr und kein Zuhause.‹«