Pars pro toto
Einleitung
Zum Verstehen eines Textes gehört einerseits die reine Übersetzungsarbeit, andererseits eine Analyse des vom Verfasser gebotenen Stils, also der von ihm verwendeten sprachlichen Stilmittel. Es ist zwar möglich, dass manche Sprachfiguren rein zufällig entstanden sind, doch kann und sollte man zunächst davon ausgehen, dass die jeweiligen Verfasser Besonderheiten in Sprache und Ausdruck bewusst eingesetzt haben.
Dieses Verzeichnis soll die Möglichkeit geben, Stilmittel systematisch zu lernen, aber auch einzelne Begriffe nachzuschlagen. Es versammelt eine Auswahl der gebräuchlichen Stilmittel; auf eine kurze Definition folgen jeweils einige signifikante Beispiele. Bei der Auswahl dieser Beispiele wurde versucht, mindestens jeweils eines aus Rede, Dichtung und Geschichtsschreibung vorzustellen, wobei vor allem Texte der Schulautoren Caesar, Catull, Cicero, Livius, Martial, Ovid, Phaedrus, Sallust, Tacitus und Vergil Berücksichtigung fanden.
Die Stilanalyse
Durch Wortwahl oder Wortstellung kann ein einzelner Satzteil herausgestellt, ein beschriebener Sachverhalt oder eine Situation besonders anschaulich, betont, deutlich, gegliedert oder lebendig dargestellt und hinzu noch Aufmerksamkeit erregt, Spannung oder Mitgefühl erzeugt werden. Der Leser soll mit dem Schreiber die leidenschaftliche Erregtheit der Situation teilen, sich betroffen zeigen, mit ihm leiden oder aber sich freuen; die Handlung soll durch den Einsatz von Stilmitteln an Lebendigkeit gewinnen und wie ein Film vor dem inneren Auge des Lesers ablaufen.
Cicero äußert sich im Folgenden über die Aufgaben eines Redners, doch kann diese Aussage auch verallgemeinert auf die Literatur seiner Zeit bezogen werden (Cic. de orat. 2,115):
ita omnis ratio dicendi tribus ad persuadendum rebus est nixa, ut probemus vera esse, quae defendimus; ut conciliemus eos nobis, qui audiunt; ut animos eorum, ad quemcumque causa postulabit motum, vocemus – So stützt sich die gesamte Redekunst, um zu überzeugen, auf drei Faktoren: (erstens,) dass wir beweisen, dass das, was wir vertreten, wahr ist, (zweitens,) dass wir diejenigen für uns gewinnen, die zuhören, (drittens) dass wir ihre Sinne in diejenige Stimmung versetzen, welche die Sache gerade erfordert.
Jeder Redner versuchte mit besonderen Mitteln, die Zuhörer für sich und sein Anliegen zu gewinnen; dies erreichte er zum einen natürlich mit inhaltlichen Argumenten, zum anderen aber auch mithilfe seiner Ausdrucksweise, Gestik und Mimik. Ein Schriftsteller aber – um es allgemein auszudrücken – konnte sich nur auf seine Ausdrucksweise, seinen Stil, stützen und dann noch auf einen guten Vorleser (lector) hoffen.
Stilmittel dienten also im Grunde dazu, im geschriebenen Text die fehlende Ausdruckskraft von Mimik und Gestik zu ersetzen; der Rhythmus, die Anordnung langer und kurzer Silben (Versmaß), war ein weiteres solches Werkzeug.
Da allgemein laut gelesen wurde (ore legere) bzw. man vorlesen ließ, musste – kurz gesagt – der Stil so ausgelegt sein, dass, wie das Cicero-Zitat zeigt, das Ziel des Belehrens und Beweisens (probare, docere), des Gewinnens und Erfreuens (conciliare, delectare) und des Bewegens und Erregens (movere, concitare) erreicht wurde.
Bei den Stilmitteln unterscheidet man zwischen Tropen und Figuren. Bei einem Tropus handelt es sich immer um ein einzelnes Wort; es wird vertauscht mit einem anderen Wort oder Ausdruck, der einem verwandten Vorstellungsbereich entstammt.
Von Figuren spricht man im Zusammenhang mit Wortgruppen, mit denen eine schmucklose Sprache kunstvoll verändert werden sollte.
Eine rein technische Analyse, ein einfaches Feststellen von Stilmitteln darf nicht genügen:
Beispiel aus Caesars De bello Gallico (1,1,2):
hi omnes lingua, institutis, legibus inter se differunt – Diese alle unterscheiden sich durch ihre Sprache, durch ihre Einrichtungen und Gesetze.
Dieser Satz enthält rein formal ein Asyndeton und ein Trikolon. Es muss aber geprüft werden, ob die drei Begriffe nur eine reine Aufzählung oder eine Steigerung darstellen sollen. Einen Unterschied in der Sprache (lingua) stellt man fast bei jedem Volk fest, da es verschiedene Mundarten gibt; ebenso gibt es Unterschiede in den Einrichtungen (institutis), die ja auch heute regional unterschiedlich sein können; aber eine Unterscheidung durch Gesetze (legibus) wiegt schwer. Es liegt also eine Klimax vor; das Asyndeton gibt den Berichtsstil Caesars wieder.
Beispiel aus Ciceros 2. Rede gegen Catilina (2,1):
non in campo, non in foro, non in curia, non denique intra domesticos parietes pertimescemus – Nicht auf dem Marsfeld, nicht auf dem Forum, nicht in der Kurie, schließlich nicht in unseren häuslichen Wänden werden wir uns fürchten müssen.
Leicht erkennbar ist formal eine Anapher mit dem vierfachen non, ein Parallelismus (non in campo, non in foro, non in curia), eine erweiterte vierte Aussage (non denique intra domesticos parietes) und eine Alliteration (parietes pertimescemus). Prüft man gründlicher, kann man auch eine Antiklimax ausmachen