Kurt Rothmann

Kleine Geschichte der deutschen Literatur


Скачать книгу

Welt«) rechnet Bidermann mit dem Geist der Renaissance und des Humanismus ab:

      Cenodoxus, der ruhmsüchtige Doktor von Paris, täuscht aller Welt gottgefälligen Lebenswandel vor, ist in Wirklichkeit aber ein humanistischer Pharisäer. Nach seinem Tod wird seine dreimal anberaumte Seelenmesse dreimal unterbrochen, weil sich der Leichnam von der Bahre aufrichtet und zum Schrecken der Anwesenden ruft, er sei angeklagt, gerichtet, verdammt. Sein Schüler Bruno flüchtet daraufhin als Einsiedler in die Wildnis:

      Allhie auff Erd / O trewer Gott /

      Schlag drein / haw / brenn / schick Angst vnd Noth /

      All Creutz vnd Peyn / mit ainem Wort /

      Schick her; allein verschon vns dort.

      […]

      Mein Sinn steht in ein wilden Wald /

      Damit ich dort mein Seel erhalt /

      Daß es mir nit auch also geh /

      Vnd wie dem Cenodoxo gscheh.10

      Die Überlieferung berichtet, dass 1609 in München vierzehn adelige Hofbeamte unter dem Eindruck des Schauspiels, von Seelenangst gepeinigt, wie Bruno der Welt den Rücken kehrten.

      Das erste dramatische Genie in der Geschichte der deutschen Literatur, der Begründer des deutschen Kunstdramas11 und der Vollender barocker Dramenkunst in einem, war der gelehrte Glogauer Syndikus ANDREAS GRYPHIUS (1616–1664).

      Belesen in den antiken Dramatikern (Seneca, Sophokles und Euripides) und beeinflusst vom Jesuitendrama, übernahm Gryphius von dem niederländischen Rederijker12 Joost van den Vondel (1587–1679) die Schauspielgliederung in fünf Akte, die Bemühung um die sogenannten drei Einheiten13 von Zeit, Ort und Handlung und die dem antiken Chor nachgebildeten Reyen. Im feierlichen Schritt des von Opitz so warm empfohlenen Alexandriners zeigt Gryphius im pathetischen Stil des Welttheaters das Allgemeine am besonderen Fall hoher Häupter: Leo Armenius / oder Jämmerlichen Fürsten-Mords Trauer-Spiel (1652, Erstfassung 1650), Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus (1657), Großmüttiger Rechts-Gelehrter / Oder Sterbender Aemilius Paulus Papinianus (1659).

      Der geistige Angelpunkt all dieser Haupt- und Staatsaktionen sind die Ideen der vanitas (›Eitelkeit‹) und der Vergänglichkeit, ist der den Barockmenschen ängstende Gegensatz zwischen Zeit und Ewigkeit. Weil Gryphius vorführen möchte, wie der Mensch durch tugendhaften Verzicht auf zeitliche Güter ewigen Lohn erringen kann, steigert er seine Tugendtragödien zu Märtyrertragödien, in denen die Helden stets und unbeirrbar im Hinblick auf die Ewigkeit handeln. Am Anfang des Trauerspiels Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Beständigkeit (1651) heißt es: »Der Schauplatz lieget voll Leichen-Bilder / Cronen / Zepter / Schwerdter etc. Vber dem Schau-Platz öffnet sich der Himmel / vnter dem Schau-Platz die Helle. Die Ewigkeit kommet von dem Himmel / vnd bleibet auff dem Schau-Platz stehen.« Die allegorische14 Figur rät dem Zuschauer, er möge wie die Heldin des Stückes alles Vergängliche verlachen:

      Die Königin Catharina weigert sich standhaft, ihren christlichen Glauben aufzugeben und den mächtigen Schah Abas von Persien, der sie schon acht Jahre gefangen hält, zum Gatten zu nehmen. Viel lieber stirbt sie in der Nachfolge Christi den Martertod, den Gryphius als Höhepunkt des Dramas in schauerlicher Ausführlichkeit beschreibt. Dem physischen Untergang der Heldin entspricht das moralische Verderben ihres Peinigers, dem die Tote als Rachegeist erscheint.

      Das Trauerspiel Cardenio und Celinde, Oder Unglücklich Verliebete (1657) ist insofern bemerkenswert, als es von den poetologischen Grundsätzen der Zeit (vgl. Opitz, Kap. 3a) abweicht und dadurch zu einem Zwischenglied zwischen barocker Staatstragödie und bürgerlichem Trauerspiel wird. »Die Personen«, entschuldigt sich Gryphius im Vorwort, »[…] sind fast zu niedrig vor ein Traur-Spiel […], die Art zu reden ist gleichfalls nicht viel über die gemeine […].« Gryphius begründet den Bruch der sogenannten Ständeklausel und das untragische Ende mit dem Hinweis, es handle sich hier um eine »warhaffte Geschichte«. Den Inhalt betreffend sagt er: »Mein Vorsatz ist zweyerley Liebe: Eine keusche / sitsame vnd doch inbrünstige in Olympien: Eine rasende / tolle vnd verzweifflende in Celinden, abzubilden.« – Cardenio, zunächst der Liebesraserei verfallen, wird durch Olympia, die ihm als Totengerippe erscheint, zur Vernunft gebracht. Nicht minder erfolgreich wirkt die Gespensterkur auf Celinde. Die liebestolle Hetäre wendet sich schließlich dem Himmel zu und schwärmt im Chor der Weltverächter: »Wol dem / der jeden Tag zu seiner Grufft bereit!«

      Der episch-deklamatorische Stil macht den Text, für den es damals noch keine öffentlichen Bühnen gab, vorzüglich zum Lesevortrag geeignet. Andererseits birgt gerade die rhetorische Überhöhung die Gefahr, in leeres Pathos und barocken Schwulst zu verfallen. Gryphius selbst nimmt solche Überspanntheit der Sprache in seinen Komödien aufs Korn. In dem »Schimpff-Spiel« Absurda Comica oder Herr Peter Squentz (1658) heißt es:

      Verschraubet euch durch Zuthuung euer Füsse vnd Niederlassung der hindersten Oberschenckel auff herumbgesetzte Stühle / schlüsset die Repositoria euers gehirnes auff / verschlisset die Mäuler mit dem Schloß deß Stillschweigens / setzt eure 7. Sinnen in die Falten / Herr Peter Squens (cum titulis plenissimis) hat etwas nachdenckliches anzumelden.

      Der Schulmeister will mit seiner meistersingerhaften Laienbühne Ovids Liebesgeschichte von Pyramus und Thisbe vor der königlichen Familie aufführen. Durch banausischen Dilettantismus gerät das Spiel im Spiel zu einer Rüpelposse, in der die grobe Gemeinsprache der Handwerker den überkandidelten Theaterschwulst auf Schritt und Tritt bloßstellt.15

      Auch das Scherzspiel von Horribilicribrifax (1663) bezieht seine komische Wirkung aus typisierendem Sprachkauderwelsch.

      DANIEL CASPER VON LOHENSTEIN (1635–1683) steigerte die Eigenart des barocken Trauerspiels zum Manierismus; d. h., der innere Zwiespalt zwischen Zeit und Ewigkeit, Glücksverlangen und Verhängnis, Leidenschaft und Vernunft, der bei Gryphius vor allem auf ethisch-religiöse Besinnung zielte, wurde nun bei Lohenstein um spektakulärer Wirkungen willen in opernhaftem Schaugepränge und in prunkvoller Rhetorik veräußerlicht. Die mit Metaphern, Emblemen und Allegorien überladenen, meist bluttriefenden oder sentimentalen Staatsaktionen waren bei den Zeitgenossen so beliebt, dass man Lohenstein mit den größten Dramatikern der Antike verglich. Doch wenige Jahre nachdem die exotischen Heldinnen der »afrikanischen Trauerspiele« Cleopatra (1661, zweite Fassung 1680) und Sophonisbe (1680) nicht nur ihre Gegenspieler, die römischen Staatsmänner, sondern auch Zuschauer und Leser bestrickt hatten, bahnte sich ein Stilwandel an, in dessen Licht Lohensteins Verdienste gering schienen: Seit der Aufklärung wurden Lohensteins Dramen als barocker Schwulst verschmäht. Erst in jüngster Zeit beginnt man, diesen Rhetor und Dramatiker geschichtlich zu sehen und gerechter zu beurteilen.

      Die Eigenheiten des literarischen Barock entfalten sich besonders anschaulich in der Lyrik. Gute Beispiele für die repräsentative Gesellschaftsdichtung im hohen Stil findet man bei GEORG RUDOLF WECKHERLIN (1584–1653), der wie Opitz in diplomatischen Diensten stand und viele Auftragswerke und Gelegenheitsgedichte für höfische Feste und fürstliche Ehrungen verfasste. Seiner Dichtungstheorie entsprechend (vgl. Kap. 3a) bemühte sich MARTIN OPITZ (1597–1639) um beispielhaft regelmäßig alternierende Verse und bezahlte, trotz mancher gelungener Gedichte, die neue Glätte nicht selten mit rhythmischer Eintönigkeit (vgl. das Gedicht »Jetzund kömpt die Nacht herbey«). Die von Opitz in die deutsche Literatur eingeführte Schäferdichtung blühte unter GEORG PHILIPP HARSDÖRFFER (1607–1658), der in Nürnberg den Orden der »Pegnitzschäfer« gründete. In Hamburg gründete JOHANN RIST (1607–1667) den »Elbschwanenorden« und sang:

      O wie selig ist zu schätzen,

      Der in seinem Hüttelein

      Auf gut schäferisch sich ergetzen

      Und sein eigner Herr kann sein.

      PHILIPP VON ZESEN (1619–1689), der Gründer der »Deutschgesinnten Genossenschaft« in Hamburg, glänzte mit äußerst musikalischen Versen voller Binnenreime und Assonanzen:

      Glimmert,